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Von der Angebotsfläche zur interaktiven Öffentlichkeit

Stefan Münker beschäftigt sich in seinem soeben erschienenen Buch "Emergenz digitaler Öffentlichkeiten" mit dem Web 2.0 - der Form des Internets also, die von seinen Nutzern produziert und gestaltet wird.

Von Heidi Schumacher | 12.04.2010
    "Sozial" heißen seit Längerem Medien, in denen sich die Mediennutzer selbst abbilden, sich untereinander verständigen und die Inhalte des Mediums von sich aus gestalten. "Social Media" hat man sie in den USA getauft, weil sie gegenüber "Old Media" wie Film, Fernsehen und Radio Gebrauchsformen ermöglichen, die den einst passiven Empfängern erlauben, die Medieninhalte selbst herzustellen.

    Stefan Münker, der seit seiner Untersuchung zum "Mythos Internet" ein aufmerksamer Beobachter der Neuen Medien ist, stellt in seinem neuen Buch "Emergenz digitaler Öffentlichkeiten" den Übergang zwischen den Formen dar: Old Media entstanden als sogenannte Massenmedien, die zentral senden und im Broadcasting, in der breiten Streuung also, eine große Menge diffuser Zuschauer oder Hörer erreichen.

    Kino, Radio und Fernsehen, sie alle basieren damit auf dem Prinzip eines zentralen Senders, der seine Botschaften an eine Masse von Empfängern übermittelt. Sie operieren undirektional, will heißen in eine Richtung, und die Empfänger können weder unmittelbar in die Botschaft eingreifen noch an der Gestaltung partizipieren. Lediglich eine Reaktion im Nachhinein in Form von Leser- oder Hörerbriefen, Anrufen, Faxen, E-Mails ist möglich.

    Das Internet hingegen funktioniert dezentral und erlaubt interaktive, individuelle Nutzungsformen, die aber gleichzeitig auch als Foren, als Orte sozialen Austauschs dienen können. So stehen ganze Portale wie YouTube, Myvideo, Facebook, StudiVZ oder Blogs buchstäblich offen und werden allein von den Usern gestaltet.

    Die Medien standen schon immer im Fokus von Theorien, die um den Zusammenhang von Medienmacht und Öffentlichkeit kreisten. Münker zeigt, warum gerade "Old Media" im Zentrum der Medienkritik stand. Hatten Bertolt Brecht und Hans Magnus Enzensberger, der eine in den 20er-, der andere in den 70er-jahren, der eine im Hinblick auf das Radio, Enzensberger mit Blick auf das Fernsehen, die Zeit für gekommen gesehen, die Medien denen politisch zu überantworten, die sie nutzten, so übte in den 80er-jahren Jean Baudrillard Kritik an diesen Vorstellungen: Die Massenmedien könnten schon aus sich heraus gar nicht emanzipatorisch wirken, denn: "Es kann keine Antwort gegeben werden." Gerade die Unidirektionalität mache sie untauglich für reziproke Kommunikation und echte Demokratie.

    Mit dem Aufkommen des Internets in der Mitte der 90er-Jahre knüpften sich dann aufgrund der interaktiven Möglichkeiten wieder emanzipatorische Hoffnungen an das neue Medium. Münker verweist hier auf die frühen Utopien, die man in den USA mit der Existenz des Internets verband. Der "kalifornische(n) Ideologie" des Technoliberalismus, einem Amalgam von Hippie-Philosophie und Silicon Valley, entsprang das Manifest von John Perry Barlow, Songtexter der Rockgruppe Greatful Dead. Er sah im Netz ein unkontrollierbares, non-konformistisches Medium, das zur "neuen Heimat des Geistes" entwickelt werden und ganz im Dienste seiner Nutzer stehen sollte. Sein Appell an die Mächtigen formuliert die Utopie:

    Der Cyberspace liegt nicht innerhalb Eurer Hoheitsgebiete. Glaubt nicht, Ihr könntet ihn gestalten, als wäre er ein öffentliches Projekt. Wir erschaffen eine Welt, in der jeder einzelne an jedem Ort seine oder ihre Überzeugungen ausdrücken darf, wie individuell sie auch sind, ohne Angst davor im Schweigen der Konformität aufgehen zu müssen. Eure Rechtsvorstellungen von Eigentum, Redefreiheit, Persönlichkeit, Freizügigkeit und Kontext treffen auf uns nicht zu.

    Die Hoffnungen von Künstlern und politischen Netzaktivisten auf ein anarchisch-kreatives Feld haben sich jedoch kaum realisiert. Das Netz ist zwar nach wie vor schwierig zu kontrollieren, dennoch durchsetzt von ökonomischen und politischen Interessen: Barack Obama gewann seinen Wahlkampf nicht zuletzt durch seine Internetkampagne und das erhoffte kreative Experimentierfeld, das sich die frühen enthusiastischen Nutzer aus San Francisco vorgestellt hatten, ist zu messen an dem, was sich derzeit in der privaten Gestaltung des Web 2.0 Bahn bricht. Münker spricht hier von einem "ungehemmt banale(n) Exhibitionismus", den Millionen von Homemade-Videos und Blog-Einträge bezeugen.

    Was ist aber dann das Innovative und mit welchen sozialen Effekten des Web 2.0 ist zu rechnen? Das Netz wandelte sich Mitte der 90er-Jahre von einer Angebotsfläche zu einer Anwendungsumgebung. Diese Anwendungen expandieren mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit. Als Beispiel nennt Münker die Netzenzyklopädie Wikipedia:

    Wikipedia hält nach eigenen Angaben im Mai 2009 über 13 Millionen Artikel in 264 Sprachen bereit; allein die deutsche Ausgabe bietet mit über 900.000 Artikeln dreimal so viele Lemmata wie der aktuelle Brockhaus.

    Das Erfolgsprinzip von Wikipedia ist einfach: Jeder Leser kann Artikel nutzen, bearbeiten und neue Artikel anlegen. Jeder Artikel wird von Diskussionsseiten begleitet, auf denen oft heftig gestritten wird. Aber obwohl Wikipedia selber ausdrücklich davor warnt, als Quelle in wissenschaftlichen Kontexten verwendet zu werden, wird das Internet insgesamt für immer mehr Nutzer zur primären Informationsquelle. Hier weist Münker auf einen entscheidenden epistemologischen Punkt hin: Der Erfolg von Wikipedia zeigt, dass die durch Experten generierten Wissensbestände wie die klassischen Enzyklopädien nicht mehr das primäre Referenzobjekt der Information sind:

    Wenn der durch die veränderte Mediennutzung angeregte Trend stabil bleibt, dann stellen wir unsere Wissensfragen in Zukunft eben zunehmend weniger, wenn überhaupt, an die enzyklopädischen Elitemedien der Buchdruckkultur, sondern überantworten sie vielmehr der Schwarmintelligenz der digitalen Netzkultur und ihrer Effekte. Unser Begriff des Wissens aber ist dann nicht länger durch den Bezug auf eine relativ kleine Klasse von ausgewiesenen Experten geprägt, der Blick auf die wikibasierte Wissensproduktion dekonstruiert gewissermaßen im Rückspiegel unseren expertenbasierten Wissensbegriff als Ideologie von Eliten.

    Und wie sind die neuen Vergesellschaftungsformen des Netzes politisch zu bewerten? Der Autor spricht beim Web 2.0 im Unterschied zum traditionellen Öffentlichkeitsbegriff, wie ihn seinerzeit Jürgen Habermas formulierte, nur von Öffentlichkeiten. Der Plural verweist darauf, dass es statt einer öffentlichen Sphäre gegenüber dem Privaten im Netz verschiedene Foren und Vergemeinschaftungsformen entstehen und darüber hinaus Öffentliches und Privates auch vermischen. Ein entscheidender Punkt ist hier die Geschwindigkeit, mit der Öffentlichkeiten erreicht werden können.

    Wie Obamas Internetkampagne zeigt, affirmiert das Web 2.0 dabei bestehende politische Strukturen, kann aber andererseits in repressiven Gesellschaften - wie im Zusammenhang mit den Wahlen im Iran geschehen - kritische Informationen auch in Windeseile verbreiten und Regimegegner in die Lage versetzen, sich zu vernetzen. Aber die Netzöffentlichkeit hat ihre Grenzen an der nicht-virtuellen Welt: Die webbasierte Kollaboration im Iran – so Münker - schafft in der Nische des Netzes demokratische Kommunikationsverhältnisse, das Land demokratisiere sie nicht.

    Kritisch zu beleuchten ist Münkers Verständnis des Medienaprioris, das er als technische Kategorie missversteht. Das Zusammenfallen aller möglichen Medienangebote, die über Bildschirme und verschiedene portable Displays verbreitet werden, der ubiquitäre Zugang zu Wissen, Unterhaltung, sozialer Gemeinschaft unabhängig von raumzeitlichen Bedingungen: Diese Internet-Effekte für Öffentlichkeit werden nicht thematisiert. Hier liegt eine Schwäche des Buches.

    Seine Stärke liegt jedoch in der Beschreibung einer neuen Medienlandschaft, die es bei aller Kritik positiv einschätzt. So sieht sein Autor auch in der Flüchtigkeit der Web 2.0-Kommunikationsformen keinen Nachteil, sondern eine durchaus neue Qualität: Amerikanische Soziologen behaupten, dass schwache soziale Bindungen den starken (wie zur Familie oder Freunden) nicht nur ebenbürtig sondern in bestimmten Aspekten überlegen sind. Auf der Basis schwacher Bindungen werden soziale Distanzen rascher überwunden, über schwache Bindungen setzen sich neue und ungewöhnliche Ideen schneller durch als etwa in der Familie oder unter Freunden, also in Gruppen, in denen wirklich neue Informationen kaum noch fließen. Die Flüchtigkeit der Kontakte im Web 2.0 hält Gemeinschaften aufgrund der offenen Struktur auch eher zusammen als es intensive Bindungen können, die zu einer Abschließung nach außen tendieren.

    Eine der flüchtigsten Arten im Web 2.0 Botschaften zu übermitteln ist die SMS-Variante des Web 2.0, das Mikroblogging des Portals Twitter, zu deutsch Zwitschern, die schriftliche Informationen von einer maximalen Länge von 140 Zeichen erlaubt und der Verbreitung kurzer und kürzester Informationen dient, und – wie Wikipedia die gedruckten Enzyklopädien relativiert - so kratzt Twitter an den Fundamenten traditioneller Nachrichtenübermittlung:

    Im Januar 2009 machte Twitter Schlagzeilen, als der amerikanische Mikroblogger Jim Hanrahan die spektakuläre Notlandung des US Airways Fluges 1549 auf dem Hudson River in New York mit seinem iPhone erst dokumentierte und dann das Foto sogleich über sein Twitterprofil verbreitete – kein journalistisches Medium kann mit solcher Geschwindigkeit Schritt halten.

    Schnell, flüchtig und oberflächlich einerseits, in anderen Teilen wie in den Experten-Blogs oder in vielen Wikipedia-Artikeln wiederum reich an Information: Das Netz bietet unterschiedliche Kanäle an, aber zu haben sind sie nur über das Netz.

    Wenn man mit Umberto Eco zwischen Apokalyptikern und Integrierten unterscheidet, also zwischen denen, die in der Populärkultur das Ende aller Kultur sehen und denen, die das Neue an ihr begrüßen, so ist Stefan Münker bei aller Kritik am Web 2.0 ein "Integrierter": Er sieht im Internet und seiner sozialen Ausprägung eine Medienrevolution vergleichbar der Erfindung des Buchdrucks oder der Einführung der Elektrizität.

    Stefan Münker: "Emergenz digitaler Öffentlichkeiten. Die sozialen Medien im Web 2.0". Suhrkamp 2009 (edition unseld 26): 144 S., 10 Euro