Archiv


Von Attentaten und Detektiven

Das Verbrechen - soviel ist sicher - lauert überall. Es hat Platz in der kleinsten Hütte, im einsamsten Tal und in der größten Stadt. Am größten ist die Wahrscheinlichkeit, von einem Mitglied der eigenen Familie ermordet zu werden.

Von Andreas Ammer |
    Am allergrößten ist die Gelegenheit, Zeuge eines Verbrechens zu werden allerdings nur im Krimi. Es gibt in Deutschland pro Jahr weniger als 1000 Mordopfer ... doch literarisch werden ein paar Menschen mehr um die Ecke gebracht. Allein die Anzahl der Krimi-Neuerscheinungen dürfte um einiges höher liegen als die der realen Mordopfer.

    Deshalb auch heute: die Krimikolumne!
    In der gibt es heute gleich ein paar tausend Tote. Und sie umspannt die ganze Welt und ihre Erscheinungen: Wir stellen einen Krimi aus der Großmetropole New York vor und einen Heimatroman aus dem hinterletzten Alpental. Es gibt einen weltbekannten Autor und einen Neuling. Wir haben die letzten Meldungen über ein auf dem Münchner Oktoberfest bevorstehende Giftgasattentat.

    Und es gibt - natürlich - den intelligentesten Krimi des Jahrtausends sowie zwei aufmüpfige Sprecher und einen gnadenlosen Rezensenten.

    Vor der Dramatik etwas Statistik. Fast 30 Prozent aller in Deutschland verkauften Bücher gehören der Spannungsliteratur an. 15 Millionen Exemplare wurden hierzulande allein von den Wallander-Krimis des Henning Mankell verkauft. Donna Leon bringt es mit ihrem Venezianer Guido Brunetti auf gut 9 Millionen Exemplare. Sie ist damit die einzige nicht skandinavische Autorin unter den Top-Sellern.

    Denn auf die beschaulich, betuliche Donna folgt in der Rangliste der inzwischen verstorbene Stieg Larsson mit gut 6 Millionen verkauften Krimis. Auf Platz 4 dann Hakan Nesser, ein ehemaliger schwedischer Oberlehrer, der mit 38 Jahren mit dem Schreiben anfingt, mit 43 seinen ersten Krimi schrieb und heute nicht nur in Deutschland zu den beliebtesten und meistverkauften Autoren zählt.

    Hakan Nesser lebt sommers irgendwo auf der idyllischen Insel Gotland in einer kühn konstruierten Villa am Meer. Den Rest des Jahres verbringt er im quirligen London. Seinen erfolgreichen Ermittler Van Veeteren hat er nach zehn Bänden gelangweilt zu den Akten gelegt. Sein jetziger Ermittler heißt Inspektor Barbarotti, aber auch dem ist er nicht sonderlich treu. Nesser hat das nicht mehr nötig.

    Irgendwie scheint der große Nesser, der in Interviews den Tod als den idealen Motor des Schreibens und des Denkens feiert, des Krimigenres etwas überdrüssig zu sein. Schon in seinem letzten Buch "Das zweite Leben des Herrn Roos" erlaubte er sich die Extravaganz, seinen Ermittler Barbarotti erst nach der Hälfte des Buches auftauchen zu lassen.

    In Hakan Nessers neuestem Buch, das den etwas rätselhaften Titel "Die Perspektive des Gärtners" trägt, von Christel Hildebrand übersetzt wurde und bei btb erschienen ist, kommt nun gar kein Ermittler mehr vor. Einen Detektiv gibt es zwar, aber nur am Rande und der Mann ist obendrein im Ruhestand.

    Zur Handlung: Sara, die Tochter des Schriftstellers Erik Steinbeck und seiner Künstlerfrau Winnie ist verschwunden. Seit 14 Monaten. Um über den höchst wahrscheinlichen Tod ihrer Tochter hinweg zu kommen, beginnen die Steinbecks in New York, im einstmals hippen Greenwich Village ein neues Leben. Zumindest versuchen sie es.

    Das Vorhaben scheitert gründlich. Erik hat irgendwie eine Schreibblockade und Winnie wird immer merkwürdiger. Erik ertappt sie dabei, wie sie zu geheimen Treffen geht, was Winnie bestreitet. Und später verschwindet sie dann auch noch. Frau weg, Tochter weg!

    Mehr passiert nicht!

    Nein, es existiert kein Mörder, kein Ermittler, womöglich - wir wollen es nicht verraten – fand überhaupt kein Verbrechen statt in Hakan Nessers neuem Roman, der ganz von der Atmosphäre New Yorks lebt, eine Stadt in der Nesser selbst für ein paar Jahre gelebt hat. Nein, es passiert wirklich nicht viel in "Die Perspektive des Gärtners". Es gibt höchstens ein paar scheinbar übersinnliche Phänomene, an die weder der Autor Erik im Buch noch der Leser wirklich glauben kann.

    Die in dem Buch durchaus vorhandene Spannung resultiert aus der neugierigen Frage, wie es Hakan Nesser gelingen wird, all die merkwürdigen, paranormal erscheinenden Vorfälle zu einer halbwegs logischen Handlung zusammenzufassen.

    Und wie - geehrter Rezensent - finden Sie dieses merkwürdige Buch?

    Das Buch ist spannend genug. Vielleicht sogar spannender als diese Kolumne?

    Um in dieser Kolumne die Spannung hochzuhalten, findet die Verkündigung des Urteils unseres Rezensenten diesmal erst am Ende statt.

    Ein Cliffhanger!

    Und mit diesem weg aus New York in eine noch viel unheimlichere Gegend, in die Alpen und deren finstere Täler.

    Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürcht ich kein Unglück ...
    Halt!
    Aber bitte sehr. Einer der bekanntesten Sätze aus der Bibel!
    Keine Religion in dieser Kolumne. Hier regiert das Verbrechen!
    Der Psalm 23 ist allerdings Namensgeber für den Überraschungsroman dieses Sommers. Auf den ersten Blick ist es ein Heimatroman, auf den zweiten fast eine Wildwestsaga, eigentlich aber der idyllischste und zugleich brutalste Thriller des Sommers:

    Thomas Willmann, Das finstere Tal, erschienen im Liebeskind-Verlag
    Eine Naturgewalt von einem Roman. Alpenwestern, Heimatroman und Horrorthriller!
    "Das finstere Tal" beginnt beschaulich, idyllisch, im Spätherbst: Ein Maler reitet auf seinem Maultier in ein Hochtal . Feindlich begegnen die Einheimischen dem Fremden. Nur gegen gutes Geld gewähren sie dem Mann über den Winter, der jetzt gleich eintreten und das Tal von der Außenwelt abschneiden wird, eine Bleibe.

    Als wäre es ein nachgelassenes Werk des biedermeierlichen Heimathorrorschriftstellers Adalbert Stifter, so beginnt "Das finstere Tal". Es gibt darin ein Gebirgstal, ein einsames Dorf und die Menschen, die darin leben. Mehr nicht. Die Menschen sind bescheiden, unbeirrbar und sehr eigen. Manchmal verlieben sie sich, aber immer sind sie beherrscht von einer mächtigen Familie, den Brenners.
    Wortkarg sind die Menschen dort oben im Tal. Und deshalb kommt Thomas Willmanns Krimi auch fast ohne Dialoge aus , beschränkt sich ganz auf Schilderungen und beschreibt einen schweigsamen Helden in einer bedrohlichen Landschaft.

    Sechs Söhne hat der alte Brenner, der Herrscher über das Tal. Brenner, eine Gestalt, wie Marlon Brando sie in "Apocalypse Now" spielt: Massig, mächtig und unnahbar. Ein Despot!

    Die sechs Söhne regieren mit dumpfer Gewalt das Tal und auch Greider, der Fremde, der Maler, der mit seinem langen schwarzen Mantel auf einem Maultier im Herbst in das Dorf geritten kommt, beugt sich dieser Herrschaft. Er wird mit seinen Gemälden ganz Teil der Landschaft, geht in ihr fast bis zum Verschwinden auf.

    Dann aber verschwinden nacheinander zwei der Brenner Buben; sie sind anscheinend verunglückt, heimgeholt von der Brutalität der Landschaft um sie herum ...

    Natürlich weit gefehlt. Das Verschwinden der beiden Brenners ist nur der Auftakt zu einem wüsten, die ganze zweite Hälfte des Buches ausmachenden Showdown voll blanker Gewalt, verschachtelten Rückblenden voll gequälter Existenzen und einem Rachefeldzug, der sich höchstens mit Tarantinos "Kill Bill" Exzessen vergleichen lässt.

    In der letzten Zeile seines Romans, in der Danksagung, verrät uns Thomas Willmann, der Autor, was seinem Buch eine derart einzigartige Atmosphäre verschafft hat. Außer den üblichen Freunden und Verlegern dankt Willmann seinem "etwas seltsamen Paar von Schutzheiligen: Ludwig Ganghofer und Sergio Leone".

    Neben dem Heimatdichter und dem Heroen des Wildwest-Dramas ließe sich als mögliche Inspirationsquelle noch Cormack McCarthy, der große amerikanische Chronist dramatischer Landschaften und drastischer Rachegefühle vermuten.

    Ganghofer, Leone, McCarthy, Tarantino, Coppola es ist kein Zufall, dass unserem Rezensenten nur die Größten des Genres einfallen, um zu beschreiben, welche literarische Wucht "Das finstere Tal" von Thomas Willmann, erschienen im Münchner Liebeskind-Verlag, entwickelt. Ein wildes Gebirge von einem Buch!

    lautet dann auch das Urteil unseres Rezensenten zu dem grausam-gewaltigen Debütroman "Das finstere Tal" von Thomas Willmann

    Was aber sagt der Rezensent zu Hakan Nesser? Gemach, gamach, wir sind noch nicht am Ende.

    Zunächst noch zu dem Buch mit den meisten Leichen des Sommers:

    "Oktoberfest" heißt ein Thriller von Christoph Scholder, der derart kaltblütig berechnend zum 200. Jubiläum des Oktoberfestes und zum 30, Jahrestag des Oktoberfestattentates veröffentlicht wurde, dass sich der Verlag Droemer eigentlich schämen müsste.

    Was dieser natürlich nicht tut. Er freut sich hingegen, dass es die Aufregung über den Schmöker im Sommerloch sogar auf die Titelblätter der Münchner Boulevardzeitungen geschafft hat.

    "Wies'n: Autor schürt Angst vor Anschlägen" lautete letzte Woche die Schlagzeile der Münchner Abendzeitung, und es dürfte lange her sein, dass ein Stück Literatur es auf die Titelseite geschafft hätte.

    Eine Truppe russischer Elitesoldaten unter einem gewissen General Oleg Blochin hat es am zweiten Wiesn-Sonntag mittels Giftgas und einem Trick geschafft, alle Bierzeltbesucher als Geiseln in ihre Gewalt zu bringen. Um 17.56 Uhr werden im Bierzelt die Ventile geöffnet:

    "Die Bedienungen wurden im Stehen und Laufen ohnmächtig. Geschirr und Krüge zerbrachen scheppernd. Bier floss und versickerte, Knöchel knacksten. Die groben Dielen rissen Schürfwunden. Das Küchenpersonal kollabierte vor den Grillstationen und Herdplatten. Tote Hühner glitschten über den Boden. Den Musikern der Kapelle knickten die Knie ein. Das Gas wirkte in Sekunden."

    Diese Massenbetäubung ist aber nur der Anfang. Als die deutsche Politik die Forderung nach zwei Milliarden Euro in Edelsteinen nicht sofort erfüllt, werden die 2000 Besucher des fiktiven Fischer-Lisl-Zeltes allesamt per Giftgas brutal hingerichtet.

    Eine monströse Idee. "Oktoberfest" versucht die Bedrohung ganz nah an eine bundesrepublikanische Wirklichkeit heran. Anschläge auf das Oktoberfest, wo unkontrollierbare Menschenmassen sich alljährlich in paranormale Bewusstseinszustände begeben, gehören zu den Urängsten unserer Republik.

    Trotzdem: Es bleibt ein schaler Beigeschmack, weil sich Christoph Scholders Debütroman allzu berechnend und voller Klischees über seine 600 Seiten quält. Übertrieben wirkt fast alles an diesem Roman, aber Übertreibung ist ja das Wesen jedes Thrillers. Und dass Christoph Scholder nicht die psychologische Noblesse eines Hakan Nessers oder die literarische Wucht eines Thomas Willmann besitzt, kann man als Vorwurf nicht so richtig gelten lassen, denn "Oktoberfest" will ein Schundroman sein.und dieser ist Christoph Scholder zumindest gelungen.

    Und was ist jetzt mit Nesser?

    Herr Rezensent: Wie halten Sie's mit Hakan?

    Selten hat mich ein Roman derart ratlos gemacht. Hakan Nessers Roman "Die Perspektive des Gärtners" ist - auch wenn er auf ein Verbrechen herausläuft - kaum ein Krimi. Er ist - auch wenn er fein die Psychologie seines Helden ziseliert - auch kein richtiges Stück Literatur.

    Das Rätsel, das in dem Buch gelöst wird, wird am Ende so verblüffend, andererseits auch so lieblos und beiläufig gelöst, dass man denkt, es müssten beim Binden des Buches ein paar Seiten verloren gegangen sein. Sag ich doch: Selten hat mich ein Roman derart ratlos zurückgelassen.

    Da aber die Verunsicherung des Lesers eine der vornehmsten Aufgaben der Literatur ist, handelt es sich vielleicht doch um große Literatur?

    Das wiederum auch nicht. Ich bin einfach ratlos.

    Und in all seiner Ratlosigkeit hat unser Rezensent dann bei einem Buch Zuflucht gefunden, das er ungestraft mit Kafka vergleichen möchte und das er für eines der beglückendsten und surrealistischsten des ganzen Jahrtausends hält.

    "Handbuch für Detektive" heißt dieses Wunderbuch, das von Jedediah Beryy stammt, so verschachtelt, so grandios und so spielfreudig ist wie einstmals der Film "Brazil" von Terry Gilliam und Tom Stoppard es war.

    Der kleine Schreiber einer riesigen Detektivagentur findet sich plötzlich an der Stelle des berühmtesten Detektivs der Agentur wieder. Wie Kafkas Figuren vor dem Gesetz wandelt er durch Welten, in denen jederzeit ein Traum wahr werden kann und nur noch das "Handbuch für Detektive" kann den Weg durch die Wirrnisse des Lebens weisen. Ein Zauberbuch! Wenn der Surrealismus in all seiner Größe einen Krimi hervorgebracht hätte, dann wäre es dieser!,

    urteilt unser Rezensent begeistert zum "Handbuch für Detektive" von Jedediah Berry, das von Judith Schwaab für den C.H.Beck-Verlag übersetzt wurde.

    Und er zückt ungefragt noch das ultimative Lob für ein Buch: Wenn Sie in diesem Jahrtausend nur ein neues Buch lesen wollen, dann nehmen Sie dieses!

    Besprochene Bücher:

    Jedediah Berry: "Handbuch für Detektive", C.H. Beck
    Hakan Nesser: "Die Perspektive des Gärtners", btb
    Christoph Scholder: "Oktoberfest", Droemer
    Thomas Willmann: "Das finstere Tal", liebeskind