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Von der Epo-Epoche zur Aicar-Ära?

Die 100. Tour de France wird in einer Woche gestartet. Dass sie von einem komplett sauberen Peloton bestritten wird, dürften nur Träumer glauben. Behaupten werden es nur Personen, deren Einkommen von der Illusion eines garantiert sauberen Radsports abhängt. Nicht unterschlagen sollte man aber, dass sich das Kontrollnetz signifikant verbessert hat. Eine Reise in ein Land der Widersprüche.

Von Tom Mustroph | 22.06.2013
    Die Lage ist durchwachsen. Zwar ist das Dopingkontrollnetz in den letzten Jahren enger geworden. Gleichzeitig aber liefert der medizinische Fortschritt neue Anreize zum Betrug. Zuerst zum positiven Teil der Bilanz. Mario Thevis, Dopinganalytiker am Kölner Dopingkontrolllabor:

    "Zum einen sind die Nachweisverfahren in der Tat noch weiter verbessert worden. Das heißt, wir können jetzt auch kleinere Mengen noch besser nachweisen, als es vor einigen Jahren der Fall gewesen ist. Zum anderen kommt es immer wieder auch auf den Zeitpunkt der Kontrolle an. Wenn der gut gewählt ist, dann haben wir auch deutlich mehr Chancen, in den Urinproben fündig zu werden."

    Thevis’ Labor spürte zum Beispiel die Epo-Präparate auf, von denen die Giro d’Italia-Teilnehmer Danilo di Luca und Mauro Santambrogio erwartet hatten, dass sie nicht entdeckbar seien.

    Das sind ermunternde Zeichen. Es gibt aber auch beunruhigende. Seit zwei, drei Jahren tauchen im Peloton verstärkt Fahrer auf, die immer dünner werden und trotzdem immer kraftvoller in die Pedale treten können. Dieses Paradox lässt sich zumindest theoretisch mit der Wirkungsweise der fettverbrennenden Muskeloptimierer Aicar und GW1516 erklären. Mario Thevis zu GW1516:

    "Das ist in Tierversuchen und klinischen Testphasen an Menschen erprobt worden. Und dort konnte man zeigen, dass es die Mitochondrienzahl, also wenn Sie so wollen, die Kraftwerke der Muskelzellen, steigen lässt. Das heißt nicht, dass Sie an Muskelmasse zunehmen, sondern dass Sie die Effektivität der vorhandenen Muskulatur steigern. Und es kommt in der Tat zu einem geringeren Fettaufbau, unabhängig davon, ob Sie sich fettreich oder weniger fettreich ernähren."

    GW1516 hat allerdings sehr problematische Nebenwirkungen.

    "Das waren im wesentlichen Tumorbildungen in Leber, Blase und Niere, wenn ich mich recht erinnere. Und das ist normalerweise schon ein Ausschlusskriterium für die Weiterentwicklung des Präparats."

    Der Pharmakonzern GlaxoSmithKline stellte deshalb 2006 die Forschung ein. Vom Markt war GW1516 deshalb noch lange nicht. Man konnte – und kann es weiterhin – einfach im Internet bestellen. Im Oktober 2012 wurde der erste Leistungssportler damit erwischt. Zur Abwechslung war mal nicht ein Radprofi als pharmazeutischer Grenzgänger tätig, sondern der russische Eisschnellläufer Sergej Lisin. Ihm folgte im Frühjahr 2013 ein halbes Dutzend Radprofis, darunter mit dem für Lampre fahrenden Venezolaner Miguel Ubeto auch einer aus dem Pro Tour-Bereich. Woher haben diese Männer das Präparat, wenn sogar die Forschung wegen der gefährlichen Nebenwirkungen eingestellt wurde?

    "Wir müssen davon ausgehen, dass die Mittel, die gegenwärtig auf dem Schwarzmarkt kursieren, eher aus Schwarzmarktsynthesen und Untergrundlaboren resultieren und nicht Restbestände aus den klinischen Testphasen sind.",

    meint Mario Thevis. Dies bedeutet: Diese Präparate werden trotz ihrer nachgewiesenen Gefährlichkeit extra produziert. Und sie finden im Leistungssport ihren Markt. Einen Gebrauch für andere Zwecke kann Thevis sich nicht vorstellen.

    Den Untergrundchemikern kommt entgegen, dass die Herstellung von GW1516 offenbar nicht sonderlich schwer ist. Was Thevis an Testkäufen auf dem Schwarzmarkt tätigte, erweckte denn auch den Anschein, aus Feld-, Wald- und Wiesenlaboren zu stammen.

    "Das hat sich bei den Produkten, die uns vorgelegen haben, anhand der Qualität gezeigt. Das sind tatsächlich eher amateurhaft versiegelte und verpackte Produkte gewesen."

    Immerhin kann man GW1516 recht einfach nachweisen. Es ist eine körperfremde Substanz. Auch geringste Spuren sind als Doping sanktionierbar.

    Bei Aicar, das ebenfalls die Produktion der Mitochondrien stimuliert und Fett so sehr abbaut, dass es als Medikament gegen Fettleibigkeit weiter entwickelt wird, ist die Sachlage anders. Denn Aicar wird auch vom menschlichen Organismus produziert. Ein Nachweis ist schwieriger.

    "Es ist nun an uns, zu zeigen, dass es sich nicht oder nicht ausschließlich um körpereigenes Aicar handelt, wenn wir einen Sportler des Dopings mit Aicar überführen wollen, sondern dass es tatsächlich körperfremd ist und von außen zugeführt wurde."

    Thevis nahm mit seinen Kölner Kollegen schon 2010 eine Studie zur natürlichen Verteilung von Aicar im menschlichen Organismus vor. In der Studie wurde auch ein Grenzwert ermittelt. Doch bis heute findet dieser Grenzwert keinen Eingang in das Dopingkontrollregime. Warum das so ist, mochte die Weltantidopingagentur WADA auf Anfrage von Deutschlandfunk nicht beantworten. Immerhin wird die Konzentration von Aicar mittlerweile in einigen Antidopinglabors ermittelt. Und bis es einen juristisch gültigen Nachweis von körperfremden Aicar gibt, behilft man sich mit folgendem Verfahren:

    "Es ist Konsenz, dass, wenn auffällig hohe Aicar-Werte vorliegen, dass diese Proben langzeitgelagert werden und nach Möglichkeit dann bei einem Test, der beweist, dass es körperfremdes Aicar ist, auch nachanalysiert werden können."

    Das bedeutet: Das Klassement der kommenden Tour de France sollte man mindestens bis zum Einsatz dieses Tests als eine nur provisorische Rangliste ansehen.

    Dass Aicar im Umlauf im Radsport ist, zeigte schon 2009 der Fund von leeren Aicar-Packungen im Müll eines Hotels, in dem Team Astana während der Tour de France logiert hatte. In jenem Jahr fuhren Alberto Contador und Lance Armstrong unter kasachischer Flagge.

    2012 wurde der kolumbianische Arzt Alberto Beltrán Niño auf dem Madrider Flughafen mit Packungen von Aicar sowie dem vor allem im Pferdesport eingesetzten Muskelmittel TB500 erwischt. Beltrán war seinerzeit als Pferdetrainer für den König von Bahrein tätig. Er war zuvor auch Arzt bei diversen italienischen und spanischen Radsportteams, u.a. bei Liberty Seguros. Dieser Rennstall hatte außerdem den berüchtigten Eufemiano Fuentes in seinem Betreuerstab.

    Die Vergangenheit des Radsports schreibt sich weiter fort. Wenn nicht bald ein Test fertig ist, der die schwächeren Charaktere unter den Berufssportlern von den pharmazeutischen Anreizen fernhält, dann droht die Epo-Epoche einfach von der Aicar-Ära abgelöst zu werden.