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Von der Alchemie der Sprache

Schon als 16-jähriger verkehrte der Moskauer Gymnasiast Roman Jakobson in den Kreisen der russischen Avantgarde. Eine Dichterkarriere strebte Roman Jakobson nicht an – ihn lockte die Alchimie der Sprache. Die vorliegende Ausgabe präsentiert Aufsätze aus einem halben Jahrhundert wissenschaftlicher Beschäftigung mit der Dichtkunst, die zu Meilensteinen der linguistischen Forschung geworden sind.

Brigitte van Kann |
    Ausgerechnet die Koch-Kolumne des "Südkurier" aus Konstanz am Bodensee erinnerte vor einiger Zeit an einen der Schrittmacher der modernen Linguistik: Unter der Überschrift "Mit Jakobson zum Koch-Poeten" ging es in einem rasanten Bogen vom Rezept einer (überaus köstlichen!) Fenchelsuppe zu Roman Jakobsons Satz, in der poetischen Sprache verlagere sich das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination.

    Wer neugierig geworden war und bei Jakobson nachlesen wollte, wurde enttäuscht – der Band "Poetik" mit ausgewählten Aufsätzen von 1921-1971 war vergriffen. Nun hat der Suhrkamp Verlag ihn wieder aufgelegt und nicht nur angehende Koch-Poeten dürften davon profitieren.

    Schade nur, dass der Verlag Elmar Holensteins einführenden Aufsatz von 1979, dem Jahr der Erstveröffentlichung der Sammlung, unverändert abgedruckt hat. Als wäre die Welt im vergangenen Vierteljahrhundert stehen geblieben und als ließen sich nicht auf ganz neuen Gebieten Funken aus Jakobsons Gedanken schlagen. Holenstein streift Biologie und Mode, auf Architektur geht er genauer ein – doch auch hier vermisst man die Auffrischung. Aktualität und kreative Anwendung könnte jungen Lesern die schwierige theoretische Kost schmackhafter machen.

    Ob Koch-Poetik oder Küchenpoesie – der Sprachwissenschaftler Roman Jakobson hätte sich über die Ausdehnung seines Wirkungsfelds gefreut. Berührungsängste waren ihm fremd, aus Dialekten und folkloristischen Erzeugnissen destillierte der Forscher seine Erkenntnisse ebenso wie aus Gedichten klassischer Autoren. Dass besonders poetische Äußerungen einen Blick freigeben in das Räderwerk der Sprache, in das, was sie im Innersten zusammenhält, ist die erste und vielleicht bahnbrechendste Einsicht des jungen Jakobson gewesen. Schon als 16-17jähriger Moskauer Gymnasiast verkehrte er in den Kreisen der russischen Avantgarde. Er war befreundet mit Majakovskij und Chlebnikov, mit Malevič und Matjušin und versuchte sich selbst an futuristischen Lautgedichten. Doch eine Dichterkarriere strebte Roman Jakobson nicht an – ihn lockte die Alchemie der Sprache.

    Dass sie nicht nur Dichtung und Malerei, sondern auch Kunst und Wissenschaft miteinander vernetzte, gehört zu den vergessenen Leistungen der russischen Avantgarde. An den Gedichten der Futuristen schliffen die Vertreter der Formalen Schule ihr analytisches Werkzeug. Einem Dichter wie Chlebnikov, der aus Wortwurzeln Elemente einer neuen Sprache schuf und dabei zu den verborgenen Goldadern der russischen Sprache vorstieß, war mit dem herkömmlichen literaturwissenschaftlichen Instrumentarium nicht mehr beizukommen – die Poesie der Avantgarde provozierte eine neue Wissenschaft. Es war der "Beginn einer Wissenschaft der Dichtkunst", so der Titel eines Aufsatzes auf diesem Band.

    Einer ihrer inspiriertesten Vertreter wurde Roman Jakobson. Mit 18 Jahren wählte man ihn 1915 zum Vorsitzenden des neu gegründeten Moskauer Linguistischen Kreises, der Keimzelle, wenn man so will, des später weltberühmten Prager Linguistischen Zirkels. In Prag arbeitete Jakobson in den 20er und 30er Jahren und forschte vor allem auf dem Gebiet der Phonologie, das heißt, der Lautlehre, und der Poetik. Dass der in Prag entwickelte Strukturalismus weit über sein Entstehungsfeld, die Linguistik, hinauswirken konnte, ist insbesondere das Verdienst Roman Jakobsons.

    Seiner Prägung durch die Moskauer Avantgarde und seinem wissenschaftlichen Temperament nach war er und blieb er Universalist. Lange bevor der Begriff überhaupt erfunden wurde, arbeitete er bereits interdisziplinär. Eine seiner bekanntesten Arbeiten vergleicht zerebral bedingte Sprachstörungen und Kindersprache.

    Dass die große Liebe dieses vielseitigen Philologen der Literatur galt, macht die vorliegende Auswahl deutlich. Sie präsentiert Aufsätze aus einem halben Jahrhundert wissenschaftlicher Beschäftigung mit der Dichtkunst, die zu Meilensteinen der linguistischen Forschung geworden sind. Es ist eine russische Liebe, die den polyglotten Wissenschaftler auch nach vier Jahrzehnten in den Vereinigten Staaten nicht verlassen hat. Trotz einiger Ausflüge ins Tschechische, Englische, sogar ins Chinesische und die Sprache der Bibel – Jakobsons Koordinatensystem bilden die russische Literatur und die russische Sprache. Nicht von ungefähr wünschte er sich für seinen Grabstein in Cambridge, Massachusetts, die Inschrift: Russkij Filolog – russischer Philologe.