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Von der Geste zur Sprache

Aus Gestik und Mimik hat sich allmählich die menschliche Sprache herausgebildet, so die Theorie Michael Tomasellos vom Leipziger Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie. Denn der Wunsch, Wissen miteinander zu teilen, sei dem Menschen immanent.

Von Martin Hubert |
    "Was die menschliche Kultur von den Tiergesellschaften unterscheidet, ist, dass unsere Produkte und Artefakte in einem langen Prozess immer komplexer werden - der Computer wurde ja nicht an einem Tag erfunden. In diesem Prozess der Erfindung werden die Lernenden immer mindestens so gut, wie ihre Lehrer, sie fallen nie hinter sie zurück. Und wenn es eine Verbesserung gibt, dann lernen die Schüler eben die verbesserte Version. Zu den Artefakten, die in diesem großartigen Lernprozess beim Menschen immer besser werden, gehören zum Beispiel die Sprache oder Werkzeuge. Menschenaffen scheinen diese Fähigkeit zu einer dynamischen Evolution nicht zu haben."

    Schimpansen können zwar etwa einen Zweig so präparieren, dass sich mit ihm Ameisen fangen lassen. Sie verbreiten diese Errungenschaft auch innerhalb ihrer Gruppe. Aber sie verbessern sie nicht, wenn sie sie weitergeben. Der Mensch dagegen schritt von einfachen Werkzeugen über Maschinen bis zum Computer fort. Der amerikanische Anthropologe Michael Tomasello möchte von dieser Beobachtung aus den Unterschied zwischen tierischer und menschlicher Kultur begreifen. Das beste Mittel, um Wissen von Generation zu Generation zu übertragen und zu verbessern, ist die menschliche Sprache. Doch für Michael Tomasello, der als Kodirektor am Leipziger Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie arbeitet, setzt menschliche Kultur nicht erst mit der Sprache ein.

    "Zu betonen, dass nur Menschen über Sprache verfügen, sagt ja nicht viel mehr, als wenn man darauf hinweist, dass nur Menschen Wolkenkratzer bauen. Natürlich ist Sprache etwas spezifisch Menschliches. Aber man muss auf eine fundamentalere Ebene hinuntersteigen, auf einfachere Formen der Kommunikation. Schon da wird man wesentliche Unterschiede zwischen Affen und Menschen finden."

    In seinem neuen, im Suhrkamp Verlag erscheinenden Buch "Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation" setzt Michael Tomasello dieses Programm um. Er untersucht die einfachsten, vorsprachlichen Formen der Kommunikation, die Gesten, und entwickelt ein Szenario, wie sich aus ihnen die menschliche Sprache entwickelt haben könnte. Schon bei den Zeige-Gesten entdeckt er einen entscheidenden Unterschied zwischen Affe und Mensch.

    "In einer unserer Studien haben wir Gegenstände vor den Augen kleiner Kinder versteckt. Es waren keine Spielzeuge oder andere Sachen, die die Kinder haben wollten. Trotzdem, obwohl sie keinerlei Vorteil davon hatten, deuteten sie auf die Stelle des Verstecks. Sie hatten offenbar einfach das Bedürfnis, andere Menschen darüber zu informieren, wo die Dinge sind. Affen dagegen gestikulieren nicht, um Menschen über etwas zu informieren oder mit ihnen die Aufmerksamkeit zu teilen. Auch untereinander benutzen sie Zeige-Gesten nicht zu diesem Zweck."

    Zeige-Gesten haben also bei Affen nur eine Aufforderungsfunktion. Bei Menschenkindern dagegen dienen sie auch dazu, andere zu informieren. Für Michael Tomasello besitzt die menschliche Kommunikation daher schon sehr früh einen kooperativen Zug. Man strebt danach, Erfahrungen miteinander zu teilen und von einem gemeinsamen Kontext aus zu denken und zu handeln. Wenn Kinder zum Beispiel einen Schlüssel suchen und jemand auf einen Karton deutet, dann denken sie automatisch: Da ist der Schlüssel drin.

    "Die Bedeutung ergibt sich nicht aus der Zeige-Geste selbst, sondern aus der gemeinsamen Erfahrung der Beteiligten: Es kann einfach nur meinen, dass dort der Schlüssel ist. Ich nenne das die 'soziale Infrastruktur' menschlicher Kommunikation: Sie umfasst den Versuch, herauszubekommen, was der andere mit der Geste meint, die implizite Annahme, dass er mir helfen will, die ganzen Versuche, an die gemeinsame Situation anzuschließen. Diese soziale Infrastruktur ist der erste Schritt zur typisch menschlichen Sprache, sie unterstützt nicht nur Zeige-Gesten, sondern auch ikonische Gesten, also Gebärden."

    Menschen, sagt Michael Tomasello, zeichnen sich durch eine "geteilte oder kollektive Intentionalität" aus: Sie streben danach, Erfahrungen, Absichten, Interessen und Regeln gemeinsam zu teilen. Diese Fähigkeit entstand im Zug gemeinschaftlicher Tätigkeiten wie der Jagd oder der Kinderaufzucht. Die menschliche Kommunikation war immer schon in solche gemeinschaftliche Tätigkeiten eingebettet und entwickelte sich in Wechselwirkung mit ihnen. Anfangs halfen Gesten dabei, diese Tätigkeiten besser zu koordinieren. Schließlich wurden sie immer komplexer und in die akustische Sprache übersetzt. Aus den Zeige-Gesten entstanden so nach Tomasello die Demonstrativpronomen: "der" oder "dieser". Aus den Gebärden, mit denen man zum Beispiel durch flatternde Armbewegungen einen Vogel darstellt, entstanden Nomina und Verben. Dabei ging der bildhafte Charakter der Gebärdenzeichen immer mehr verloren.

    "Ich nenne das die 'Drift zum Arbiträren'. Man kann das auch in den modernen Sprachen noch an den sogenannten 'toten Metaphern' erkennen. Man benutzt solche Metaphern, ohne zu wissen, woher sie kommen. Im Englischen sagt man zum Beispiel 'Kick den Schemel'. Das ist eine Metapher für das Sterben. Das kommt aus früheren Zeiten, als man Leute noch hängte. Wenn man ihnen das Seil um den Hals gelegt hatte, kickte man den Schemel weg, auf dem sie standen. Ich glaube, etwas Vergleichbares passierte auch mit den frühen Gebärden. Leute, die deren bildhafte Bedeutung nicht mehr richtig verstanden, nutzten sie trotzdem, indem sie sie imitierten. Ihre Bedeutung wurde dann aber nur noch durch gemeinsame Übereinkunft, nicht mehr durch das Bild festgelegt."

    Michael Tomasellos Theorie über den gestischen Ursprung menschlicher Kommunikation bleibt in manchen Teilen spekulativ und muss es auch bleiben. Schließlich existieren keine direkten Zeugnisse aus der Entstehungszeit der menschlichen Sprache. Aber sein Buch ist eines der bisher ambitioniertesten Versuche, die aktuellen Daten aus verschiedenen Forschungsgebieten unter einer bündigen These zusammenführen: Menschliche Kommunikation entwickelte sich in Wechselbeziehung mit gemeinschaftlichen Tätigkeiten, bei denen das gegenseitige Erkennen geistiger Zustände und Absichten evolutionär von Vorteil war. Evolutionsbiologen, Anthropologen, Kulturwissenschaftlern und Linguisten bietet sein Werk daher gleichermaßen Stoff für Diskussionen.

    Michael Tomasello: Die Ursprünge menschlicher Kommunikation
    Suhrkamp Verlag