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Von den Wirren des Kriegsendes

Im Zentrum des neuen Romans von Jochen Missfeldt steht die Geschichte zweier Marinesoldaten, die einfach nach Hause gehen wollten, als der Krieg im Mai 1945 zu Ende war. Sie sind gegangen, sie wurden gefangen und noch am 10. Mai 1945, also zwei Tage nach der Kapitulation, in der Geltinger Bucht hingerichtet.

Von Detlef Grumbach | 23.05.2005
    "Die Klammer der Geschichte liegt glaube ich in der Kindheit, die sowohl den Erzähler mit der Person Hörgebars verbindet wie auch die beiden Kriegsmarinesoldaten, die 1945 hingerichtet werden. "

    Im Zentrum des neuen Romans von Jochen Missfeldt steht die Geschichte zweier Marinesoldaten, die einfach nach Hause gehen wollten, als der Krieg im Mai 1945 zu Ende war. Sie sind gegangen, sie wurden gefangen und noch am 10. Mai 1945, also zwei Tage nach der Kapitulation, in der Geltinger Bucht hingerichtet. Doch erzählt der Autor auch, wie die Kriegsmarine in eben dieser Geltinger Bucht ganz im Nordosten Schleswig-Holsteins eine ganze Flotte versenkt hat, damit sie nicht den Siegermächten in die Hände fällt; von Admiral Dönitz, der ein paar Tage von dort oben das Deutsche Reich regierte, vom Kommandeur, der für die Hinrichtung verantwortlich ist und doch ein ehrenwerter Mann, ein Christ und kein Faschist ist. Und schließlich vom alten Hörgebar, dem Leiter eines Kinderheims, in dem die beiden Soldaten einst eine wunderbar unbeschwerte Zeit verbracht hatten und der sein Leben lang eine Mappe mit Erinnerungen an ihr Schicksal mit sich trägt. Kunstvoll verbunden wird dieses vielschichtige Geflecht durch den Erzähler, der als Kind bei Kriegsende gerade 4 Jahre alt war. An der Hand Hörgebars beobachtet dieses Kind – Jochen Missfeldts alter ego Gustav Hasse – von der Steilküste aus das seltsame Schauspiel an der Bucht. Eine Flotte geht unter, ein Soldat springt in den Tod. Begreifen kann das Kind dies alles natürlich nicht. Aber als Erwachsener kehrt Hasse immer wieder dort hin zurück, bis zu dessen Tod auch oft mit dem mittlerweile steinalten Hörgebar.

    "Was mir wichtig war, dass ich mich selbst als Autor oder als der Erzähler mich mit in dieses historische Geschehen einbringen konnte. Der Erzähler, der dieses "See- und Nachtstück" dem Leser präsentiert, das ist auch derjenige, der in dem historischen Ge-schehen auf irgendeine Art und Weise drinsteckt, in dem er über Personen verbunden ist oder über Hinterlassenschaften des einen Protagonisten Hörgebar oder wie auch immer. Mir war wichtig, dass der Erzähler, hinter dem natürlich der Autor steckt, sich mit dem Geschehen, das er aufdeckt, aufrollt, erzählt, identifiziert. "

    Ausgangspunkt dieses ungewöhnlichen, realitätsgesättigten und poetisch dichten, beinahe märchenhaft verzauberten Romans sind historisch verbürgte Ereignisse. Der Roman ist drei hingerichteten Soldaten gewidmet. Missfeld, der 1941 geboren wurde, als Fliegeroffizier bei der Luftwaffe den legendären "Starfighter" geflogen hat und nach seiner Militärlaufbahn jetzt den dritten Roman vorlegt, hat die Vorgänge genau recherchiert. Er hat Archive besucht, Prozessakten studiert, mit Zeitzeugen gesprochen und auch das Tagebuch des einen der beiden Soldaten ausgewertet. Alles Voraussetzungen für einen historischen Roman, doch aus dieser Tradition bricht der Autor bewusst aus. Er verdichtet den Stoff um dieses noch heute unglaubliche und skandalöse Todesurteil zu einem mit einem Bein in der Romantik stehenden "See- und Nachtstück". Der Eisvogel, griechischer Mythos und Realität in dieser Landschaft zugleich, schafft geheime Verbindungen zwischen den Figuren, ein Geisterschiff taucht immer wieder auf, von einem guten König ist die Rede, vom Meer, das lebt, von der Jakobsleiter, auf der die beiden Hingerichteten vom Meeresgrund aufsteigen in den Himmel.

    "Das kommt natürlich aus, na ja. "Fliegender Holländer", "Klabautermann" und so weiter, Seefahrermythos, aber das gehört schon da rein. Jakobsleiter, das ist ja ein Stück Material, das notwendig ist in der Seefahrt, um auf ein Schiff zu kommen. Das Ding hängt an der Bordwand und da klettert man an der Bordwand hoch. Aber von der Jakobsleiter ist auch in der Bibel die Rede. "

    "Hier sind wir, vergesst uns nicht." Eine einsame Nacht in der Zelle auf einem Schiff, eine Nacht der Hoffnung und Verzweiflung, des Unglaubens darüber, das dieses kurze und schöne Leben jetzt vorbei sein soll. Jetzt, wo der Krieg doch vorbei ist! Die beiden Jungen – sie waren 19, 20 Jahre alt – hatten "den Lebenswillen verabschiedet", wie es heißt, "und Signale aufsteigen lassen, die keines Menschen Auge je gesehen und keines Menschen Ohr je gehört haben." Dieses "Vergesst uns nicht!" – "So kommt die Erinnerung vom Festland ins Meer", schreibt der Autor, "und das Meer mischt sie mit den Stimmen vom Geisterschiff, das der Eisvogel unter einem magermilchblauen Himmel dahinsteuert, und alles geschieht, wenn man wie ich da oben steht und es bedenkt, Wort für Wort." Die Erinnerung der Menschen – auch sechzig Jahre nach den Ereignissen – hat versagt. Sie hat verdrängt oder ist einfach nur andere Wege gegangen. Wie der Erzähler, der sich als Kind einmal verlaufen hat und den geheimnisvoll verschlungen Weg nach Hause als gerade Betonpiste erinnert hat und dies heute immer noch tut, obwohl er es besser weiß. Dagegen setzt Missfeldt diesen großartigen und erschütternden Roman, geht er die verschlungenen Wege. Dagegen lässt er die Landschaft sprechen, lässt er die Natur mit ihren Mythen zum Träger der Erinnerung werden, der ganzen Wahrheit und kann so das Vermächtnis der sinnlos gestorbenen Soldaten erfüllen:

    "Die Mythen sind sehr nah an der Landschaft dran, sie sind ohne die Landschaft gar nicht zu verstehen. Ich habe das in meinen beiden ersten Romanen – "Solsbüll" und im "Gespiegelten Himmel" auch schon so erlebt. Für mich ist das im Blick auf das Buch "Steilküste" – da sind diese Schrecknisse und diese furchtbaren Dinge, die am Ende des Krieges 1945 passieren, nur so zu ertragen, indem man sie einbettet in ein Geschehen oder in eine Welt, die zu tun hat mit Natur. Mir selber als Autor war es gar nicht anders möglich, dieses Geschehen zu ertragen. Nur dadurch, dass ich diese anderen Dinge auch mit wahrnah, konnte ich einen Ausdruck für das finden, was einen heute im Grunde nur noch fassungslos macht. "

    "Steilküste"
    Von Jochen Missfeldt
    (Rowohlt Verlag, Reinbek)