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Von den Radarschirmen verschwunden

27. September 1994, 19.15 Uhr. Das Fährschiff Estonia verlässt seinen Heimathafen Tallinn mit Ziel Stockholm. Dort soll die Fähre am kommenden Morgen um 9:30 Uhr ankommen. Die See ist, wie so oft zu dieser Jahreszeit stürmisch, die Wassertemperatur der Ostseee beträgt 13 Grad. Kurz nach Mitternacht beginnen die Probleme. Einer der diensthabenden Offiziere entdeckt auf einem Kontrollmonitor, dass im Bereich des Bugvisiers Wasser eintritt. Er geht zunächst davon aus, dass es sich nur um Gischt und Regen handelt und lässt die Pumpen einschalten. Minuten später ist jedoch schon so viel Wasser im Schiff, dass diese keine Chance mehr haben. Die finnische Küstenwache empfängt einen Notruf der Estonia.

Von Kay Müllges |
    Es war 1:22 Uhr am frühen Morgen des 28. September 1994, als der Funker des Fährschiffs Estonia diesen Funkspruch absetzte. Kurze Zeit später verschwand das Schiff von den Radarschirmen. Eine Stunde danach erreichten die ersten Rettungsschiffe den Unglücksort, doch sie konnten aus der in jener stürmischen Nacht aufgewühlten Ostsee nur noch 137 Menschen lebend bergen. 853 weitere Passagiere und Besatzungsmitglieder der Estonia fanden ihr Grab auf dem Grunde der Ostsee. Es wurde die größte Schifffahrtskatastrophe seit dem 2. Weltkrieg.

    Schon einen Tag nach der Katastrophe setzten Schweden, Finnland und Estland eine Untersuchungskommission ein, die die Unfallursache aufklären sollte. Diese Kommission bestand aus jeweils drei Delegierten der Länder und diversen technischen Beratern.

    Doch schon bald kam es in der Kommission zum Streit. Ihr Vorsitzender, der estnische Transportminister Andi Meister, trat von seinem Amt zurück, weil er die schwedische Seite beschuldigte, wichtiges Beweismaterial zurückzuhalten. Sein Nachfolger, der estnische Kapitän und Havariesachverständige Uno Laur, erklärte bei der Vorlage des Abschlussberichtes der Kommission, mehr als drei Jahre nach dem Untergang der Estonia, dennoch unverdrossen:

    The joint-commission believes that the final report will put an end to different speculations about the causes of the accident.

    Doch diese Hoffnung, dass der Abschlussbericht alle Spekulationen über die wahren Ursachen des Unfalls beenden würde, erwies sich als frommer Wunsch. Ein fehlerhaftes Scharnier in der Bugklappe des Fährschiffes sei die Hauptursache des Unglücks gewesen und habe dazu geführt, dass die Estonia mit Wasser voll gelaufen sei - so die Hauptthese des Berichtes. Damit lag der schwarze Peter bei dem Konstrukteur der Fähre, der Meyer-Werft im niedersächsischen Papenburg. Doch die wehrte sich natürlich und legte eigene Gutachten vor, wonach Wartungs- und Bedienungsfehler der Mannschaft die Katastrophe verursacht hätten. Und natürlich blieb es nicht bei gegenseitigen Schuldzuweisungen.

    Die Mafia habe das Schiff versenkt, lautete eine der schnell aufkommenden Verschwörungstheorien. Die Russen hätten es torpediert, verbreitete ein anderes Gerücht, weil auf der Estonia geheimes militärisches Material transportiert worden sei, dass der amerikanische Geheimdienst in seinen Besitz gebracht habe. Für jede auch noch so abenteuerliche Theorie ließen sich im Laufe der Jahre einige Indizien finden.

    Aber eben auch nicht mehr. Bis heute ist die Unglücksursache nicht restlos aufgeklärt und es steht auch nicht zu erwarten, dass dies jemals geschehen wird. Alles andere als glücklich war auch der Umgang mit den Gefühlen der Angehörigen der Opfer, die der Este Nikolai Kazakov, dessen Frau bei dem Unglück ertrank, so beschrieb:

    Das Schiff muss gehoben und die Opfer müssen begraben werden - ganz gleich auf welcher Seite, ob auf der schwedischen oder der estnischen, aber die Angehörigen sollen die Möglichkeit haben, zu diesem Platz zu gehen, wir müssen wissen, dass die Opfer dort bestattet sind.

    Doch daraus wurde nichts, denn eine Bergung des Schiffes wäre technisch ungeheuer schwierig gewesen und hätte zudem enorme Kosten verursacht. Dann erwog man, dass Wrack auf dem Grunde der Ostsee ein zu betonieren, ein Vorschlag, der auf einhelligen Widerstand der Angehörigen stieß. Schließlich verfiel man auf die Idee, die mehr als 800 Toten einzeln durch Taucher bergen zu lassen, doch auch dies erwies sich als nicht realisierbar. Inzwischen wurde die Unglücksstelle zur Grabstätte erklärt und an der schwedischen Küste ein Denkmal errichtet. Dorthin pilgern auch heute wieder die Angehörigen und gedenken ihrer Toten.