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Von Auf- und Ausbrüchen, von Liebe, Verlust und Scheitern

Anna Rheinsbergs neues Buch "Das grüne Kleid" ist ein Reigen von sieben locker miteinander verknüpften Erzählungen. In schwebenden Bildern erzählt sie vom fortgesetzten Balancieren zwischen Hingabe und Unabhängigkeitsbestreben, vom Traum einer bedingungslosen Liebe.

Von Sabine Peters | 31.07.2012
    Junge Frauen und Männer Ende der siebziger Jahre in kleinen und mittleren westdeutschen Städten. Ihre Eltern gehören soziologisch gesehen zur unteren Mitte, aber sie selbst fühlen sich als Teil der ästhetischen und politischen Avantgarde. Im zarten Alter von etwa zwanzig Jahren äußert sich dieses Selbstverständnis beispielsweise so: Man dichtet und liebäugelt mit Anarchismus und Feminismus. Man raucht Gras, sammelt Plunder auf Flohmärkten, fährt in klapprigen Bussen Richtung Spanien. Die jungen Frauen und Männer lesen die französischen Strukturalisten, streiten sich mit Maoisten herum, und sie liegen nicht immer nur allein oder zu zweit im Bett. Was in einer solch knappen Zusammenfassung unvermeidlich zum Klischee gerinnt, wird von der Schriftstellerin Anna Rheinsberg verflüssigt – die Dinge und die Menschen geraten in Bewegung.

    Anna Rheinsberg, Jahrgang 1956, hat vom ersten Buch an eine eigene, unverwechselbare Schreibweise entwickelt, und wer ihre Gedichte, Erzählungen und Romane liest, betritt eine Art Wunderland, in dem sich nichts von selbst versteht.

    Rheinsbergs neues Buch mit dem Titel "Das grüne Kleid" ist ein Reigen von sieben Erzählungen, die inhaltlich locker miteinander verknüpft sind und in dem man auch Gestalten aus früheren Romanen wieder findet. Rheinsberg erzählt nicht in konventionellem Sinn – wer hier nach Chronologie und schlüssiger Handlung sucht, muss mit dem Bleistift lesen und wird sich auch dann leicht verlaufen. Die Faszination, die von den Texten ausgeht, gründet in einer Intensität, die eben keine Erklärungen braucht, diese Intensität ist existenziell, sie ist wesenhaft. Netty, Jo, Chesu und Paul und andere Gestalten sind bei allen Unterschieden doch sozusagen verschwistert in ihrer Unruhe und ihrer Flüchtigkeit. Sie leben ganz in der Gegenwart, sie leben maßlos, buchstäblich aus Leibeskräften, und die Palette ihrer Gefühle ist bunt, manchmal schrill. Rheinsbergs Figuren sind spöttisch, sentimental, zornig oder "sinnlos heiter". Jeder ihrer Schritte ist Aufruhr, heißt es einmal, und an anderer Stelle, "wir sind ein einziger Wunschbrunnen." Es liegt im Wesen der Wünsche, dass sie wandern und nicht an ein Ende kommen, sie verwandeln sich fortwährend. Nach dem Verlust eines Liebsten wird aus Netty ein Godzilla mit Rosenhut, einer ihrer Freunde ist mal eine Katze, mal ein Strauß Mimosen, dann ist er die Farbe Grün, nur eine Spur im Gras.

    Die Erzählungen sprechen von Auf- und Ausbrüchen, von Liebe, Verlust und Scheitern, und sie streifen gelegentlich auch kurz die Gegenwart. Der eine grinst sich heutzutage öffentlich durch Quizshows, der anderen ist ihre allerliebste Liebe weggelaufen, und auch aus der eigenen Generation sind mittlerweile einige Freunde verstorben.

    Die Texte bleiben aber hauptsächlich in der Phase von Rheinsbergs eigener Jugend. Die Erzählungen rund um das grüne Kleid wirken aber nicht etwa nur jung und rebellisch, weil von jungen Menschen die Rede ist und weil es zeitlich gesehen um die letzten Ausläufer der sogenannten Protestgeneration geht. Die Kategorie der "Generation" ist ohnehin zweifelhaft, sie reicht überhaupt nicht hin, um ein Individuum zu verstehen. Romane über die wilden Siebziger Jahre gibt es allerdings en masse, und oft genug äugen die schreibenden Mittfünfziger aus der überlegenen Alterswarte zurück, um sich auf billige Weise über die eigene Vergangenheit zu mokieren. Oder sie schreiben mit einer aufgesetzten Naivität, die man kaum glauben mag. Andererseits: Vieles, was spätere Autoren, die heute Zwanzig- bis Dreißigjährigen veröffentlichen, wirkt, als seien jugendliche Greise am Werk gewesen, auch wenn noch so viele Tabus gebrochen werden. Verlage und Feuilletons wünschen sich immer wieder eine junge, unverbrauchte Literatur und wundern sich angesichts von Veranstaltungen wie dem "open mike", wie perfekt da halbe Kinder schreiben, wie glatt und marktkonform Vieles daherkommt.

    Was bedeute eigentlich "Jugend"? Der junge Mensch ist nicht Fisch und nicht Fleisch. Er verfügt weder über politische noch ökonomische Macht, und er ist auch nicht führend in den Leitmedien. Mit Skepsis betrachtet er diejenigen, die in der langweiligen bzw. der erprobten und bewährten Fahrrinne schwimmen. Junge Menschen sind in der Realität seit Sokrates eine Zumutung für alle Älteren, vielleicht vor allem, weil sie so sperrig, unbändig und unfertig sind. – Und das sei hier in aller Emphase gesagt.

    Zurück zur Fiktion: Es ist ein folgenschwerer Irrtum, wenn man eine "junge" Literatur schlicht mit dem Alter der Autoren kurzschließt, denn dann entgeht Vieles der Aufmerksamkeit. Und daher ist es so bedauerlich, dass Anna Rheinsberg immer noch als Geheimtipp gilt. Ihre Texte artikulieren "Jugend" im oben beschriebenen Sinn. Die Gestalten wollen nicht fertig werden, sie wollen sich nicht in einem mehr oder weniger bürgerlichen Leben niederlassen. Sie fliegen hoch und fallen tief, sie wollen Alles, und doch geht es dabei immer ums Halbe, um glühenden Kleinkram. Die Sprache selbst ist spröde, unbändig, stark rhythmisiert, man hört Stakkato und Glissando, man hört förmlich den Atem der Erzählungen, man liest mit den Ohren. Anna Rheinsberg, die soeben mit dem Renate-Chotjewitz-Häfner-Preis ausgezeichnet wurde, hat sich so etwas wie ein utopisches Potenzial erarbeitet: In schwebenden Bildern erzählt sie vom fortgesetzten Balancieren zwischen Hingabe und Unabhängigkeitsbestreben, sie erzählt vom Traum einer bedingungsloser Liebe.

    Anna Rheinsberg: Das grüne Kleid.
    Roman
    Nautilus Verlag, 128 Seiten, 16 Euro