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Von Bausünden und Elefanten

In Sachen Kunst und Kultur ist Nantes eine der dynamischsten Städte in Frankreich. Das Kunstevent "Reise nach Nantes" zeigt, was Kulturschaffende hier in den vergangenen 20 Jahren auf die Beine gestellt haben: Ein Parcours mit vielen Sehenswürdigkeiten und einigen Verrücktheiten.

Von Bettina Kaps |
    Mittelalterliche Häuser mit Kneipen und Crêperien umgeben den "Place Bouffay" im Herzen von Nantes. Neuerdings zieht der Platz noch mehr Passanten an. Viele bleiben stehen, schauen zum Himmel. Dort schwebt eine Hausecke. Ganz schön verrückt, sagt eine Studentin, die mit ihrem Freund gekommen ist.

    "Damit haben wir nicht gerechnet. Beeindruckend, dass es überhaupt hält."

    Es scheint, als fliege ein abgebrochenes Stück Haus aus der Nachbarschaft fort. Die Fassade ist auf einen Lastenaufzug montiert. Ein Gitter verhindert, dass Neugierige hinauf klettern.

    Neben der Installation steht ein schmaler Mann, auch er scheint überrascht. Leandro Erlich stellt sich als Künstler vor. Der Argentinier hat fast ein Jahr lang mit Technikern und Ingenieuren getüftelt, um seine Idee zu verwirklichen. Erst kurz vor Beginn des Kunstevents habe der Überwachungsverein seine Erlaubnis gegeben, erzählt er. Aber Erlich geht es nicht nur um die technische Herausforderung:

    "Mich interessiert die Geschwindigkeit, mit der sich Städte verändern. Gegenüber von diesem Platz sieht man eine Großbaustelle. Die Stadtlandschaft wird also bald ganz anders aussehen. Das Stück alte Fassade, das ich in die Luft gehängt habe, ist für mich eine Metapher für eine Momentaufnahme der Geschichte."

    Das spektakuläre Kunstwerk ist Teil eines Events, das die Stadt Nantes den ganzen Sommer lang auf den Kopf stellt: "Reise nach Nantes" heißt das Ereignis. Die Idee dazu hatte Jean Blaise, der berühmte Ausstellungsmacher der Stadt. Blaise hat bereits viele Kulturspektakel erfunden, die anschließend weltweit in Mode kamen, zum Beispiel die schlaflose Kulturnacht "La Nuit Blanche". Diesmal will er Besucher auf einem zehn Kilometer langen Rundkurs durch ganz Nantes locken und dabei immer neu überraschen.

    "Der Parcours zählt 40 Stationen, sie wurden alle von Künstlern, Architekten, Designern gestaltet. Wir haben die Kreateure aufgefordert, die Stadt regelrecht in Besitz zu nehmen. Manche haben in einem Museum, einer Kirche oder einem Geschäft Akzente gesetzt, andere haben ungewöhnliche Aussichtspunkte geschaffen, zum Beispiel in Baumkronen. Es ist zugleich ein Weg durch die Geschichte von Nantes: vom mittelalterlichen Schloss und der Kathedrale führt er zum Hochhaus der 70er-Jahre. Die Bürgerhäuser des 18. und 19. Jahrhunderts sind genauso einbezogen wie die ehemalige Industrielandschaft und die überraschende zeitgenössische Architektur ... Der Besucher entdeckt die große Kreativität dieser Stadt."

    Ein rosa Strich im Asphalt weist den Weg. Die Linie führt zur Uferstraße Quai de la Fosse. Aus einer schmalen Passage schießt mir ein hellgraues Ungetüm in den Weg, wie eine heftige Windböe. Die luftige Konstruktion aus Metallstangen und durchsichtigen Plastiklatten ist begehbar.

    Wer hochsteigen will, sollte besser schwindelfrei sein, denn die Plattform in zehn Meter Höhe wackelt leicht. Sozusagen im Auge des Wirbelsturms steht Gwendal, ein Architekturstudent. Der 24-Jährige passt auf, dass nicht mehr als vier Besucher in die Böe hinein gehen.

    "Unser Professor hat Studenten ausgewählt, die verrückte Plattformen in Nantes installieren sollten. Meistens entwerfen wir ja nur am Computer oder bauen kleine Modelle. Diesmal konnten wir unsere Ideen endlich mal verwirklichen und dabei selbst Hand anlegen."

    Der Parcours lockt Besucher auch nach "Klein-Amazonien". So heißt ein grünes Naturreservat hinter dem Bahnhof von Nantes. Zwischen der Zugtrasse und einem Hochhausviertel mit Sozialbauten wachsen Eichen, Ulmen, Weiden. Das Gelände ist abgezäunt. Am Gitter stoße ich auf einen großen Mann mit zerzauster Frisur: André Dekker kommt aus Rotterdam und ist Mitglied der niederländischen Künstlergruppe Observatorium. Der riesige Stadtdschungel und seine Geschichte begeistern ihn. Die Pflanzen hätten 200 Bombenkrater überwuchert, erzählt André. Und nicht nur das:

    "Wir hatten gehört, dass die wilde Natur auf den Fundamenten einer Autobahn wächst. Das war so faszinierend, die konnte man richtig sehen, die Fundamente hier in der Wildnis. Dann haben wir auch gemerkt, dass man hier eigentlich nicht rein darf. Es ist ein Reservat, das sehr stark geschützt wird."
    Das Gelände ist ein Vogelschutzgebiet, pro Jahr dürfen es nur 500 Menschen betreten. Vor der abgezäunten Wildnis haben André Dekker und sein Künstlerkollege Geert van de Camp eine hölzerne Plattform gebaut, sie ähnelt einer sechsspurigen Zufahrtsstraße und führt auf eine hölzerne Brücke zu. Dort oben stehen Menschen - Bewohner des Viertels und Touristen mischen sich hier. Wie von einem Balkon aus können sie jetzt in den verbotenen Garten hineinschauen. Die Kunstinstallation heißt "Wilde Mautstelle", sie spielt auf die Entstehungsgeschichte des Stadtdschungels an, sagt Dekker.

    "Wir dachten: Wir müssen diese Geschichte nach außen bringen. Also haben wir uns zwei Sachen vorgenommen: Wir bauen die Autobahn, die man damals geplant hatte, aber wir sorgen auch dafür, dass diese Stadtwildnis noch weiter in die Stadt rein wachsen kann."

    Rund um die Installation haben die Künstler eine Wiese angelegt, die auch zuwuchern soll.

    Das Programm der "Reise durch Nantes" führt auch auf die Loire-Insel mitten in der Stadt. Schon von weitem sind große alte Kräne zu sehen, Wahrzeichen der ehemaligen Werftanlagen.


    Das Tor einer alten Maschinenhalle steht weit offen. Dort ist das berühmteste Tier der Stadt zuhause: ein gewaltiger Elefant aus Holz und Metall. Der Dickhäuter beginnt gerade seinen täglichen Spaziergang, im Tragekorb auf seinem zwölf Meter hohen Rücken kann er 49 Menschen befördern. Der Elefant wedelt mit den Ohren, klimpert mit den Augenlidern, schwingt den Rüssel und stößt zischend eine Wasserfontäne aus. Dabei marschiert er am neuen "Karussell der Unterwasserwelten" vorbei: Tintenfische, Riesenkrabben, Quallen und fliegende Fische drehen auf drei Ebenen ihre Runden. Die altmodisch wirkenden Maschinen erinnern an die Unterwasserwelt von Jules Vernes, den berühmtesten Sohn der Stadt.

    Der Ariadnefaden führt nun wieder in die Innenstadt, lockt auch in Museen und Kirchen. Immer gibt es Neues zu sehen oder zu hören - zum Beispiel eine Klanginstallation des deutschen Künstlers Rolf Julius. Zumindest eine Sehenswürdigkeit wird aber auch bewusst verborgen: der dreistöckige Brunnen auf der Place Royale.

    Über die Wasser speienden Bronzefiguren wurde ein giftgrüner Berg gestülpt, er dient als Kletterwand. Wer mag, kann die Fahne auf dem Gipfel erobern, und danach zum Höhlenforscher werden: im Innern des Bergs sprudelt der Brunnen weiter.
    Zur Sehenswürdigkeit wird auch der "Tour de Bretagne". So heißt ein 32 Stockwerke hohes Bürogebäude, eine typische Bausünde aus den 70er-Jahren.

    Zuerst einmal überrascht hier das Klavier. Es steht einfach so auf dem Bürgersteig, gleich neben der Hauswand des Turms. Eine junge Frau spielt und singt. Sie verbringt hier ihre Mittagspause, sagt sie, gleich muss sie wieder in das Kleidergeschäft, wo sie als Verkäuferin arbeitet. Vier junge Männer begleiten die Pianistin, sie haben Saxofon und Gitarren mitgebracht.

    "Händler der Stadt haben neun Klaviere ins Freie gestellt, wo jeder spielen kann. Ich finde es toll, in der Straße zu musizieren. So lernt man Leute kennen. Diesen Sommer ist in Nantes ganz viel Kultur angesagt, das tut gut!"

    Im Hochhaus selbst hat ein junger Designer die oberste Etage zum Kunst-Projekt gemacht. Sie ist jetzt ein Storchennest: Kleine Sessel sehen aus wie geköpfte Eier, ein Vogel liegt wie eine Comicfigur im Raum, sein langer weicher Hals lädt ebenfalls zum Sitzen ein. Das Ganze ist eine Kneipe.

    Rund herum, in 120 Meter Höhe, verläuft eine Terrasse. Unten liegt Nantes, mit seinen Straßen und Gebäuden, die noch viele verrückte Überraschungen verbergen.