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Vom Yorkshire Ripper und All-Detektiven

Bestseller-Autor Frank Schätzing schickt in seinem Thriller "Limit" einen Cyber-Detektiv ins All, in "Gewitter über Pluto" fühlt sich ein Pornodarsteller zu anderem Berufen und eröffnet einen Strickwarenladen und David Peace schreibt mit "Tokio im Jahre Null" einen der klaustrophopischsten Krimis der Literaturgeschichte.

Von Andreas Ammer: |
    Besprochene Bücher:

    Ken Bruen, Taylor fliegt raus, Atrium Verlag

    Gerarde Donovan, Winter in Maine, Luchterhand

    David Peace, Tokio im Jahre Null, Liebeskind

    Georges Simenon, Maigret und Monsieur Charles, Diogenes

    Frank Schätzing, Limit, Kiepenheuer & Witsch

    Heinrich Steinfest, Gewitter über Pluto, Piper


    Es sind die Tage auf der Kante zwischen Herbst und Winter.

    In den Wäldern von Maine fällt erst ein Schuss - und dann ein Hund tot um.

    In den Straßenschluchten von Paris verschwindet ein Notar - einfach so.

    Bei einem Pornodreh sieht der männliche Hauptdarsteller eine Kollegin stricken - er quittiert den Job.

    Und der reichste Mann der Welt baut einen Aufzug - in den Weltraum ...

    Alll das und noch viel mehr, würd ich lesen,
    wenn ich Leser in Deutschland wär.

    All das jetzt in der "Krimikolumne" ... nur echt mit dem Rezensenten.
    Willkommen.

    Eines will unser Rezensent jetzt schon verraten: So viel gute Krimis in einer Viertelstunde gab es selten.

    Ein Pornodarsteller in den besten Jahren beschließt angesichts einer am Porno-Film-Set strickenden Kollegin sein Leben zu ändern: Er eröffnet umgehend einen Strickwarenladen. Leider liegt - als er einmal erschöpft im Hinterzimmer seines neuen Ladens übernachtet - eine Leiche unter seinem Bett. Er watet im Blut.

    Weil aber erstens der Laden "Plutos Liebe" heißt, zweitens aber ein 600-jähriger außerirdischer Geheimagent von einem Planeten jenseits des "Nicht-Mehr-Planeten" Pluto aus genau jenem Zimmer die Nachbildung des Urvogels Archäopterix klauen soll.

    Ich glaube das wird jetzt etwas kompliziert, meine Herren.

    Dabei ist es ganz einfach: Heinrich Steinfest hat es geschafft mit "Gewitter über Pluto'", erschienen im Piper Verlag, seine grandios Art Krimis zu schreiben ins intergalaktische zu transzendieren. Das Genre "Krimi" ist für Steinfest nur noch der Ausgangspunkt seiner Bücher. So etwas wie eine Startrampe, von der aus er sich literarisch in andere Sphären wegschießt. Dass diese andere Sphäre diesmal auch ein anderes Planetensystem ist, ist dabei egal. Souverän wie ein kleiner Gott schafft sich Steinfest literarische Welten, die nach eigenen Regeln funktionieren. Da wird - wie einstmals bei Robert Musil - mehr über die Welt nachgedacht als die Welt beschrieben.

    Da wird aber trotzdem ein Panorama purer Action aufgefahren und Einfall auf Einfall getürmt, so dass es für den Leser eine einzige Freude ist.

    "Vernunft", so schrieb Steinfest mal an anderer Stelle, "Vernunft ist ein kleiner Gefängnisplanet am Rande des Universums, wo sie noch immer darauf warten, dass endlich jemand eingeliefert wird."

    Wenn es auch einen Gefängnisplaneten für wegweisende Poeten gibt, dann ist Heinrich Steinfest der erste, der dort eingeliefert werden wird. Heinrich Steinfests Genre sprengender Roman "Gewitter über Pluto", dem rätselhafterweise das 13. Kapitel fehlt, ist im Piper-Verlag erschienen.

    Den hat er aber sehr gelobt. Steinfest mag unser Rezensent offensichtlich.

    Wir bleiben Extraterrestrisch. Und kommen zu einem Buch, das die Zunft der Rezensenten auf eine harte Probe stellte. Künftig kann man Rezensenten danach beurteilen, ob Sie etwas zu Frank Schätzings neuem Thriller "Limit" veröffentlich haben oder nicht. Das heißt, ob sie ehrlich sind oder nicht.

    Kein Mensch kann diesen Wälzer schon gelesen haben, behauptet unser Rezensent, angesichts von 1320 engbedruckten Seiten und 1293 Gramm Lebendgewicht.

    Vor allem letzteres führt dazu, dass "Limit" zur Liegendlektüre extrem ungeeignet ist, da es derart rezipiert schnell zu Verspannungen der Handgelenkmuskulatur führt.

    Menschen, die gerne mal bei der Lektüre einschlafen und erschöpft das Buch zur Bettdecke sinken lassen, berichten sogar schon von leichten Verletzungen bei der Lektüre. Aber mal ne andere Frage: Lohnt sich denn die Lektüre? Für so etwas haben wir doch unseren Rezensenten.

    Hmmm ...

    Na?

    also ...

    Ja?

    Auch wenn sich das sonst keiner zu sagen traut: Ich hab das Buch noch nicht fertig. Es ist einfach zu dick. Dabei beginnt es gut: Gleich am Anfang wird ein Astronaut wie weiland Major Tom in den Weltraum entsorgt. Dann treten eine Unzahl unsäglich reicher Menschen mit schwierig zu merkenden Namen auf, die alle den Weltraumlift benutzen wollen, den Frank Schätzing erfunden hat. Schon hier freut man sich über das Personenverzeichnis im Anhang. Es hat allein acht Seiten Umfang Und dann geht die Action richtig los: Cyber-Detektiv Owen Jericho sprengt zum Aufwärmen mal einen Kinderpornoring und als er davon erschöpft aufs Sofa sinkt, sieht er im Fernsehen eine Dokumentation über die Mondkrise des Jahres 2024, die den Hintergrund der dann langsam einsetzenden Haupthandlung bildet.

    Nein, entgegen anders lautenden Berichten hat es sich das angehende Unterwäschenmodel Frank Schätzing nicht einfach gemacht und nach dem Erfolgsrezept von "Der Schwarm" einen Thriller nachgeschoben. Nein, so wie Heinrich Steinfest das Genre "Krimi" stilistisch und inhaltlich sprengt, so hat auch Frank Schätzing einen Thriller geschrieben, der dem Leser weitaus mehr geben will, als dieser eigentlich verlangt hat:

    Mehr Action, mehr Umfang und auch mehr wissenschaftliche Aufklärung über die Probleme dieser Welt. Und Herr Rezensent? - Ihr Urteil zu "Limit" von Frank Schätzing, erschienen im Verlag Kiepenheuer & Witsch?

    Moment, stört mich jetzt nicht. Ich lese gerade.
    Zumindest ist er gefesselt von der Lektüre!

    Und damit zum traurigsten Ereignis dieses Bücherherbstes.
    Und zum - laut Nobelpreisträger Gabriel Garcia Marquez - "wichtigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts". Zu Georges Simenon.

    Was ist trauriges passiert?

    Die Reihe "Sämtliche Maigret-Romane" ist abgeschlossen.

    Und was soll daran traurig sein?

    Na, es kommen keine neuen mehr.

    Der Diogenes Verlag hat es geschafft: Mit Band 75 "Maigret und Monsieur Charles" ist die gleichsam edle wir wohlfeile Edition aller Maigret-Fälle abgeschlossen.

    Allgemein gilt gerade dieser 75. und letzte Maigret-Band als einer der schwächsten. Irgendwie wollte sich Simenon seines Detektivs wohl stilvoll entledigen. Am Anfang bekommt Maigret das Angebot zum Direktor der Pariser Kriminalpolizei befördert zu werden. Der Kommissar zögert, stürzt sich in einen Fall, in dem ein Notar einfach verschwunden ist und als der Notar tot aufgefunden und der Fall gelöst ist, ist das Buch einfach aus

    Und die Menschheit wird nie erfahren, ob Maigret nun Direktor geworden ist, weil Simenon sich 1973 im Jahr nach dem Erscheinen von "Maigret und Monsieur Charles" endgültig von der Schriftstellerei zurückzog.

    Eigenartig lustlos und uninspiriert, findet nicht nur unser Rezensent diesen letzten aller Maigrets, aber das Wunder daran ist:Selbst ein schwacher Maigret ist immer noch eine grandiose Lektüre.

    Man bereut keine einzig Seite, ist gefesselt und gerührt, wünscht sich nichts sehnlicher als dass dieser berühmte Kommissar Maigret auch einmal an der eigenen Türe klopfen würde und möchte sofort nach Paris aufbrechen.

    Oder zumindest den nächsten Maigret lesen.

    Man muss ja nicht bei Band 75 beginnen.

    Eine echte Empfehlung ist hingegen Band 67: "Maigret in Kur", wo der Meisterermittler einen ganzen Band "Ohne Bier, ohne Wein, und ohne schwere Saucen" auskommen muss und von seinem Arzt zum Wassertrinken nach Vichy geschickt wird, wo natürlich prompt ein Mord passiert.

    Unser Rezensent, der - so wie Maigret nicht aufhören kann zu ermitteln - auch im Urlaub...

    Wenn ich denn mal einen hätte

    ... nicht aufhören würde, dort Maigret zu lesen, empfiehlt allen Maigret-Fans, die erwägen, sich die komplette Edition der Maigret-Romane zuzulegen, beim Einkauf mit den Bänden 60 und 62 zu beginnen.

    Denn die beiden Bände 60 "Maigret und der Clochard" und 62 "Maigret und das Gespenst" stehen im Lehrplan für den Französisch-Unterricht und dürften deshalb auch in der deutschen Übersetzung bald wieder vergriffen sein.

    Unser Rezensent aber muss jetzt versprechen, ein Jahr lang nicht über Maigret zu schwärmen.

    Warten wir mal ab, bis die "Maigret-Erzählungen erscheinen".
    Ein Schmankerl bietet der Diogenes-Verlag noch an: Wer ein Bild von sich samt den 75 neuen Maigret-Bänden an den Verlag schickt, bekommt den Band "Simenon, sein Leben in Bildern" geschenkt.

    Und damit zu einem weiteren literarischem Highlight des Krimi-Genres.

    Der Engländer David Peace ist ein netter, vielleicht gar etwas schüchterner, sicher aber äußerst zuvorkommender Mensch, der gerne schwarze Künstler-Anzüge trägt und trotz seines rasierten Glatzkopfes ganz und gar nichts furchterregendes an sich hat und zu offiziellen Terminen gerne seinen kleinen Sohn mitnimmt

    Der Erwähnung wert sind diese Äußerlichkeiten nur deshalb, weil es ganz unvorstellbar ist, was David Peace seinem kleinen Sohn antwortet, wenn dieser ihn einmal fragen sollte, wovon die Bücher seines Vaters denn handeln.

    Denn David Peace schreibt seit Jahren die härtesten, depressivsten und klaustrophobischsten Krimis, die sich denken lassen. Brutal wie sonst nur James Ellroy, getragen von einer manchmal schwer erträglichen sprachlichen Wucht.

    "1974", "1977", "1980" und "1983" hießen die vier im Verlag Liebeskind erschienenen Bände um den Yorkshire Ripper, mit denen es David Peace in England zum geachteten Literaten und in Deutschland zum Träger des "Krimi Preises" brachte.

    Jetzt hat Peace eine neue Trilogie begonnen: "Tokio im Jahre Null" spielt - wie der Name verrät - in Japan des Jahres 1946. Tokio ist darin eine Trümmerstadt voller auch seelisch zertrümmerter Menschen. Inspektor Minami jagt in diesem düsteren Szenario einen Serienmörder.

    Eigentlich hasse ich Krimis mit unrealistischen Serienmördern!

    Unser Rezensent kann beruhigt werden. Denn David Peace stürzt sich mit Vorliebe auf reale Fälle: Diesmal den japanischen Serienmörder Kodaira Yoshio, ein real existiert habendes Monster, das mit Kriegsverbrechen und Vergewaltigungen anfing, dann seinen Schwiegervater umbrachte, verhaftet wurde und nach seiner Haft mindestens zehn Frauen umbrachte und eine vielfache Anzahl vergewaltigte.

    David Peace nähert sich dieser historischen Gestalt aber keineswegs biografisch. Seine mit endlosen Wiederholungen arbeitende Sprache, die stakkatohaft die Handlung vorantreibt oder manchmal einfach quälend auf der Stelle tritt, ist höchst artifiziell und artistisch.

    Das Tokio des Jahres Null erscheint als eine einzige Apokalypse auf Erden. Regen, Blut und Vergewaltigungen überall und dazwischen ein Inspektor, der im Krieg selbst an Verbrechen beteiligt war. Nein, "Tokio im Jahre Null" ist keine leichte Lektüre.

    Aber eine faszinierende: Eine machtvolle Demonstration zu was Sprache im Stande ist.

    ... urteilt unser Rezensent zu "Tokio im Jahre Null" von David Peace, erschienen im Verlag Liebeskind und kongenial übersetzt von Peter Torberg.

    Mein Krimi des Herbstes!

    Da kann eigentlich nichts besseres mehr nachkommen.

    Und doch möchte unser Rezensent, dass wir noch auf zwei weitere herrausragende Genrevertreter hinweisen. Beide mit bibliophilen Helden.

    Erstens: Ken Bruen, "Jack Taylor fliegt raus", ein Taschenbuch, erschienen im Atrium-Verlag.

    "Übersetzt von Harry Rowohlt" steht groß auf dem Cover. Das soll für sprachliche Qualität bürgen und tut es auch: Jack Taylor, ein irischer Privatdetektiv, liebt die Bücher und den Suff, behauptet von sich "Ich bin billig" ermittelt nur zwischen Vollrausch und exzessiver Lektüre und das ist nicht oft der Fall. Aber der Band "Jack Taylor fliegt raus" ist der feuchtfröhlichste Krimi des Herbstes. Allerdings sollte man das Buch aufrecht lagern, denn andernfalls würde zwischen den Buchdeckel der Whiskey herausfließen

    Zweitens: "Winter in Maine" von Gerard Donovan, erschienen bei Luchterhand, übersetzt von Thomas Gunkel.

    In einer einsamen Hütte in Maine wohnt Julius Winsome, ein Mann, dessen einziger Freund sein Hund Hobbes und die 3282 Bücher seines Vaters sind. Als in der ersten Zeile des Buches ein Schuss fällt, der den Hund tötet, fängt Julius Winsome selbst an zu töten. Er packt sich sein Lee-Enfield-Gewehr Modell 14 aus dem ersten Weltkrieg und fängt an Jäger zu töten, von denen einer seinen Hund getötet haben muss.

    Morde aus der Sicht des Mörders zu schildern ist eine selten gelingendes Unterfangen. Gerard Donovan gelingt das Kunststück so bravourös, dass man sich als Leser beständig dabei erwischt, sich emotional auf der Seite des Mörders zu befinden. Wenn es Aufgabe der Literatur ist, Gefühle zu teilen, die wir im normalen Leben nie haben werden: Hier kann man sich ohne Reue einen Band lang als Mörder fühlen.