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Von den Unterschieden zwischen Mann und Frau

Pierre Bourdieus Buch "Die männliche Herrschaft" löste Ende der neunziger Jahre in Frankreich heftige Debatten aus. Feministinnen warfen ihm vor, er argumentiere einseitig und vernachlässige die Publikationen der Gender Studies. Vor allem, so der Einwand, zeige Bourdieu keinerlei Perspektive auf, um die männliche Herrschaft zu überwinden. Leider konnte der Autor nicht maßgeblich die Diskussionen beeinflussen, da er bereits im Januar 2002 verstarb.

Von Klaus Englert | 05.09.2005
    Pierre Bourdieu schrieb zweifellos ein wichtiges Buch. Aber es ist schwer vorstellbar, dass die Publikation hierzulande eine ähnliche Resonanz wie in Frankreich hervorruft. Denn Bourdieu galt den Franzosen nicht als irgendein Wissenschaftler. Er war eine öffentliche Person par excellence. Bereits Ende der fünfziger Jahre engagierte er sich für die algerische Unabhängigkeit, später beteiligte er sich an der Gründung des Internationalen Schriftstellerparlaments, er unterstützte die Globalisierungskritiker und sozialen Bewegungen, er brandmarkte in einem Vortragszyklus, den Paris Première ausstrahlte, das Fernsehen als eine "Gefahr für Demokratie und politisches Leben", und schließlich schreckte er nicht davor zurück, sich mit Hans Tietmeyer, dem Präsidenten der Bundesbank, anzulegen. In Le Monde schrieb er:

    "Gegen ein Europa der Banken, gegen ein Europa der Bundesbank, gegen ein Europa des Hans Tietmeyer. Es bleibt kein anderes Mittel als alle progressiven Kräfte für die schleunigste Schaffung eines europäischen welfare state zu mobilisieren" (Le Monde, 26.01.02)."

    Und nun gibt sich Pierre Bourdieu sogar als Theoretiker des Feminismus zu erkennen. In Die männliche Herrschaft träumt er von einer starken feministischen Bewegung - einer Bewegung, die sich einreiht in die Avantgarde der fortschrittlichen Kräfte. Das klingt zunächst wie überschwenglicher Voluntarismus. Aber Bourdieu ist zu sehr pragmatischer Wissenschaftler, um auf die Verlockungen eines revolutionären Jargons hereinzufallen. So geht er schon im ersten Kapitel auf seine früheren Feldforschungen in der kabylischen Berbergesellschaft ein. Ernüchternd ist seine Erkenntnis, dass die symbolische Gewalt im postkolonialen Algerien ähnlich verhängnisvoll ist wie in den vermeintlich aufgeklärten westlichen Zivilisationen. Sicherlich wirken Bourdieus Vergleiche an vielen Stellen überzogen. Und man kommt nicht an der Erkenntnis vorbei, dass seinem Vorgehen einige Schwachstellen anhaften. Geht er doch davon aus, die statischen, islamischen Völker im Norden Afrikas umstandslos mit einer dynamischen Gesellschaft vergleichen zu können, deren Geschichte durch Aufklärung, 68-Bewegung, Feminismus, Schwulen- und Lesbenbewegung geprägt ist. Würde man Bourdieu auf diesen fragwürdigen Vergleich aufmerksam machen, antwortete er sicherlich: Mich interessieren nicht die unterschiedlichen sozialen Entwürfe, vielmehr die "Invarianten", die sich in den Köpfen der Handelnden festsetzen. Jenes Unbewußte, das für die strikte Geschlechtertrennung in den Berbervölkern und in den westlichen Gesellschaften verantwortlich ist.

    Deswegen nennt Pierre Bourdieu sein Vorgehen "objektive Archäologie unseres Unbewussten" (S. 10). Ihr geht es um das Enthüllen von Machtmechanismen, die selbst an entlegendsten Orten Ähnlichkeiten aufweisen. Bourdieu versteht diese stillschweigenden Unterwerfungen als symbolische Gewalt:

    "Es ist jene sanfte, für ihre Opfer unmerkliche, unsichtbare Gewalt, die im wesentlichen über die rein symbolischen Wege der Kommunikation und des Erkennens, oder genauer des Verkennens, des Anerkennens oder, äußerstenfalls, des Gefühls ausgeübt wird (S. 8)."

    Die symbolische Gewalt findet Bourdieu in den Grundformen männlicher Herrschaft und weiblicher Zustimmung wieder. Sie manifestiert sich in einem System geschlechtlicher Unterschiede, die der französische Soziologe zu Konstanten menschlicher Verhaltensweisen erklärt. Was bedeutet es aber, wenn Bourdieu von Invarianz spricht? Findet man sie ebenso in den Sprach- und Verhaltenscodes der Kabylen und in denen westlicher Gesellschaften? Anders gefragt: Ist das konstante Schema, das Bourdieu für die Ausprägung männlicher Herrschaft verantwortlich macht, wirklich überall auffindbar? Als ein Schema, das dem Mann das Hohe, das Oben, das Gerade, das Trockene, das Harte, das Helle und das Öffentliche zuweist? Und entsprechend der Frau das Tiefe, das Unten, das Krumme, das Feuchte, das Weiche, das Dunkle und das Private? Es hat den Anschein, dass Pierre Bourdieu von einer traditionellen wissenschaftlichen Prämisse ausgeht: Er möchte zunächst eine idealtypische Geschlechterkonstellation aufzeigen. Diese ins Extreme verformte Konstellation männlicher Herrschaft und weiblicher Unterwerfung findet Bourdieu bei den algerischen Berbern, während er in den westlichen Gesellschaften die Entwicklung subtilerer Herrschaftsformen entdeckt. Diese Prämisse, die Annahme einer universellen Ausformung der geschlechtsspezifischen Gegensätze, lässt Bourdieu an eine Allmacht der Struktur glauben. Deswegen kostet es ihm einige argumentative Verrenkungen, den Gegenbewegungen den ihnen gebührenden Platz einzuräumen.

    Die Stärke von Bourdieus Buch liegt woanders: Was gemeinhin als natürliche Unterschiede ausgegeben wird, entlarvt der Pariser Soziologe als gesellschaftlich konstruiert. Diese Unterschiede haben sich derart verfestigt, derart im Denken und Handeln, derart im Körper der Individuen eingegraben, dass es kaum ein Entrinnen gibt. In der Kabylei gehorchen die weiblichen Verhaltensweisen erstarrten Codes. Sie werden nicht angezweifelt, denn beide Geschlechter betrachten sie als natürliche Gegebenheit:

    "In der Kabylei muss die Frau, die sich von den öffentlichen Orten fernhält, gewissermaßen darauf verzichten, von ihrem Blick und ihrer Sprache Gebrauch zu machen. In der Öffentlichkeit bewegt sie sich nur mit zu Boden gesenktem Blick. Und das einzige Wort, das sich für sie schickt, ist "ich weiß nicht", die Antithese zur Sprache des Mannes, der entschiedenen, bündigen und zugleich überlegten, gemessenen Rede."

    Pierre Bourdieu erzählt den Ursprungsmythos der Kabylen. Er berichtet vom ersten Mann und der ersten Frau, von ihrer Begegnung an einem Brunnen und dem darauffolgenden Geschlechtsverkehr, bei dem die erfahrene Frau den unkundigen Mann in den Liebespraktiken unterweist. Bis zu diesem Zeitpunkt herrschte noch eine "verkehrte" Welt vor, da die Frau die obere Position beanspruchte. Das sollte sich aber schnell ändern:

    "Eines Tages sagte der Mann zur Frau: 'Ich möchte dir auch etwas zeigen; ich weiß auch etwas. Leg dich hin und ich leg mich auf dich.' Die Frau legte sich auf den Boden, und der Mann legte sich auf sie. – Er empfand dasselbe Vergnügen und sagte zur Frau: 'Am Brunnen bist du es [die das Sagen hat], im Haus bin ich es.' Im Kopf des Mannes sind es immer die letzten Worte, die zählen, und seither lieben es die Männer, auf die Frauen zu steigen. So kam es, dass sie die Ersten wurden und dass sie regieren müssen."

    So oder ähnlich, meint Pierre Bourdieu, habe sich die männliche Herrschaft in allen Gesellschaften entwickelt. Ihr Gefüge ist deswegen so unerschütterlich, weil sie sich niemals rechtfertigen muss. Wird sie dennoch angegriffen, dann gilt dies als Verstoß gegen die Naturordnung. Gegen eine Ordnung, die biologische Geschlechtsunterschiede und gesellschaftlich sanktionierte Geschlechtsteilung zusammenschweißt. "Willkürliche Konstruktion des Biologischen" (S. 44) nennt dies Bourdieu. Dass diese Konstruktion von den Beteiligten, von den Herrschenden und den Beherrschten, nicht durchschaut wird, liegt für Bourdieu an einem Verblendungszusammenhang. Um diesen fatalen Zusammenhang für alle durchschaubar zu machen, verlangt er eine "historische Archäologie des Unbewussten" (S. 97). Historisierung des mythischen Verblendungszusammenhangs lautet Bourdieus Devise. Erst wenn erkannt wird, dass auch diese Herrschaft ihren Ursprung hat, dass die geschlechtsspezifischen Verhaltensweisen zu Instrumenten männlicher Herrschaftssicherung geworden sind – erst dann ist wirklicher Wandel möglich.

    An manchen Stellen liest man erstaunt, dass Bourdieu an diesen Wandel tatsächlich zu glauben scheint:

    "Die von der feministischen Bewegung geforderte symbolische Revolution kann sich nicht auf eine bloße Umkehrung des Bewußtseins und des Willens beschränken. Das Fundament der symbolischen Gewalt liegt ja nicht in einem mystifizierten Bewußtsein, das es aufzuklären gälte, sondern in Dispositionen, die an Herrschaftsstrukturen angepasst sind. Infolgedessen kann man eine Aufkündigung des Einverständnisses der Opfer der symbolischen Gewalt mit den Herrschenden allein von einer radikalen Umgestaltung der gesellschaftlichen Produktionsbedingungen jener Dispositionen erwarten."

    Pierre Bourdieu: Die männliche Herrschaft (aus dem Französischen von Jürgen Bolder), Suhrkamp, 211 S., 19,90Euro.