"Österreich ist ein Labyrinth, in dem sich jeder auskennt."
Mit ironischem Hintersinn hat Oliver Rathkolb diesen Satz seiner aktuellen Österreich-Kunde als Motto vorangestellt. Sein Leitfaden durch das Labyrinth beginnt mit Anmerkungen zur österreichischen Identität zwischen – so Rathkolb – "Nationalstolz, Solipsismus und europäischen Patriotismus". Damit sind wir mitten in der Beschreibung österreichischer Paradoxien zwischen Opferrolle und Ichbezogenheit, Minderwertigkeitstrauma und Größenwahn, Sorge vor der Zukunft und Stolz auf die Vergangenheit. Nicht zuletzt finden wir hier auch gleich eins der Hauptmotive des Buchs, nämlich die ewige Auseinandersetzung der Österreicher mit ihrem übergroßen Nachbarn Deutschland, die austro-typische Zerrissenheit zwischen Nähe und Distanz, Unterlegenheitsängsten und Überlegenheitsphantasien, Zuneigung und Aggression. Diese Zerrissenheit prägt das Verhältnis des kleinen zum großen Land, mit dem es die Sprache gemeinsam hat, angeblich auch die Kultur und sonst offenbar nichts. Natürlich, am Anfang der ersten Republik, das heißt: am Ende der Jahrhunderte alten Vielvölkermonarchie, da wollte das "deutsche" Restvolk gerne ein richtiges deutsches Land im großen Deutschen Reich sein, weil es sich allein nicht für überlebensfähig hielt. Diese Vereinigung wurde von den Siegern in den Pariser Vororteverträgen aber untersagt, weshalb die Geschichte ihren etwas anderen Verlauf nahm, der bekannt ist. Zu ihr gehört, nach einem kurzen, in Europa kaum beachteten, in Österreich aber unvergessenen Bürgerkrieg zwischen den Roten und den Schwarzen im Februar 1934, austrofaschistischer Sonderweg bis 1938, in ideologischer Anlehnung an Mussolini und in versuchter Abgrenzung gegenüber Hitler. Dieser Irrweg mündete prompt in den "Anschluss" ans NS-Reich, willkommen und doch gewaltsam. Daraus wiederum wurde der Ausgangspunkt zur endgültigen Trennung dessen, was nie zusammengehört hatte, und der Ansatzpunkt für ein später sich einstellendes Österreich-Gefühl. Dass diese innere Abwendung von Deutschland aber weder eine Reaktion auf die "Vergewaltigung" des Jahres 1938 war noch auf Empörung über die Verbrechen des Nazistaats beruhte, daran lässt Rathkolb keinen Zweifel. Eigentlich war das "Opfer" vom "Täter" anfangs in erster Linie nur enttäuscht. Die Aufarbeitung der eigenen prekären Rolle im Verbrechersystem der Nazis begann erst viel später und beschäftigt das Land heute noch.
"Die nationale Geschichtserinnerung hatte ihren Ursprung in dem Schockerlebnis, dass die "Ostmärker" nach 1938 keineswegs als Elite, sondern als bloße Provinzgesellschaft in das nationalsozialistische Deutsche Reich integriert worden waren. Da die NSDAP-Führung diese von den Österreichern selbst konstruierte Sonderrolle der "besseren deutschen Kulturnation" bewusst negiert hatte, kam es, vor allem mit den zunehmenden militärischen Niederlagen nach der Schlacht um Stalingrad 1942/43, rasch zu einer emotionalen Ablösung. 1945 stellte dann kaum jemand mehr öffentlich die staatliche Trennung von Deutschland in Frage."
Die von sich selbst überzeugte Kulturnation Österreich wird Europa im Mozartjahr 2006 von der Präsidialmacht zur Genüge vorgeführt bekommen. Wer aber die kulturpolitischen Analyse in Rathkolbs Buch – für mich das eigentliche Herzstück des Werks – gelesen hat, ist dagegen gewappnet. Er wird dann wissen, dass Mozarts Werke an der Oper und in den Konzertsälen Wiens, die Klassiker am Burgtheater und die Wiener-Mädel-Produktionen des seinerzeit marktführenden österreichischen Films wenn schon nicht Widerstandshandlungen, so doch danubische Trotzhaltungen gegenüber den braunen Herrenmenschen waren. Der Ex-Landsmann aus Braunau am Inn, der Wien sowieso hasste und als Musikliebhaber es mit Bayreuth und Wagner hielt, nicht mit Salzburg und Mozart, hat diesen "kulturellen Überlegenheitsanspruch" der Ostmärker denn auch gar nicht geschätzt.
"Er wurde von Adolf Hitler als "systemstörend" erkannt und sollte durch Reduktion der kulturellen Bedeutung Wiens aufgelöst werden; die Hauptstadt sollte gegenüber Linz und Graz, den neuen Zentren deutscher Kulturarbeit, zurückgestuft werden. "
Rathkolb spannt einen weiten Bogen, von der österreichischen Psyche und ihren Ängsten über das Wirken der österreichischen Nachkriegskanzler, Geschichte und Hintergründe des Staatsvertrags, die Bedeutung der Neutralität und der einst mächtigen Staatswirtschaft bis zur Gegenwart mit ihren vordemokratischen Medienmachtstrukturen. Manches ist zu detailliert, anderes zu flüchtig geraten, nicht jeder empirische Befund erklärt sich von selbst, gelegentlich wären Straffungen hilfreich gewesen. Aber insgesamt ist ihm ein sehr lesenswertes Buch gelungen, mit skeptisch-kritischen Unterton gegenüber Vergangenheit und Gegenwart, aber nicht ohne Optimismus für die Zukunft. Das autoritäre Potential, diese ewige Konstante des österreichischen Charakters, sei in Erosion begriffen, schreibt er, eine demokratische Zivilgesellschaft unübersehbar im Wachsen. Das wäre dann die wirklich gute Nachricht zum Auftakt des europäischen Mozartjahrs, passend zur "Zauberflöte".
Werner A. Perger über: Oliver Rathkolb: Die paradoxe Republik - Österreich 1945 bis 2005, Zsolnay Verlag, Wien, 464 Seiten, 25,90 Euro.