Archiv


Von der österreichischen Politik und Wesensart

Die Republik Österreich steht nach einem Jahr vielfältiger Erinnerungen vor einem weiteren Abschnitt voller wichtiger Ereignisse. Das kleine Alpen- und Donauland, dessen Geschichte bekanntlich auch eine längere Zeitspanne umfasste, in der es nicht nur erheblich größer war, sondern genau genommen sogar so groß, dass einer seiner Kaiser sich sogar brüsten konnte, in seinem Reich gehe die Sonne nicht unter, dieses kleine Restösterreich, wie es manche nach dem Zerfall der Vielvölker-Monarchie abschätzig genannt hatten, gedachte im Jahr 2005 wichtiger Stationen seiner jüngeren Geschichte: zunächst der Befreiung von den Nazis vor 60 Jahren, was freilich viele Befreite lange Zeit nicht als entscheidende Wendung zum Besseren zu verstehen vermochten, die Unverbesserlichen und Ewig-Gestrigen aber bis heute nicht akzeptiert haben; dann gedachten die Österreicher des Staatsvertrags vor 50 Jahren, der die Besatzungszeit der "Befreier" beendete, sowie des damit verbundenen Abzugs der ausländischen Truppen, darunter die Rote Armee, was wohl das Wichtigste war; zu gedenken war außerdem des Neutralitätsgesetzes aus demselben Jahr 1955; schließlich des zehnjährigen Jubiläums des Beitritts zur EU.

Von Werner A. Perger |
    Manche werden angesichts des staatsoffiziellen Gedenkens übrigens inoffiziell auch der ominösen Regierungsbildung vor 5 Jahren gedacht haben, als zum ersten mal im Nachkriegseuropa die Partei eines Rechtspopulisten in einer Demokratie der EU an der Macht beteiligt wurde und die 14 anderen Länder der Union ihren Partner Österreich daraufhin mit "Sanktionen" belegten. Der konservative Wiener Kanzler, Wolfgang Schüssel, der kurz zuvor krachend die Wahl verloren hatte und nur noch die drittstärkste Partei vertrat, ist darauf besonders stolz. Er hatte Europa getrotzt, drei Jahre später die nächste – vorgezogene – Wahl gewonnen, er ist immer noch an der Macht, die "Sanktionen" sind vergessen, der Populist Haider neben ihm hat an Popularität enorm verloren und er selbst übernimmt zum 1. Januar für sechs Monate die EU-Präsidentschaft. Wie zur Krönung dieser konservativen Erfolgsgeschichte wird sich das Land aus Anlass des 250. Geburtstags des genialen Freimaurers Wolfgang Amadeus Mozart in einen Kulturtaumel besonderer Art stürzen. Europäisches Krisenmanagement zwischen Mozartopern, Mozartkonzerten und Mozartkugeln: die erste rechtspopulistische Regierung Europas feiert den prominentesten Freigeist und Aufklärer der europäischen Musikgeschichte – das ist ein Kuriosum, das man nicht alle Tage geboten kriegt. Wie soll einer das verstehen? Hilfreich dafür ist eines der klügsten Bücher über das Paradoxon Österreich, das soeben erschienen ist. Es beschäftigt sich mit der Entwicklung und der Selbstbefindlichkeit dieses Landes und seiner Gesellschaft seit 1945 und trägt den dazu passenden Titel: "Die paradoxe Republik". Geschrieben hat es der bekannte Wiener Historiker Oliver Rathkolb und das bedeutet, dass daraus weder ein Jubelwerk noch eine Schmähschrift wurde, vielmehr eine nüchterne Analyse des Phänomens Österreich, von dem der Satiriker Helmut Qualtinger einmal gesagt hat:

    "Österreich ist ein Labyrinth, in dem sich jeder auskennt."

    Mit ironischem Hintersinn hat Oliver Rathkolb diesen Satz seiner aktuellen Österreich-Kunde als Motto vorangestellt. Sein Leitfaden durch das Labyrinth beginnt mit Anmerkungen zur österreichischen Identität zwischen – so Rathkolb – "Nationalstolz, Solipsismus und europäischen Patriotismus". Damit sind wir mitten in der Beschreibung österreichischer Paradoxien zwischen Opferrolle und Ichbezogenheit, Minderwertigkeitstrauma und Größenwahn, Sorge vor der Zukunft und Stolz auf die Vergangenheit. Nicht zuletzt finden wir hier auch gleich eins der Hauptmotive des Buchs, nämlich die ewige Auseinandersetzung der Österreicher mit ihrem übergroßen Nachbarn Deutschland, die austro-typische Zerrissenheit zwischen Nähe und Distanz, Unterlegenheitsängsten und Überlegenheitsphantasien, Zuneigung und Aggression. Diese Zerrissenheit prägt das Verhältnis des kleinen zum großen Land, mit dem es die Sprache gemeinsam hat, angeblich auch die Kultur und sonst offenbar nichts. Natürlich, am Anfang der ersten Republik, das heißt: am Ende der Jahrhunderte alten Vielvölkermonarchie, da wollte das "deutsche" Restvolk gerne ein richtiges deutsches Land im großen Deutschen Reich sein, weil es sich allein nicht für überlebensfähig hielt. Diese Vereinigung wurde von den Siegern in den Pariser Vororteverträgen aber untersagt, weshalb die Geschichte ihren etwas anderen Verlauf nahm, der bekannt ist. Zu ihr gehört, nach einem kurzen, in Europa kaum beachteten, in Österreich aber unvergessenen Bürgerkrieg zwischen den Roten und den Schwarzen im Februar 1934, austrofaschistischer Sonderweg bis 1938, in ideologischer Anlehnung an Mussolini und in versuchter Abgrenzung gegenüber Hitler. Dieser Irrweg mündete prompt in den "Anschluss" ans NS-Reich, willkommen und doch gewaltsam. Daraus wiederum wurde der Ausgangspunkt zur endgültigen Trennung dessen, was nie zusammengehört hatte, und der Ansatzpunkt für ein später sich einstellendes Österreich-Gefühl. Dass diese innere Abwendung von Deutschland aber weder eine Reaktion auf die "Vergewaltigung" des Jahres 1938 war noch auf Empörung über die Verbrechen des Nazistaats beruhte, daran lässt Rathkolb keinen Zweifel. Eigentlich war das "Opfer" vom "Täter" anfangs in erster Linie nur enttäuscht. Die Aufarbeitung der eigenen prekären Rolle im Verbrechersystem der Nazis begann erst viel später und beschäftigt das Land heute noch.

    "Die nationale Geschichtserinnerung hatte ihren Ursprung in dem Schockerlebnis, dass die "Ostmärker" nach 1938 keineswegs als Elite, sondern als bloße Provinzgesellschaft in das nationalsozialistische Deutsche Reich integriert worden waren. Da die NSDAP-Führung diese von den Österreichern selbst konstruierte Sonderrolle der "besseren deutschen Kulturnation" bewusst negiert hatte, kam es, vor allem mit den zunehmenden militärischen Niederlagen nach der Schlacht um Stalingrad 1942/43, rasch zu einer emotionalen Ablösung. 1945 stellte dann kaum jemand mehr öffentlich die staatliche Trennung von Deutschland in Frage."

    Die von sich selbst überzeugte Kulturnation Österreich wird Europa im Mozartjahr 2006 von der Präsidialmacht zur Genüge vorgeführt bekommen. Wer aber die kulturpolitischen Analyse in Rathkolbs Buch – für mich das eigentliche Herzstück des Werks – gelesen hat, ist dagegen gewappnet. Er wird dann wissen, dass Mozarts Werke an der Oper und in den Konzertsälen Wiens, die Klassiker am Burgtheater und die Wiener-Mädel-Produktionen des seinerzeit marktführenden österreichischen Films wenn schon nicht Widerstandshandlungen, so doch danubische Trotzhaltungen gegenüber den braunen Herrenmenschen waren. Der Ex-Landsmann aus Braunau am Inn, der Wien sowieso hasste und als Musikliebhaber es mit Bayreuth und Wagner hielt, nicht mit Salzburg und Mozart, hat diesen "kulturellen Überlegenheitsanspruch" der Ostmärker denn auch gar nicht geschätzt.

    "Er wurde von Adolf Hitler als "systemstörend" erkannt und sollte durch Reduktion der kulturellen Bedeutung Wiens aufgelöst werden; die Hauptstadt sollte gegenüber Linz und Graz, den neuen Zentren deutscher Kulturarbeit, zurückgestuft werden. "

    Rathkolb spannt einen weiten Bogen, von der österreichischen Psyche und ihren Ängsten über das Wirken der österreichischen Nachkriegskanzler, Geschichte und Hintergründe des Staatsvertrags, die Bedeutung der Neutralität und der einst mächtigen Staatswirtschaft bis zur Gegenwart mit ihren vordemokratischen Medienmachtstrukturen. Manches ist zu detailliert, anderes zu flüchtig geraten, nicht jeder empirische Befund erklärt sich von selbst, gelegentlich wären Straffungen hilfreich gewesen. Aber insgesamt ist ihm ein sehr lesenswertes Buch gelungen, mit skeptisch-kritischen Unterton gegenüber Vergangenheit und Gegenwart, aber nicht ohne Optimismus für die Zukunft. Das autoritäre Potential, diese ewige Konstante des österreichischen Charakters, sei in Erosion begriffen, schreibt er, eine demokratische Zivilgesellschaft unübersehbar im Wachsen. Das wäre dann die wirklich gute Nachricht zum Auftakt des europäischen Mozartjahrs, passend zur "Zauberflöte".

    Werner A. Perger über: Oliver Rathkolb: Die paradoxe Republik - Österreich 1945 bis 2005, Zsolnay Verlag, Wien, 464 Seiten, 25,90 Euro.