Burkhard Müller-Ullrich: Das Dezimalsystem ist uns besonders lieb, denn wir tragen es an Händen und Füßen. Nur so lässt sich erklären, warum unser historisches Bewusstsein von sogenannten runden Gedenkdaten beherrscht wird. Das Deutsches Literaturarchiv macht da keine Ausnahme, denn natürlich verweist die aktuelle Ausstellung "1912" auf das hundertjährige Jubiläum des Jahres 1912 in diesem Jahr. Aber tatsächlich war 1912 kulturgeschichtlich ein besonderes Jahr. Warum, Christian Gampert?
Christian Gampert: Ja! Die Ausstellung heißt "Ein Jahr im Archiv", was eigentlich ja darauf hindeutet, dass sie ein Jahr sich angekettet haben in ihren Papierkellern. Es ist aber natürlich ganz anders gemeint. Das Jahr 1912 soll als Epochenschwelle dargestellt werden, als Epochenschwelle zur Moderne, und das hat wiederum den Grund darin, dass der Romanist Hans Robert Jauß …
Müller-Ullrich: …, von dem dieser Begriff, glaube ich, stammt!
Gampert: Genau! Der hat den erfunden. - … eine neue Ästhetik gesehen hat: die Ästhetik der Simultanität, der Reizüberflutung, die erstmals eben im Jahre 1912 angeblich zutage kam. Ich denke, man hätte auch das Jahr 1913 oder _14 nehmen können, aber sei es drum: wir sind im Jahr 1912 und so kommt das ganz richtig. Und die Marbacher haben eben nun tatsächlich ein Jahr in ihrem Archiv gewühlt und eben nicht mit dem historischen Wissen, das wir heute haben, rückwärts geschaut, sondern einfach einen Querschnitt gelegt und geschaut, was finden wir denn, wenn wir dieses Jahr 1912 ganz ernst nehmen, was geschah denn da gleichzeitig. Und was einem natürlich sofort einfällt, ist: Untergang der Titanic, und das heißt im übertragenen Sinne natürlich auch Untergang des Bürgertums letztendlich – der Erste Weltkrieg steht vor der Tür. Andererseits eben neue literarische Verfahren, und die werden nun vorgeführt in dieser Ausstellung.
Müller-Ullrich: Welche herausragenden Werke kann man mit dem Jahr 1912 assoziieren?
Gampert: Die Ausstellung erzählt folgendermaßen: Sie nehmen immer ein sogenanntes Leitobjekt, und anhand dieses Objekts wird dann so eine ganze Ästhetik erklärt. Zum Beispiel nehmen wir mal den Begriff Schnitt, das heißt sozusagen Collage, Montage. Da wird dann erzählt anhand eines Gedichts von Guillaume Apollineires "Zone", "Die Zone", wie verschiedene Wahrnehmungen zusammenstoßen, wie die Reizüberflutung der Großstadt mit der Antike kombiniert wird. Dazu wird erzählt, dass Picasso damals erstmals eine Zeitung in ein Bild montierte, und von da geht es eben weiter. Jakob van Hoddis schreibt sein berühmtes Gedicht "Weltende", 1911 schon, aber veröffentlicht ist es eben erst 1912. Heinrich Mann fängt an, den "Untertan" zu schreiben, was schön korrespondiert mit dem grassierenden Übermenschentum von Nietzsche zu dieser Zeit. Also man versucht, da irgendwelche Verbindungen herzustellen, die man von uns aus gesehen nicht so unbedingt im Kopf hat. Was geschah da gleichzeitig eigentlich, das ist das Entscheidende.
Müller-Ullrich: Wie ist das dargestellt? Das ist ja ein Museum.
Gampert: Ja, wir sind im Museum und wir sind in Marbach, das immer eine sehr karge Ästhetik favorisiert. Man versucht schon, so was Sinnästhetisches reinzubringen. Man versucht, von Düften und Klängen zu erzählen. Man hat ein ganzes Kapitel, das heißt "Wucherung". Da steht im Vordergrund die "Kleine Aster" von Gottfried Benn, und das finde ich auch ganz eindrücklich, wie klein das angefangen hat.
Müller-Ullrich: Auch ein Werk aus 1912, dieses Gedicht.
Gampert: Genau! Dr. Med. Benn wurde promoviert im Jahre 1912. "Kleine Aster", erschienen im Gedichtband "Morgue" in Berlin-Wilmersdorf, März 1912, Auflage 500 Stück. Das sieht man da in der Originalausgabe. Und da sieht man eben, dass diese "Kleine Aster" – das ist ja ein freches kaltes Gedicht von einer Sektion -, das ist so die blaue Blume der beginnenden morosen Moderne, also die ersetzt die blaue Blume der Romantik, und ganz toll ist halt, dass sie dann das Klingelschild von Dr. Med. Benn danebenlegt, und dann sieht man halt: Die Ärzte spielen Anfang des Jahrhunderts als Literaten eben doch eine große Rolle. Dr. Benn, der Schnitzler, Dr. Doeblin, das sind halt die Heroen der beginnenden Moderne.
Museumstechnisch klappt es dann nicht ganz so gut, diese Synästhesien zu übersetzen in eine Ausstellungstechnologie. Es ist eben dann doch nur Papier, was gezeigt wird.
Müller-Ullrich: Na klar! - Vielen Dank, Christian Gampert, für diesen Einblick in die neue Ausstellung des LiMo, des Literaturmuseums der Moderne, im Deutschen Literaturarchiv zu Marbach am Neckar. "1912 – ein Jahr im Archiv", so lautet der Titel.
Christian Gampert: Ja! Die Ausstellung heißt "Ein Jahr im Archiv", was eigentlich ja darauf hindeutet, dass sie ein Jahr sich angekettet haben in ihren Papierkellern. Es ist aber natürlich ganz anders gemeint. Das Jahr 1912 soll als Epochenschwelle dargestellt werden, als Epochenschwelle zur Moderne, und das hat wiederum den Grund darin, dass der Romanist Hans Robert Jauß …
Müller-Ullrich: …, von dem dieser Begriff, glaube ich, stammt!
Gampert: Genau! Der hat den erfunden. - … eine neue Ästhetik gesehen hat: die Ästhetik der Simultanität, der Reizüberflutung, die erstmals eben im Jahre 1912 angeblich zutage kam. Ich denke, man hätte auch das Jahr 1913 oder _14 nehmen können, aber sei es drum: wir sind im Jahr 1912 und so kommt das ganz richtig. Und die Marbacher haben eben nun tatsächlich ein Jahr in ihrem Archiv gewühlt und eben nicht mit dem historischen Wissen, das wir heute haben, rückwärts geschaut, sondern einfach einen Querschnitt gelegt und geschaut, was finden wir denn, wenn wir dieses Jahr 1912 ganz ernst nehmen, was geschah denn da gleichzeitig. Und was einem natürlich sofort einfällt, ist: Untergang der Titanic, und das heißt im übertragenen Sinne natürlich auch Untergang des Bürgertums letztendlich – der Erste Weltkrieg steht vor der Tür. Andererseits eben neue literarische Verfahren, und die werden nun vorgeführt in dieser Ausstellung.
Müller-Ullrich: Welche herausragenden Werke kann man mit dem Jahr 1912 assoziieren?
Gampert: Die Ausstellung erzählt folgendermaßen: Sie nehmen immer ein sogenanntes Leitobjekt, und anhand dieses Objekts wird dann so eine ganze Ästhetik erklärt. Zum Beispiel nehmen wir mal den Begriff Schnitt, das heißt sozusagen Collage, Montage. Da wird dann erzählt anhand eines Gedichts von Guillaume Apollineires "Zone", "Die Zone", wie verschiedene Wahrnehmungen zusammenstoßen, wie die Reizüberflutung der Großstadt mit der Antike kombiniert wird. Dazu wird erzählt, dass Picasso damals erstmals eine Zeitung in ein Bild montierte, und von da geht es eben weiter. Jakob van Hoddis schreibt sein berühmtes Gedicht "Weltende", 1911 schon, aber veröffentlicht ist es eben erst 1912. Heinrich Mann fängt an, den "Untertan" zu schreiben, was schön korrespondiert mit dem grassierenden Übermenschentum von Nietzsche zu dieser Zeit. Also man versucht, da irgendwelche Verbindungen herzustellen, die man von uns aus gesehen nicht so unbedingt im Kopf hat. Was geschah da gleichzeitig eigentlich, das ist das Entscheidende.
Müller-Ullrich: Wie ist das dargestellt? Das ist ja ein Museum.
Gampert: Ja, wir sind im Museum und wir sind in Marbach, das immer eine sehr karge Ästhetik favorisiert. Man versucht schon, so was Sinnästhetisches reinzubringen. Man versucht, von Düften und Klängen zu erzählen. Man hat ein ganzes Kapitel, das heißt "Wucherung". Da steht im Vordergrund die "Kleine Aster" von Gottfried Benn, und das finde ich auch ganz eindrücklich, wie klein das angefangen hat.
Müller-Ullrich: Auch ein Werk aus 1912, dieses Gedicht.
Gampert: Genau! Dr. Med. Benn wurde promoviert im Jahre 1912. "Kleine Aster", erschienen im Gedichtband "Morgue" in Berlin-Wilmersdorf, März 1912, Auflage 500 Stück. Das sieht man da in der Originalausgabe. Und da sieht man eben, dass diese "Kleine Aster" – das ist ja ein freches kaltes Gedicht von einer Sektion -, das ist so die blaue Blume der beginnenden morosen Moderne, also die ersetzt die blaue Blume der Romantik, und ganz toll ist halt, dass sie dann das Klingelschild von Dr. Med. Benn danebenlegt, und dann sieht man halt: Die Ärzte spielen Anfang des Jahrhunderts als Literaten eben doch eine große Rolle. Dr. Benn, der Schnitzler, Dr. Doeblin, das sind halt die Heroen der beginnenden Moderne.
Museumstechnisch klappt es dann nicht ganz so gut, diese Synästhesien zu übersetzen in eine Ausstellungstechnologie. Es ist eben dann doch nur Papier, was gezeigt wird.
Müller-Ullrich: Na klar! - Vielen Dank, Christian Gampert, für diesen Einblick in die neue Ausstellung des LiMo, des Literaturmuseums der Moderne, im Deutschen Literaturarchiv zu Marbach am Neckar. "1912 – ein Jahr im Archiv", so lautet der Titel.