Archiv


"Von Achilles bis Zidane"

Der Kritiker Arno Orzessek hat anlässlich einer Tagung des Einstein Forums in Potsdam zum Thema Zorn darauf hingewiesen, dass von der Punkmusik bis zu Thomas Bernhard in der Kunst Zorn immer Stilmittel war. Gleichzeitig gehe die Renaissance des Begriffs "mit unerhörtem Zornausbrüchen und Manifestationen in der Realität einher", wie Selbstmordattentate und Amokläufe bewiesen, so Orzessek.

Arno Orzessek im Gespräch mit Dina Netz |
    Dina Netz: Wenn Wasser im Überfluss fließt, aber die Felder der Armen im Staub vertrocknen, dann müssen wir zornig werden. So geht eine Zeile des Fernsehspots des Hilfswerks Misereor, mit dem es seinen 50. Geburtstag mahnend begeht. Der Spot trägt die Überschrift "Mit Zorn und Zärtlichkeit an der Seite der Armen". Zorn, das klingt natürlich gut, wegen der Alliteration mit "Zorn" und "Zärtlichkeit", aber eigentlich würde man heute doch eher "wütend" oder "aufgebracht" sagen. Der Zorn hat aber offenbar Konjunktur. Und dem Phänomen ist jetzt das Einstein Forum Potsdam mit einer Tagung nachgegangen. "Von Achilles bis Zidane - Zur Genealogie des Zorns" war sie überschrieben und Arno Orzessek war dort. Herr Orzessek, woran haben die Diskutanten denn diese Renaissance des Zorns festgemacht?

    Arno Orzessek: Ja, ich denke, es gibt mehrere Aspekte dieser Konjunktur. Zum einen, und das ist die innerwissenschaftliche Perspektive, wird tatsächlich vermehrt über den Zorn geschrieben. Peter Sloterdijks "Zorn und Zeit" und André Glucksmanns inhaltlich nah verwandtes Buch "Hass - Die Rückkehr einer elementaren Gewalt". Das sind prominente, weil häufig besprochene Beispiele. Der Psychotherapeut Theodor Itten hat über den Jähzorn geschrieben. Der Potsdamer Medienwissenschaftler Heiko Christians über Amok. Die Liste wird länger und länger. Es gibt dann die begriffliche Dimension. Da wird ein Begriff, der vor ein paar Jahren noch so alttestamentlich klang wie, sagen wir, Hochmut oder Sünde oder so, auch außerhalb der Wissenschaft wieder attraktiv, weil man merkt, das ist ja nicht nur ein diffuses Prunkwort. Ich erinnere mich daran, dass Elke Heidenreich in der "FAZ" über Marcel Reich-Ranickis gerechten Zorn geschrieben hat und dabei den Zorn für sich selbst als Stilmittel benutzt hat, so wie im Übrigen natürlich von der Punkmusik bis zu Bernhard in der Kunst Zorn immer Stilmittel war. Und eine dritte Dimension der Zornkonjunktur ist sicherlich, dass diese Arbeit am Begriff zeitgleich mit unerhörtem Zornausbrüchen und Manifestationen in der Realität einhergeht, jedenfalls kann man sagen, es spricht vieles dafür, Selbstmordattentate und Amokläufe als Ausdruck und Wirkung eines elementaren Zorns zu verstehen, zwar nicht nur, aber auch.

    Netz: Herr Orzessek, Sie haben gerade schon gesagt, der Begriff hat Konjunktur. Aber was umfasst denn nun dieser Begriff Zorn eigentlich? Wie wurde er auf der Tagung abgegrenzt im Vergleich zu Wut, Ärger, Empörung oder anderen Gefühlsregungen?

    Orzessek: Erinnern wir uns kurz an Zinédine Zidanes majestätischen Kopfstoß im WM-Finale 2006. Das wäre eine Ikone des eruptiven Jähzorns. Aber wenn man sämtliche Begleitumstände und Zidanes Charakter dazu nimmt, könnte man von echtem Zorn reden, nämlich dem Zorn des Beleidigten, dessen Ehre gekränkt wurde, der anders nicht zu seinem Recht kommen kann. Es sei denn, er nimmt es in die Hand. Und seit Sloterdijks erwähnten Buch, da steht der Zorn definitiv im Verdacht, etwas Grundlegenderes zu sein, als der Ärger, der günstigenfalls verfliegt, die Wut, die verraucht, die Empörung, die sich legt. Sloterdijk kritisiert nämlich an der jüngeren Moderne, dass sie mit diesem psychoanalytischen Erklärungen irgendwie verblendet, einfach ignoriere, dass das Thymotische, wie er den Zorn zurückübersetzt, eine genauso grundlegende Kraft des Libido thanatos thymos ist. Und einige Referenten in Potsdam, die haben diese These geteilt. Sprachlich absolut grandios hat der 80-jährige Philosoph Hermann Schmidt nachgezeichnet, wie in der europäischen Geschichte eigentlich die Macht des Zorns immer zu eingehegt werden musste. Platon verlegte den Zorn in die Seele und wollte die Vernunft als Wächter aufstellen. Paulus wollten den Zorn religiös in den Griff bekommen. Die abendländische Rechtskultur ordnete die Auswüchse des Zorns durch juristische Verfahren, die dann anstelle von Blutvergießen rücken sollten, den Zorn einzuhegen, das heißt nicht, ihn auszumerzen. Aber die Agenturen sind dabei, diese Einhegung weiter fortzusetzen.

    Netz: Sie haben jetzt schon einen kleinen Vergleich durch die Geschichte gezogen, aber auf der Tagung waren ja auch gegenwärtige, sehr unterschiedliche Zünfte vertreten, Psychologen, Philosophen, Kulturwissenschaftler, Historiker. Haben die sich auf einen Zorn einigen können?

    Orzessek: Nein, auf gar keinen Fall. Das zeigte sich vor allen Dingen an den Vorträgen, die vom Zorn im Mittelalter gehandelt haben. Lang hat man aufgrund von bildlichen und textlichen Zeugnissen angenommen, im Mittelalter hätten die Menschen sehr spontan und hoch emotional gehandelt und der Prozess der Zivilisation bis heute sei dann der Prozess der Abkühlung und Regulierung gewesen. Aber jetzt setzt sich, das wurde in Potsdam sehr deutlich, die Einsicht durch, dass die überdeutliche Herauskehrung von Emotionen ganz hochgradig ritualisiert und regelgeleitet war wie zum Beispiel beim berühmten Canossagang von Heinrich, dem IV.. Die überschäumende Emotion wurde als symbolisch-verbindliche Kommunikation eingesetzt. Es ging nicht um die Echtheit der Gefühle oder jedenfalls vermutlich viel weniger. Das ist heute anders, geradezu umgekehrt. Nicht die emotionale Geste wird belohnt, sondern natürlich die authentische Emotion. Und wer beim Mogeln erwischt wird, Stichwort Krokodilstränen, der hat mit Ansehensverlust zu rechnen. Wir empfinden es als Heuchelei, wenn jemand Freud oder Leid vorspielt, eben weil wir aus der emotionalen Regung den wahren Gemütszustand einer Person erschließen wollten. Im Mittelalter konnte die Emotion offenbar, rein strategisch eingesetzt werden. Es ging nicht um echt oder unecht. Heute geht es um echt oder unecht.

    Netz: Welche unterschiedlichen Definitionen von Zorn haben denn Psychologen, Kulturwissenschaftler, Historiker und all diese anderen Berufsgruppen, die da in Potsdam gesprochen und diskutiert haben?

    Orzessek: Vielleicht kann ich hier ein praktisches Beispiel erwähnen. Die Wissenschaftler können mit ihren Definitionen sicherlich nichts daran ändern, inwieweit der Zorn die Welt in Bewegung hält. Aber sie können Konzepte vorlegen, wie man mit verschiedenen Formen des Zorns umgehen kann, insbesondere solchen, die sich in Gewalt ausleben. Und der amerikanische Psychiater Jonathan Shay, der interessiert sich zum Beispiel für das Thymotische, weil er sich um amerikanische Kriegsveteranen kümmert. Und er ist der Meinung, die Gewaltneigung dieser US-Veteranen im Zivilleben, die ja seit dem Vietnamkrieg weltbekannt ist, die muss vor dem Hintergrund komplexer Zornesenergien begriffen werden, die aus fehlender Anerkennung, aus Ehrabschneidung, Demütigung usw. resultieren. Und Shay würde Thymos am ehesten mit Mut, und zwar im Sinne unseres alten Lebensmutes übersetzen. Und er hat seine Analyse mit einer politisch sehr konkreten Warnung verbunden. Die US-Streitkräfte im Irak, die operieren im Augenblick mit extrem vielen Söldnern, die nach der Rückkehr in die Staaten aus dem System der regulären psychologischen Versorgung fallen und auch nicht von Veteranenverbänden aufgefangen werden. Und Shay glaubt, die Wirkung des Zorns dieser gezeichneten Söldner, die könnten eine echte Gefahr für das zivile Leben werden.

    Netz: Vielen Dank! Arno Orzessek hat für uns die Tagung "Von Achilles bis Zidane - Zur Genealogie des Zorns" in Potsdam beobachtet.