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Von den Mustern der Welt

Wer Michael Cunninghams letzten Roman "The Hours" - "Die Stunden" kennt oder zumindest den gleichnamigen Oscar-preisgekrönten Film mit Nicole Kidman als Virginia Woolf, wird überrascht sein von "Helle Tage", dem neuen Roman des sympathischen Amerikaners. Ausgesprochen düster und bizarr kommt das Buch daher.

Von Annette Brüggemann | 06.06.2006
    " Meine Romane werden wie die Welt einfach immer komplizierter. Ich glaube, dass die Vorstellung des 19. Jahrhunderts, eine Geschichte über eine Figur reiche aus, nicht mehr tragfähig ist. Die Welt ist einfach zu groß. Allein drei Geschichten zu erzählen, war schon schwierig. Doch der Roman, über den ich momentan nachdenke wird elf oder zwölf Geschichten beinhalten, die alle miteinander verknüpft sind. Es ist mein Anliegen, die ungeheure Größe der Welt, in der wir leben, zu reflektieren."

    Wer Michael Cunninghams letzten Roman "The Hours" - "Die Stunden" kennt oder zumindest den gleichnamigen Oscar-preisgekrönten Film mit Nicole Kidman als Virginia Woolf, wird überrascht sein von "Helle Tage", dem neuen Roman des sympathischen Amerikaners. Ausgesprochen düster und bizarr kommt das Buch daher. Gleichzeitig verfolgt Cunningham eine altbewährte Masche: die Anrufung eines berühmten, literarischen Vorbilds. In diesem Fall kein Geringerer als der große Visionär des 19. Jahrhunderts: Walt Whitman.

    " Für mich ist er die Seele des Romans. Er ist die Stimme einer Hoffnung, eines Optimismus, der das Schlimmste zu überleben vermag. Walt Whitman trat auf in Amerika, in New York City, als die Stadt ein stinkender Moloch war, dunkel, widerlich und dreckig mit Scheiße und toten Tieren auf der Straße. Whitman war meines Erachtens der erste große Künstler, der sich seine Umgebung ansah - das ist um so ergreifender, bedenkt man wie hässlich alles war - und sagte: Ich finde das alles wundervoll. Ich finde das alles beachtlich. Er schrieb nicht nur über Helden und Könige. Er schrieb über Prostituierte und Kriminelle und verlangte von ihnen keine Herzen aus Gold. Er brachte alles und jeden dieser Welt ans Tageslicht. Und je mehr ich über dieses sehr düstere Buch nachdachte, was ich schreiben wollte, um so mehr schien es mir, es müsse beseelt werden von einem wirbelnden Derwisch wie Whitman."

    Dieses Kunststück ist Michael Cunningham, trotz Masche, gelungen. Whitman spukt neben zahlreichen Zitaten aus "Grashalme" - den hymnischen Versen, an denen er ein Leben lang schrieb - als Joker durch den Roman. Durch alle drei Kapitel von "Helle Tage", die auf subtile Weise miteinander verwoben sind. Cunningham schreckt nicht zurück vor einem Genreclash, erzählt eine im 19. Jahrhundert situierte Geistergeschichte, eine Kriminalgeschichte der Jetztzeit und einen Science-Fiction. Und immer ist es die Stadt New York, die - in all ihrer Ambivalenz emphatisch beschrieben - zur weitläufigen Bühne für seine Charaktere wird.

    Lucas ist der Protagonist des ersten Kapitels, ein 12-jähriger, missgebildeter Junge, der seinen älteren Bruder verloren hat. Seine kranken Eltern muss er mit harter Fabrikarbeit ernähren. Whitmans Gedichte sind seine Bibel, sein Leben. Und dann geschieht es: Verzweifelt auf der Suche nach Geld begegnet er dem weißbärtigen Dichter auf dem Broadway, dessen einfachen Rat er beherzt befolgt. Dorthin zu gehen - wie könnte es anders sein - wo das Gras wächst. Im Norden der Stadt erreicht Lucas den Central Park.

    Bald darauf kam er zu einer steinernen Balustrade mit einer breiten geschwungenen Treppe, die zu beiden Seiten nach unten führte. Er ging die Stufen hinab. Und dort, mitten auf einem dunklen Platz, stand eine riesige Gestalt. (...) Im nächsten Augenblick begriff er, dass es eine Statue war, nur eine Statue. Er trat näher. Es war ein steinerner Engel, der auf einem Piedestal über einer mächtigen steinernen Schale voll Wasser stand. Er sah, dass der Engel streng und nachdenklich war, dass er leere und bekümmerte Augen hatte, dass er sich vom Himmel abgewandt hatte und auf die Erde schaute. Er blickte auf. Dort, hinter dem Arm des Engels, waren die Sterne. Er hatte das Herz des Parks erreicht und was der Engel bewachte - was er ihm zeigen wollte, weshalb Walt ihn losgeschickt hatte -, waren Sterne. Dann begriff er, dass hier, so weitab von der eigentlichen Stadt, der Rauch verflogen war und die Sterne sichtbar waren. Er verlor beinah das Gleichgewicht, als er aufblickte. Die Sterne funkelten strahlend und unstet auf einem Feld aus Ebenholz. Es waren Tausende.
    (Michael Cunningham: Helle Tage, München: Luchterhand 2005, S. 93/4)

    Der Originaltitel von "Helle Tage" - "Specimen Days" ist selbst ein Zitat von Whitman, erzählt Cunningham:

    ""Specimen Days" ist eine Serie von Tagebucheinträgen, die er über die Jahre machte, über den Bürgerkrieg und dessen Folgen. Wie ich den Titel verstehe und warum ich ihn mir angeeignet habe, ist die Behauptung, dass jeder Tag eine Art von Muster, eine Art von Repräsentation aller Tage überall ist. Und das ist ziemlich genau das, worüber Virginia Woolf in "Mrs. Dalloway" geschrieben hat. Dass du versuchen kannst, das Leben auf der Erde global, über Jahrhunderte hinweg zu betrachten. Auch indem du einen einzigen Tag in dem Leben einer einzigen Person nimmst, ganz nah. Und wenn du nah genug hinschaust, wirst du erkennen, dass sich das menschliche Leben an irgendeinem Tag in irgendeinem Leben so einschreibt wie der Entwurf eines ganzen Organismus sich auf jedem einzelnen Strang seiner DNA einschreibt. Wir alle sind Muster."

    Die Philosophie des Romans ist geprägt von dem Gedanken universeller Muster und menschlicher Elementarteilchen, die durch Zeit und Raum reisen. So begegnen sich die Charaktere immer wieder in unterschiedlichen Verkleidungen in allen drei Teilen des Romans. Da wird der Junge Luke zum Kinderterroristen und fliegt am Ende als Hans im Glück mit einem Raumschiff davon. Lukes Bruder, der im ersten Teil von einer Maschine verschlungen wird und stirbt, wird zu einer Art Niemand und schließlich zum Cyborg, der seine Menschlichkeit entdeckt. Catherine, Näherin und Prostituierte des Anfangskapitels, mutiert zur taffen Kriminalpsychologin und zur Echsenfrau von einem anderen Stern. Und auch Whitmans Verse entwickeln von Kapitel zu Kapitel wechselnden Zündstoff: vom Pamphlet für Selbstmordattentäter bis hin zur friedlichen Zukunftsmission.

    " Große Dichtung hat wie jedes Kunstwerk eine enorme Kraft. Und alles, was mächtig ist, egal ob es ein Gedicht, eine Symphonie oder die Spaltung eines Atoms ist, kann für unterschiedlichste Zwecke genutzt werden. Wenn Dichtung nur dazu da ist, schön zu sein und zu trösten in einer einsamen Stunde, sage ich: Zur Hölle damit. Das ist nicht genug. Hitler liebte Wagner. Für mich ist mein Buch auf eine komische Weise ein Testament an Walt Whitman. Dass seine Dichtung so gewaltig ist und so voller Doppeldeutigkeiten, dass es für diverse Zwecke einsetzbar ist, auch für den verdrehten Zweck eines Terroristen."

    So lautet einer der Whitman'schen Leitsprüche von "Helle Tage": "Ich bin weiträumig, enthalte Vielheit". Nicht ein stilistisches "Show Off" steht im Vordergrund von Cunninghams Schreiben, sondern die Entfaltung des Möglichen. Dieses inklusive Verfahren, in dem Welten aufeinanderprallen, schließt ein, dass Sentimentalitäten sich mit einem kruden Humor die Waage halten. Und das, was finster war, zum Schluss taghell verraucht. Cunninghams Roman ist nicht nur eine Hommage an Whitman und New York - es ist eine Hommage an die Fülle menschlichen Lebens.

    " Der letzte Teil, die Science-Fiction-Geschichte, spielt in einer sehr düsteren Zukunft, aber erfährt eine Art ekstatisches Ende. Bei dem eine Figur Vergebung und Erlösung findet, eine andere findet Menschlichkeit und die dritte kommt, literarisch gesehen, in den Himmel."