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Von bösen Mächten
Was von Dämonen übrig blieb

Die Evangelien berichten, dass Männer und Frauen zu Jesus kamen, die von bösen Geistern besessen waren. Heute würde man sagen: Sie waren psychisch krank und brauchten medizinische Hilfe. Doch die Vorstellung, dass Satan aus Menschen ausgetrieben werden muss, lebt weiter - mit gefährlichen Folgen.

Von Thomas Daun | 19.08.2020
Eine Darstellung des Dämons Asmodeus in der Kathedrale von Rennes-le-Chateau in Frankreich.
Der Glaube an Dämonen und ihre Austreibung hält an (imago stock&people)
Eine höhnisch grinsende Affenfratze auf dem Körper eines Schweins mit den ledernen Flügeln einer Fledermaus; ein schuppiger Drache mit scharfen Krallen, Teufelshörnern und den verzerrten Gesichtszügen eines Geizhalses; ein verkrüppelter menschlicher Körper, auf dem ein hässlicher Ziegenkopf sitzt, Riesenohren und lange, spitze Zunge. Als steinerne Wasserspeier an der Außenwand, als Schnitzerei im Chorgestühl, in Gemälden und als Skulpturen – in jeder gotischen Kathedrale finden sich solche Darstellungen: Sie sollten in alten Zeiten Dämonen und Hexenwesen aus dem Umkreis der Kirche fernhalten.
"Es gibt brutal Böses in der Welt. Dass ich mir das dann als Person vorstelle oder wie auch immer in Bildern, das ist urmenschlich. Aber ich glaube, wir müssen nachfragen: Was ist der Sinn von diesen Bildern und aufgrund welcher Erfahrungen werden sie so formuliert, werden sie so gezeichnet, werden sie so in Stein gehauen", sagt Florian Schuller.
Die Angst, dass böse Mächte vom Menschen Besitz ergreifen und seine Seele verderben könnten, war im christlichen Glauben des Mittelalters tief verwurzelt – und wirkt auch heute noch nach.
Florian Schuller: "Das hängt dann sicher ganz stark damit zusammen, wie weit kann ich ein Handeln von Menschen erklären oder nicht. Wenn ich es nicht erklären kann und es völlig abartig ist, dann komme ich zu diesem Gedanken: Das sind irgendwie böse Kräfte, die in ihm wirken oder böse Elemente oder böse Wesen."
Diese Zierinitiale als Deckfarbenmalerei mit Gold zeigt eine Teufelsaustreibung, aufgenommen in Stralsund in einer Handschrift mit dem Titel Liber ordinarius (= Regelungen für liturgische Handlungen) aus dem 15. Jahrhundert
Diese Zierinitiale als Deckfarbenmalerei mit Gold zeigt eine Teufelsaustreibung, aufgenommen in Stralsund in einer Handschrift mit dem Titel Liber ordinarius (= Regelungen für liturgische Handlungen) aus dem 15. Jahrhundert (picture alliance / ZB / Stefan Sauer)
Florian Schuller ist seit mehr als 45 Jahren Priester und leitete lange Zeit die Katholische Akademie in Bayern. Dämonenaustreibungen sieht er skeptisch.
"Und da ist die Frage: Kann ich dann ehrlich davon sprechen, dass solche bösen Kräfte geheilt werden, wie es früher häufig mit Dämonenaustreibungen geschehen ist? Auch bei uns und wie es jetzt auch noch in anderen Kulturen so geschieht?"
Papst Franziskus hält Exorzisten für unverzichtbar
"Der neuzeitliche Mensch, der Mensch der Aufklärung, der versteht sich als das einzige selbstbestimmte, frei handelnde Wesen und will nicht anerkennen, dass da auch andere Wesen sind, andere Mächte, die sein Handeln beeinflussen."
Sagt der katholische Theologe Thomas Ruster. Doch auch manche "neuzeitliche Menschen" glauben an die Macht des bösen Zaubers und der Hexerei. Es genügt ein kurzer Blick ins Internet: Wer Begriffe wie "Dämonenaustreibung" oder "Exorzismus" in die Suchmaschine eingibt, findet schockierende Videos: zuckende, um sich schlagende Menschen, die knurrende und fauchende Laute von sich geben oder laut brüllen, das Gesicht zur geifernden Fratze verzerrt. Daneben ein oder mehrere Helfer, die mit Kreuz, Weihwasser, Öl und frommen Sprüchen hantieren, um den bösen Geist zu vertreiben.
Nicht nur in Sekten spielt der Exorzismus eine Rolle. In Italien suchen schätzungsweise eine halbe Million Menschen jährlich die Hilfe eines Teufelsaustreibers. Die katholische Kirche in Polen gründete 2019 in Kattowitz ein Ausbildungszentrum für Exorzisten. Papst Franziskus bezeichnet den Einsatz von Exorzisten als unverzichtbar. 2014 erkannte er die "Internationale Vereinigung der Exorzisten" an; noch im Frühjahr 2019 erklärte er, die Missbrauchsfälle durch Priester an Minderjährigen seien nur durch die Einflüsterungen Satans möglich gewesen.
Der Direktor der Katholischen Akademie in Bayern, Florian Schuller, aufgenommen am Donnerstag (10.05.2012) in München
Florian Schuller blickt kritisch auf Exorzismen (Picture Alliance / dpa / Tobias Hase)
Wenn der Teufel, wie Franziskus sagte, die Hand der Täter führte, wo bleibt dann die persönliche Schuld des Einzelnen und die Verantwortung der Vorgesetzten? Florian Schuller:
"Es stimmt natürlich, dass das missbraucht werden kann, dass ich in eine falsche Konsequenz komme, nämlich: dann ist der Mensch ja nicht schuldig, sondern dann haben das andere Kräfte getan. Es ist so, dass die Rede vom Bösen Entschuldigung für den Menschen sein kann."
"Der Glaube an Dämonen ist weit verbreitet"
Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie haben in den letzten Jahrzehnten immense Fortschritte gemacht. Medikamente helfen psychisch Kranken dabei, mit ihrem Leiden zu leben. Neurobiologie und Hirnforschung entschlüsseln rätselhafte Krankheiten. In früheren Zeiten stand man solchen Phänomenen ratlos gegenüber – und vermutete Dämonen und böse Geister als Verursacher.
Thomas Ruster: "Man findet in allen alten Religionen, auch in den vorchristlichen, dieses Dämonische. Davon reden die indischen, davon reden die iranischen, die ägyptischen, die syrischen, die griechischen Religionen auf ihre Weise, aber immer ist das gleiche Phänomen gemeint: dass da etwas Mächtiges ist, was sich eines Menschen bemächtigen kann."
Claudia Währisch-Oblau leitet die Abteilung Evangelisation der "Vereinten Evangelischen Mission". Sie hat jahrelang in China gelebt und ist heute noch häufig zu Gast in den Mitgliedskirchen in Afrika und Indonesien.
"Der Glaube an Dämonen, an Flüche, an Hexerei ist ganz, ganz weit verbreitet unter den normalen Gläubigen. Faktisch ist das so, dass also immer mehr Kirchenleute uns berichten: Es gibt diese Probleme und was können wir eigentlich tun?"
"Wir müssen etwas gegen Hexenjagden tun"
In der evangelischen Theologie kommen Hexen und Dämonen nicht vor. Aberglaube wird bekämpft mit Aufklärung durch Predigt und Bildungsarbeit.
Was jedoch, wenn evangelische Gläubige – etwa in Afrika – zu ihrem Priester kommen, um von einem Dämon befreit zu werden? In der VEM, der Vereinten Evangelischen Mission, wird darüber häufig diskutiert.
"Wir hatten eine Vollversammlung und da stand ein Kirchenpräsident auf aus Kamerun und sagte: Liebe Leute, wir haben in unserer Kirche ein Problem. Wir haben in unserem Land immer mehr Pfingstkirchen, die den Menschen anbieten, Dämonen auszutreiben, sie von Flüchen und Hexerei zu befreien. In meiner Kirche, wir sind protestantisch reformiert, sagen wir, das ist alles Aberglaube. Wenn Leute mit diesen Problemen zu uns kommen, sagen wir – ach das müsst ihr gar nicht glauben, da müsst ihr keine Angst vor haben. Dann sagen die Leute: eure Kirche versteht nichts davon und gehen zum traditionellen Priester oder zur Pfingstkirche."
Eine Frau wird von zwei Männern festgehalten und weint - Bilder einer Teufelsaustreibung im Januar 2014 in Addis Abeba, Äthiopien.
Teufelsaustreibungen sind in weiten Teilen der Welt Teil des Volksglaubens (Picture Alliance / CTK / David Tesinsky)
Die Mitgliedskirchen der VEM verständigten sich schließlich auf pastorale Richtlinien für die Befreiung von Dämonen: Der Pfarrer wird bei seiner Tätigkeit von einer Gebetsgruppe und einigen Laien unterstützt. Die Liturgie ist ganz auf die Bibel und das Gebet ausgerichtet. Ärzte, Psychiater und Psychotherapeuten werden im Vorfeld einbezogen. Doch nicht wenige evangelische Theologen stehen Dämonenaustreibungen in der Seelsorgearbeit kritisch bis ablehnend gegenüber – und meldeten Zweifel am Sinn dieser Richtlinien an. Claudia Währisch-Oblau verteidigt die Regelung. Man müsse abwägen, sagt sie:
"Wir wissen, es gibt von Tansania bis Indonesien Hexenjagden, bei denen Menschen ums Leben kommen, Menschen umgebracht werden, auch von Christen aus unseren Kirchen. Und dagegen müssen wir was tun. Wir nehmen das ernst, was die Leute glauben, ohne uns zu fragen: Welche Onthologie steckt dahinter? Gibt es Dämonen? Sind das innerpsychische Wirklichkeiten, intrapsychisch? Das ist uns letztlich egal. Aber wir wissen, es ist eine Wirklichkeit, wir wissen, es ist ein Problem."
Die Wirklichkeit von Besessenheit ist eine Normfrage
"In unserer Kultur gibt es Menschen, die sind psychisch krank. Wir sehen sie aber nicht als besessen an. Wir versuchen, sie zu heilen mit psychischen Interventionen und Medikamenten und was es alles gibt. In einer Kultur, in der der Besessenheitsdiskurs ganz prägend ist, werden solche Menschen wahrscheinlich auch als Besessene wahrgenommen", sagt Christian Strecker.
Er ist Theologie-Dozent an der Augustana-Hochschule in Neuendettelsau und hat sich in seiner Habilitationsschrift mit dem Thema Exorzismus in der Antike beschäftigt – einer Zeit, als der Glaube an Dämonen selbstverständlich war. Er sagt: "Wenn Menschen in einer Gesellschaft leben, in der anerkannt ist, das ist ganz wichtig: in der anerkannt ist, dass es Besessenheit gibt, und wenn man in dieser Gesellschaft weiß, wie Besessenheit aussieht, dann kann eine Wirklichkeit entstehen, nämlich die Wirklichkeit der Besessenheit. Das wird dann wirklich auch erfahrbar für die Menschen."
Jesus spricht ein Machtwort
Im Neuen Testament wird das "Böse" häufig erwähnt. Noch bevor Jesus zum ersten Mal öffentlich in Erscheinung tritt, muss er in der Wüste der Versuchung durch den Satan widerstehen. Später wird an vielen Stellen erzählt, wie er Menschen heilte, die angeblich von Dämonen besessen waren. So berichtet das Markus-Evangelium vom Besuch Jesu in der Synagoge von Karfanaum.
"Alsbald war dort ein Mensch, besessen von einem unreinen Geist; der schrie: Was haben wir mit dir zu schaffen, Jesus von Nazareth? Bist du gekommen, uns zu vernichten? Ich weiß, wer du bist: der Heilige Gottes! Und Jesus bedrohte ihn und sprach: Verstumme und fahre aus von ihm! Und der unreine Geist riss ihn hin und her und schrie laut und fuhr aus von ihm!"
Claudia Währisch-Oblau: "Wenn Sie sich die Dämonen-Austreibungs-Geschichten im Neuen Testament angucken: das sind keine tage-, nächtelangen Sitzungen. Das ist in der Regel ein Machtwort, dann ist es gut."
Der Theologe Thomas Ruster
Der Theologe Thomas Ruster (privat)
Der katholische Theologe Thomas Ruster erklärt:
"Das ist also besonders; auch in der antiken Religionswelt, wo es auch schon Exorzismen gegeben hat – aber die waren immer mit bestimmten Ritualen verbunden, die vorgeschrieben waren. Während Jesus einfach sagt: fahr aus – oder er spricht ihn einfach an, und ohne große Machtanwendung gelingt es ihm, die Geister in Frieden scheiden zu lassen."
In manchen Kulturen geht man heute ähnlich selbstverständlich mit Menschen um, die glauben, besessen zu sein. Claudia Währisch-Oblau erinnert sich an eine Begebenheit in einem Jugendcamp der evangelischen Kirche von Sri Lanka.
"Mitten in einem Seminar fällt plötzlich ein junges Mädchen vom Stuhl, fängt an zu zucken, sich zu winden, Schaum vorm Mund. Meine Interpretation wäre: epileptischer Anfall, wir brauchen einen Krankenwagen. Der Pfarrer, der neben mir saß sagte: 'Das ist ein Dämon, Claudia, den treiben wir jetzt aus' – und legte dem jungen Mädchen die Hand auf die Schulter und sagte: 'Lass uns beten!' – ich war da ein bisschen überrumpelt und habe mit ihm gebetet. Innerhalb von 20 Sekunden hat sich dieses Mädchen beruhigt, stand wieder auf, als wäre nichts gewesen. Und der Kollege sagte: 'Gut, der Dämon ist weg.'"
"Krieg gegen den Dämon"
"Heilt Kranke, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus!"
Die Aufforderung, die Jesus im Matthäus-Evangelium an seine Jünger richtet, ist eindeutig. Die christliche Urkirche folgte diesem Auftrag, entwickelte kurze Beschwörungsformeln und Gebete, mit denen man Besessene zu heilen hoffte.
Aber was Jesus mit ein paar klaren Worten erledigte, wurde im Laufe der Jahrhunderte zu einem komplizierten Regelwerk. Nach dem Konzil von Trient wurde der "Große Exorzismus" 1614 im "Rituale Romanum" verbindlich festgelegt.
Thomas Ruster: "Im Wesentlichen war das Ritual so gestaltet, dass die bösen Geister im Namen Jesu des Mächtigen, des Himmelsfürsten, dessen der zur Rechten Gottes sitzt, beschworen oder ultimativ aufgefordert, den Körper des Besessenen zu verlassen; ein sehr dramatisches Ritual, wo der Exorzist den Geist direkt ansprach und ihn aufforderte, der größeren Macht zu weichen und sich geschlagen zu geben und den Kranken freizugeben."
Filmstill aus "Der Exorzist" von 1973. Der Priester steht vor dem Bett des besessenen Mädchens, das in der Luft schwebt.
Der Film "Der Exorzist" prägt die heutige Vorstellung von Teufelsaustreibungen (imago-images)
Konversionstherapie und Dämonenaustreibung
Auch in manchen evangelikalen Gemeinden in Deutschland gibt es heute noch Dämonenaustreibungen; etwa, um Homosexuelle von ihrer vermeintlichen Krankheit zu heilen.
Diese Rituale werden nicht nur vor den Gläubigen in der Kirche durchgeführt, sondern auch in den Räumen von Arztpraxen. Christian Deker, junger Journalist des NDR, erlebte das am eigenen Leibe. Er begab sich "undercover" in Behandlung bei einem Arzt, der zugleich evangelikaler Prediger ist.
Deker erzählt: "Dann hat er mir seine Hand auf die Stirn gelegt und auf die Brust gelegt und gesagt: geh mal auf Empfang und hat dann angefangen zu beten für mich; und hat bei diesem Gespräch auch in Zungensprache gebetet, was unter Pfingstlern und Evangelikalen verbreitet ist, und hat aus einem kleinen Fläschchen Öl genommen und hat mir das auf die Stirn gemacht und gebetet und gebetet. Und irgendwann hat er gesagt, ob ich was gemerkt hätte. Dann hab ich gesagt, ich hätte nichts gemerkt. Ich hatte auch tatsächlich nichts gemerkt. Dann hat er gesagt, dass eine Wolke aus meinem Körper herausgekommen sei, ob ich das nicht gemerkt hätte. Und dann hat er gesagt, dass mindestens ein Geist meinen Körper verlassen habe. Und er hat dann gesagt, er versiegele nun sämtliche Eintrittsstellen und spreche mich frei von der Vergangenheit."
Homosexuelle und Kirchen - Konversionstherapien sollen verboten werden
Die sexuelle Identität eines Menschen ändern – das versprechen Konversionstherapien. Sie sollen nun verboten werden. Einige Theologen jubeln, andere warnen.
Der vermeintlich böse Geist ließ sich wenig beeindrucken von dem Spektakel; Christian Deker blieb schwul. Voraussichtlich 2021 tritt das "Gesetz zum Schutz vor Konversionsbehandlungen" in Kraft, das Therapien verbietet, die versuchen, die sexuelle Orientierung von Menschen zu ändern. Längst ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass dies beim Betroffenen zu schweren gesundheitlichen Schäden, zu Trauma oder Depression führen kann.
Der Journalist Christian Deker ist bei seinen Recherchen einem strenggläubigen jungen Mann begegnet, der sich von der "Sünde Homosexualität" befreien wollte und den selben evangelikalen Arzt aufsuchte.
"Bei dem ist offensichtlich ein schwarzer Stachel aus dem Rücken rausgewachsen, der dann auf den Boden gekrochen ist und weggekrochen ist in die Ecke des Raumes. Dieser junge Mann hat sich mit dem gleichen Begehren an den Arzt gewendet – mit dem Unterschied, dass er kein Undercover-Journalist war sondern dass er wirklich darunter gelitten hat, dass er homosexuell ist und sein großes Ziel war, vermeintlich bibelkonform zu leben und ein heterosexuelles Leben zu leben."
Aus Gebet wird Gewalt
"Das finden wir leider leider zunehmend in christlich-fundamentalistischen Kreisen, es nimmt wieder zu; die Vorstellung von tief religiösen Familien, dass ein Familienmitglied vom Dämon besessen ist, der sich irgendwie merkwürdig benimmt und dass das dann keine medizinische oder psychotherapeutische Hilfe braucht, sondern eine religiöse Antwort verlangt."
Aus Gebet wird nicht selten Gewalt – sagt Psychotherapeutin Michaela Huber, die mit Opfern von Exorzismusritualen zu tun hat.
"Die meisten zu exorzierenden sind Mädchen und Frauen; die meisten Exorzisten sind Männer. Dabei finden leider häufig enorm stressreiche Ereignisse statt – ich sage das mal vorsichtig –, die dazu führen können, dass Menschen tief traumatisiert werden können. Diese Ereignisse können zum Beispiel sein, dass sie enorm psychisch unter Druck gesetzt werden, das Gefühl haben, der Teufel ist in mir, ich habe etwas zutiefst Schreckliches, Böses in mir, das macht eine große Not bei den Betroffenen – und dass sie daraufhin sich überantworten und man mit ihnen machen kann, was man will. Man flößt ihnen irgendetwas ein, was heilsam sein soll. Man peitscht sie mit irgendwelchen Kräuterpeitschen, man macht sie nackt. Es gibt alle möglichen - auch körperlichen - Übergriffe auf diese Personen und es kann nicht selten auch zu sexualisierter Gewalt kommen."
"Eine Wirklichkeit, mit der man rechnen muss"
Florian Schuller sagt: "Es gibt natürlich brutalste Erfahrungen, wie so etwas missbraucht werden kann und wie Menschen auch durch solche Handlungen zu Tode kommen. Da sind wir beim Thema religiöser Macht. Ich kann Macht ausüben über andere Menschen, dass ich damit andere Menschen zerstören kann."
Sexueller Missbrauch, seelische Grausamkeit, körperliche Gewalt bis hin zum Totschlag – die Geschichte des Exorzismus hat viele dunkle Seiten. Psychisch labile Menschen, die in einem streng religiösen Umfeld aufwachsen, werden leicht zu willfährigen Opfern von dogmatischen Predigern, sadistischen Gewalttätern oder windigen Geschäftemachern – auch heute, im 21. Jahrhundert noch.
Sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche haben deshalb Richtlinien zum Umgang mit Menschen entworfen, die sich für besessen halten. Dabei arbeiten Psychiater, Mediziner und Theologen Hand in Hand. Michaela Huber wurde von einem Priester gebeten, eine Frau zu untersuchen, die sich besessen glaubte und ihn um einen Exorzismus gebeten hatte.
"Es hat sich dann diagnostisch herausgestellt, dass diese Frau schwerste Gewalterfahrungen hinter sich hat, dass sie sozusagen Stimmen der quälenden Menschen in sich aufgenommen hatte, die immer wieder sie bedrängten: 'Du bist nichts wert, du bist böse, du Schlampe' – und so weiter."
Traumabehandlung und Gebet schließen sich heute nicht mehr aus, wenn es darum geht, Menschen zu heilen, die sich besessen glauben. Claudia Währisch-Oblau sagt:
"So ein Gebet kann ja auch Platz haben in einer Psychotherapie. Wir versuchen, ein ganzheitliches Modell zu entwickeln, wo dieser spirituelle Aspekt mit drin ist, um Menschen tatsächlich zu helfen, frei zu werden von Trauma und diesen bösen Wirklichkeiten, die für sie eine Realität sind. Ich persönlich glaube nicht an Dämonen. Ich glaube aber, wenn Menschen an Dämonen glauben, ist das eine Wirklichkeit, mit der man rechnen muss."