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Von der Gastfreundschaft

Jacques Derrida sind schon viele Etikette angehängt worden: Überwinder der Metaphysik, Jet-Set-Philosoph, Grenzgänger zwischen den Disziplinen. Gerade die deutschen Fachphilosophen beobachteten immer wieder argwöhnisch, wenn sich Derrida weit außerhalb des eigenen Terrains vorwagte. Dazu gehören etwa seine literaturwissenschaftlichen, linguistischen, ethnologischen, ästhetischen und politischen Untersuchungen.

Klaus Englert | 11.03.2002
    Nun sind allein in diesem Jahr eine Reihe von Büchern erschienen, die aufs neue das weite Interessensspektrum des französischen Philosophen verdeutlichen: Die erste Publikation Die unbedingte Universität geht auf einen Vortrag über eine reformierte Universität zurück, die sich der Frage nach den Menschenrechten, der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, der Geschlechterdifferenz und dem Rassismus stellt. Der kürzlich veröffentlichte Band Die Religion dokumentiert ein Symposion, das 1994 auf Capri stattfand. Gesprächsteilnehmer waren neben Derrida unter anderen Gianni Vattimo und Hans-Georg Gadamer. Derrida hielt damals den Vortrag Glaube und Wissen, der das heute überall zu beobachtende Phänomen einer "Rückkehr der Religionen" reflektiert und nach der überkommenden Opposition zwischen Religion und Vernunft, zwischen Religion und Wissenschaft fragt. Nicht zuletzt gibt es noch das Werk Limited Inc. Es handelt sich um die längst überfällige Publikation eines ebenfalls schon 1990 herausgekommenen Sammelbandes - eines Standardwerks dekonstruktivistischer Sprachphilosophie. Es umfaßt John R. Searles polemische Antwort auf Derridas Lektüre von Austins Sprechakttheorie. Des weiteren zwei umfangreiche Texte Derridas, die Searles angeb-lich metaphysische Sprachtheorie dekonstruieren.

    Einzig das kürzlich im Wiener "Passagen-Verlag" herausgekommene Buch Von der Gastfreundschaft dokumentiert bestens Derridas neueste philosophische Entwicklung. Zudem analysiert es den Wandel im Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatsphäre angesichts der rasanten technologischen Entwicklung. In einem Gespräch hat sich Jacques Derrida zu diesen Veränderungen geäußert:

    Der Wandel der Telekommunikation führt dazu, dass der Politik nicht mehr der angestammte Ort zukommt. Folglich ist die traditionelle Verbindung zwischen Politik und Ort verschoben. Es kommt hinzu, dass E-Mail, Telefon, Mobiltelefon und Internet die Grenzen zwischen Öffentlichem und Privatem durchlässig machen. Deswegen müssen wir nicht nur den Gegensatz zwischen Öffentlich und Privat überdenken, sondern auch die Grenze zwischen Öffentlich und Privat verschieben. Dies passiert fortlaufend. Und daher wird die Frage nach der Souveränität und der Grenze ständig angefochten.

    Derrida geht in seinem Buch, das auf Seminare von 1996 zurückgeht und Kommentare von Anne Dufourmantelle enthält, ebenso auf den Wandel der Gastfreundschaft ein. Wenn nämlich der klassische Begriff der Gastfreundschaft noch eine intakte Sphäre der Privatheit voraussetzte, die dem Anderen nach eigenem Gutdünken Zutritt erlaubte, so hat die Telekommunikation dieses Verhältnis ausgehöhlt. Denn das Internet macht jede persönliche zu einer öffentlichen Botschaft. Und gleichzeitig behält sich der Staat das Recht vor, den Austausch dieser Botschaften zu behindern oder zu verbieten, wenn das allgemeine Wohl beeinträchtigt ist.

    Dabei gibt Derrida folgende Paradoxie zu bedenken: Die wachsende Demokratisierung der Informationsströme ruft im verstärkten Maße Polizei und Kontrolle auf den Plan. Die Konsequenz ist dann nicht nur die verschärfte Einschränkung der persönlichen Sphäre. Derrida ver-weist auf eine weitere folgenschwere Entwicklung:

    Ich denke, die Globalisierung hat zu einer nationalistischen und fremden-feindlichen Reaktion geführt. Dieser Umschlag hat seinen Grund in der erhöhten Bewegungsfreiheit - in der erleichterten Überquerung der Grenzen und im verbesserten Zugang zu den Kommunikationsnetzen. Dieser Zustand gilt seit dem Schengener Abkommen, das zwar die Liberalität im Inneren verbessert, aber auch die Repression nach außen verstärkt hat. Selbst im Inneren gibt es Menschen, die sogar vor der Bewegungsfreiheit von Europäern Angst haben.

    Nicht allein das magische Datum des 11. September ist für die Einschränkung einer liberalen Einwanderungspolitik verantwortlich. Derrida wäre sicherlich der Meinung, dass damit lediglich der vorherrschende Trend verstärkt wird. Während nämlich die Globalisierung zur Öffnung der Märkte und zum ungehinderten Fluss der Datenströme führte, sind die europäischen Staaten nach außen repressiver geworden. Es hat den Anschein, dass mit der wachsenden Zirkulation der Waren und Daten die Angst der Menschen zunimmt. So schreibt Der-rida in seinem Buch Von der Gastfreundschaft: Überall wo eine Verletzung der Privatsphäre erfolgt, kann eine familialistische, ethnozentrische und nationalistische, ja sogar potentiell fremdenfeindliche Reaktion einsetzen. Die politischen Auswirkungen beschreibt er als fatal. Denn sie zeigen den Zusammenhang zwischen der ökonomischen Liberalisierung und der sozialen Repression gegenüber den Fremden auf:

    Es ist keineswegs ungewöhnlich, dass diejenigen, die für die ökonomische Globalisierung - für eine Öffnung der Grenzen und eine bessere Zirkulation der Waren - eintreten, dieselben sind, die die Grenzen für die Immigranten schließen wollen. Die Liberalisierungen kommen also mit einer Einschränkung der Gastfreundschaft einher.

    In einem Buch, das die Gesetze der Gastfreundschaft von der griechischen Mythologie bis zu unserer teletechnischen Gegenwart verfolgt, erfährt man natürlich gerne, was Derrida unter Gastfreundschaft überhaupt versteht. Doch Gastfreundschaft ist nicht gleich Gastfreundschaft:

    Man muss zwischen zwei Formen der Gastfreundschaft unterscheiden. Zu-nächst gibt es die reine, unbedingte Gastfreundschaft, was bedeutet, dass jeder unterschiedslos aufgenommen wird. Allerdings handelt es sich hierbei nicht um einen politischen Begriff. Schließlich gibt es die bedingte Gastfreundschaft, die eine politische und rechtliche Dimension hat. Sie besagt, dass die Grenzen unter bestimmten Bedingungen bestimmten Exilanten offen stehen. Als Recht kann sie so formuliert werden, dass sie nicht nur den gegebenen Gesetzen entspricht, sondern auch allgemeinen Verträgen, die die Emigranten und die politisch Verfolgten schützen. Die Verträge müssen also verändert werden, um die Emigranten zu schützen. Damit will ich sagen: Unter bestimmten Gesichtspunkten muss ihnen erlaubt sein, während ihres Aufenthalts in dem Gastland, ihre Tradition, ihre Sprache, ihre Kultur und ihre Religion zu bewahren. Dieses schwierige Problem verlangt nach politischen Entscheidungen und nach einer politischen Verantwortlichkeit.

    Jacques Derrida redet also keinem verantwortungslosen Multikulturalismus das Wort. So ist er der Auffassung, dass es eine "absolute und bedingungslose Gastfreundschaft", einen ungehinderten Zuzug von Immigranten in ein Gastland niemals geben kann. Und dennoch geht es darum, für jede demokratische und offene Gesellschaft eine großzügige, liberale Regelung zu finden:

    Ich glaube, dass die Gastfreundschaft heute besonders in den reichen Ländern eingeschränkt wird. Damit meine ich nicht, dass die Grenzen geöffnet werden sollten. In Frankreich gibt es viele Politiker - sogar Linke -, die den Intellektuellen vorgeworfen haben, unverantwortlich zu sein und jeden hineinlassen zu wollen. In Wirklichkeit hat dies niemand verlangt. Man hat allerdings verlangt, die Einwanderungsgesetze bezüglich der ‚sans papiers' zu liberalisieren. Genau dies ist möglich.

    Derridas kleine Schrift über die Gastfreundschaft reiht sich ein in seine neueren Publikationen über eine neue, radikalisierte Aufklärung. Man denke nur an sein Engagement für den schwarzen Journalisten und Black Panther Mumia Abu-Jamal, der nach einem fragwürdigen Indizienprozeß seit zwanzig Jahren im Todestrakt einsitzt. Und in seiner kürzlich gehaltenen Adorno-Preisrede verteidigte er die "Politik des Traums" - eine Politik, die die Möglichkeit des Unmöglichen wachhält, gegen die Hegemonie der Globalisierung, die Phantasmen einer unteilbaren Souveränität und den kollektiven Narzißmus der nationalen Identitäten.