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Von der Fläche zum Raum

Der Zar kam gern und ließ sogar eine eigene russische Kirche bauen, Aristokraten folgten ihm, und spätestens seit Öffnung des ehemaligen Ostblocks gilt Baden-Baden auch als eines der liebsten Reiseziele russischer Touristen. Da ist es eine freundschaftliche Geste, wenn die Staatliche Kunsthalle Baden-Baden ihr 100-jähriges Bestehen mit einer Ausstellung über einen der wichtigsten russischen Künstler der Neuzeit begeht: "Von der Fläche zum Raum - Malewitsch und die frühe Moderne".

Von Christian Gampert |
    Wenn etwas Unerhörtes oder gänzlich Neues passiert, spricht man immer gern vom "Nullpunkt der Geschichte" oder auch Kunstgeschichte - und weiß natürlich insgeheim, dass es solche Nullpunkte nicht geben kann. Das "schwarze Quadrat auf weißem Grund" von Kasimir Malewitsch, 1915 gemalt, gehört zweifellos zu den Wendemarken ästhetischer Wahrnehmung - aber wenn man dann vor diesem suprematistischen Prototyp steht (in Baden-Baden ist immerhin eine eigenhändige Malewitsch-Kopie von 1929 zu sehen, das Original blieb in der Tretjakow-Galerie), dann überkommen einen gänzlich andere Gedanken. Zu auffällig ist die Nähe zur russischen Ikonenmalerei und die Öffnung in transzendente Weiten, trotz des modernistischen Impetus. Hier arbeitet jemand mit malerischem Duktus, hier wird Aura hergestellt, und statt der Madonna schwebt eben eine (übrigens nur scheinbar geometrische) Farb-Form im leeren Raum. Die religiöse Unterwürfigkeit allerdings ist ersetzt durch den Primat des menschlichen Geistes, der mit abstrakten Formen sich seinen eigenen Kosmos, seine eigene Unendlichkeit schafft.

    Die Staatliche Kunsthalle Baden-Baden hat sich diese Schau selber zum 100.Geburtstag geschenkt, und in der Tat greift man hier thematisch einen Strang der eigenen Ausstellungsgeschichte auf. Seit den 1970iger Jahren hat man sich kontinuierlich um die russische Avantgarde gekümmert, und das Programm der derzeitigen Direktorin Karola Kraus (bis vor kurzem hieß sie mit Nachnamen noch Grässlin) spielt vor allem mit minimalistischen und konzeptuellen Positionen. Von Malewitsch will man nun nicht nur ein paar Klassiker zeigen, das tut man auch, sondern die Entwicklung von der Fläche zum Raum und seine Bezüge zu den Zeitgenossen. Gleich eingangs reckt sich Vladimir Tatlins Eck-Konterrelief, 1915 konstruiert, aus einem Deckenwinkel des friesbesetzten White Cube dem Betrachter entgegen, wie ein ins Abstrakte gezogener Engel einer ganz neuen, nunmehr aktiv anzupackenden Menschheits-Geschichte.

    Dass hier Ikonographie und politischer Anspruch neu erfunden wurden, zeigen die Werke von Malewitschs Weggefährten Kassak, Buchholz, Popowa, die mit Farben, Kräften, Räumen spielen. Das ist allerdings sehr nah am analytischen Kubismus, und die Ausstellung macht das Tor weit auf für assoziative Verbindungen zu Picasso, Gris, auch zu Mondrian und Schlemmer, in den Figurinen sogar zu Tinguely, und für einen farbexplosiven abstrakten Kandinsky hat man sogar einen ganzen Saal freigeräumt. Mit der russischen Revolution hatten die Suprematisten und Konstruktivisten dann - zunächst - eine konkrete Utopie: man versuchte sich sogar in den Niederungen der Gebrauchskunst. Hier gibt es dann amüsante Produkte fortschrittlicher Porzellanbehandlung zu besichtigen: klassizistische oder vergoldete Henkel zieren Teekannen, auf denen Fabrikgebäude oder suprematistische Kürzel prangen. Auch im Dienste der Propaganda für die Analphabeten war man tätig: Gustav Kluzis 1922 gebauter "Radio Orator" kombiniert Bilder, Film und Fotos mit einem Grammophon. El Lissitzky entwarf Wohntürme, sogenannte "Wolkenbügel". Noch vorbildlicher: Alexander Rodtschenkos 1925 für die Pariser Kunstgewerbe-Ausstellung geplanter "Arbeiterklub". Der rotweiße Raum mit Schachtisch, Bildungslektüre, Rednertribüne und Leinwand wurde nie realisiert - und für Baden-Baden nun nachgebaut. Allein die hohen Armlehnen der Stühle beweisen, dass an Entspannung hier nicht gedacht war.

    Zwei Schmankerl hält die Ausstellung noch bereit: El Lissitzkys Fortschreibung der suprematistischen Farbflächen in einen sakral anmutenden "Prounenraum" von 1923, auch das eine Rekonstruktion, die ein neues Raumgefühl vermitteln will; und Kurt Schwitters Merzbau, der als anarchischeres Vergleichsmoment die Russen doch etwas dogmatisch aussehen lässt. Bei Schwitters wurde das Atelier selber zum Kunstwerk, zur ästhetischen Privathöhle, zum Environment.