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Von der Freiheit, das Leben zu lassen. Kulturgeschichte des Suizids

"Ich kann nicht sterben, ohne mich zufrieden und heiter, wie ich bin, mit der ganzen Welt (...) versöhnt zu haben. Die Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war.(...) Möge Dir der Himmel einen Tod schenken, nur halb an Freude und unaussprechlicher Heiterkeit dem meinigen gleich."

Walter van Rossum |
    Diesen Brief schrieb der Dichter Heinrich von Kleist seiner Schwester bevor er erst seine Freundin Henriette Vogel erschoß und danach sich selbst. Dies geschah im November 1811.Heinrich von Kleist wurde 34 Jahre alt. Kurz vor seiner Geburt erschien im Jahre 1774 der Roman "Die Leiden des jungen Werther" von Johann Wolfgang von Goethe. Seine edlen Liebesleiden beendete der junge Werther, indem er sich die Kugel gab. Dieses Buch löste einen wahren Kult des Selbstmords aus. Nicht wenige, die es Werther nachtaten. Der Roman wurde deshalb sogar bald verboten. Vor allem aber wurde die Selbsttötung hier zu einer poetischen und humanen Antwort auf die dumpfen Lebenszwänge aufgewertet. Der Suizid wurde gesellschaftsfähig. Viele Jahrhunderte lang galt er als Verbrechen:

    "Um der Öffentlichkeit die Sündhaftigkeit und ewige Verdammnis des Selbstmörders vor Augen zu führen, schreckt die Kirche vor keiner Grausamkeit mehr zurück: Im französischen Chateau Gontier vergiftet sich 1718 die sechzehnjährige Marie Jaguelin. Sie ist schwanger und nicht verheiratet. Die junge Frau wird zunächst ordentlich beerdigt. Als sich herausstellt, daß sie sich selbst getötet hat, wird ihre Leiche wieder ausgegraben und auf einem Weiden-geflecht durch das Dorf geschleift. Anschließend schneidet der Henker vor der versammelten Dorfgemeinde den verwesten Körper auf und entnimmt ihm den Fötus. Das ungeborene Kind trägt keine Schuld am Vergehen seiner Mutter und wird auf dem Teil des Friedhofs beerdigt, der für ungetaufte Kinder reserviert ist. Marie Jaguelin wird zunächst an den Füßen aufgehängt und anschließend verbrannt."

    Außerdem wurde in der Regel der Besitz des Selbstmörders eingezogen, und man ächtete die Hinterbliebenen. Am Kadaver des Selbstmörders exekutierten Kirche und Könige ihre heiligsten Prinzipien: daß keiner aus der Herde sich Lebensautonomie anmaßen möge. Das ging so lange, bis die Entwürdigung des Einzelnen dem Geschäftsgang einer neuen Gesellschaft im Wege stand, bis also das Bürgertum über den Lauf der Dinge befand. Zunächst verwandelte die Romantik den Selbstmord in eine individuelle Tragödie, im 19. Jahrhundert bemächtigte sich dann die Wissenschaft des Phänomens. Mediziner, Biologen oder Soziologen entdeckten im Selbstmord vor allem eine Krankheit, eine mal heilbare, mal unheilbare Anomalie. Und so sei es in etwa bis heute geblieben, behauptet Gerd Mischler in seinem Buch "Von der Freiheit, das Leben zu lassen. Kulturgeschichte des Suizids". Daß aber nicht nur das Abendland den Freitod durchweg geächtet habe, sondern auch die meisten anderen Kulturen, das beschreiben einige Kapitel über den Umgang mit der Selbsttötung im Hinduismus und Buddhismus, in den japanischen Szenarien von harakiri und kamikaze, das zeigt Mischler am Beispiel indianischer Völker oder afrikanischer Kulturen.

    Eine Kulturgeschichte des Suizides ist das Buch deshalb allerdings noch lange nicht geworden. Allenfalls handelt es sich um eine gut lesbare Chronik der selbstmörderischen Befindlichkeiten in unterschiedlichen Kulturen zu allen Zeiten. Mischler verzichtet auf historische Interpretationen und betreibt auch keine allgemeine Ethnologie des Selbstmords. Er sucht nur Belege dafür.daß fast sämtliche Zivilisationen sich von jeher gegen die Selbsttötung verschworen hätten. Im Eifer des Gefechts übersieht er allerdings.daß die Sache so einfach.so eindeutig nicht war. Doch gegen diesen vermeintlich überkommenen Stand der Dinge richtet sich sein Plädover. Er zitiert Jean Améry:

    "So weit ich blicke, ich sehe nirgendwo (...), daß der Freitod anerkannt würde als das, was er ist: ein freier Tod eben und eine hochindividuelle Sache.die zwar niemal ohne Gesellschaftliche Bezüge vollzogen wird., mit der aber letztlich der Mensch mit sich allein ist, vor der die Sozietät zu schweigen hat."

    So heißt es in Amérys Buch "Hand an sich legen". Es erschien 1976 -zwei Jahre bevor Jean Améry wirklich Hand an sich legte. Tatsächlich hatte das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung von 1954 den Suizid als ,sittenwidrig' bezeichnet. Das mag einiges über den Geist der Verfassungsrichter aussagen, doch es besagt wenig über die reale Wahrnehmung des Freitods in unserer Gesellschaft. Genau das verwechselt Gerd Mischler., wenn er etwa schreibt: "Auch wenn ein Suizid auf reiflicher Überlegung und innerer Freiheit gründet, stehen Freunde und Verwandte, Ärzte, Nachbarn und Kollegen zumeist voller Verachtung vor der Tat. Oft verstehen sie nicht, was geschehen ist und wieso."

    Wo löste denn ein Freitod 'Verachtung'aus? Ein jeder Tod hinterläßt dunkle Zeichen, ein Selbstmord erst recht. Er löst Schuldgefühle und Ängste aus. Es gibt keine verläßlichen Gründe zum Leben, es gibt auch keine zum Sterben. Bei jedem Freitod st)üren wir den Schwindel der Rationalität. Wir können uns vor einer einsamen Entscheidung, wie Jean Amüry sie getroffen hat, respektvoll verneigen. Unvermeidlicherweise hält sich unsere Zustimmung in Grenzen.

    Vor aber sollte man die bis zu Ende geführte und reflektierte Lebensmüdigkeit eines Amery nicht verwechseln mit den Umständen, die jährlich fast 12 000 Menschen in Deutschland in den Freitod treiben. Das sind nur die offiziellen Zahlen.Viele Selbsttötunzen werden nicht als solche gemeldet. Allein die Zahl der Suizidversuche wird auf weit über 100 000 geschätzt. In Japan sind es übrigens 33 000 Menschen pro Jahr, die ihrem Leben selbst ein Ende setzen.

    Wer sich in furchtbaren sozialen oder seelischen Notlagen befindet, neigt zur Erlösungstat. Es hat nichts mit Entmündigung zu tun, wenn man Messer und Gift außer Reichweite dieser Verzweifelten schafft und wenn die kulturellen Tabuschwellen für diese irreversible Tat beschwerlich hoch anqelegt sind. Die Freiheit,.das Leben zu lassen, von der Gerd Mischler im Buchtitel spricht, kann nicht darin bestehen, von Widerständen befreit zu sein. Im Gegenteil macht das sprach- und gedankenlose Gekratze an einem Tabu noch keinen Freiheitskämpfer aus.