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Von der Symbolfigur der Linken zum geschätzten Landesvater

" Henning Scherf ist ein Show-Mensch...der geht auf alte Damen zu, nimmt sie in den Arm ... und dann läuft das, dann wählen die Leute den. - Ich bin auch einer, der auf die Menschen zugeht. Aber dass ich in ein Festzelt gehe und 800 Senioren persönlich die Hand gebe und dann die Veranstaltung wieder verlasse ... also das ist beispiellos, das ist unglaublich! "

Von Folkert Lenz |
    Politische Gegner, politische Freunde: Henning Scherf konnte sie alle um den Finger wickeln. Demonstrative Bürgernähe - bei dem Sozialdemokraten war sie gelebtes Programm, mehr noch: sie gehörte zur Persönlichkeit des Zwei-Meter-Vier-Mannes. Bisweilen geriet sie zur Distanzlosigkeit, meinen Kritiker. Doch Henning Scherf, der Umarmer, der sprichwörtliche "Oma-Knutscher": Die Titel waren nur selten spöttisch, häufiger schon freundlich gemeint. Über alle Parteigrenzen hinweg: Die Bremer lieben ihren Bürgermeister.

    Doch nach zehn Jahren als Regierungschef tritt der SPD-Mann nun ab - endgültig! Seine Abschiedsrunde durch die Büros der Bremer Rathausmitarbeiter hat der Berufspolitiker schon vor ein paar Tagen gedreht. Die Amtsübergabe an seinen Nachfolger findet ohne ihn statt. Scherf ist gerade in Israel. Das ist seine letzte Dienstreise als Bürgermeister und zugleich der sanfte Einstieg in den Ruhestand - oder, wie er selber es sagt: wohl eher in den Unruhestand. Er wolle sich endlich mehr um seine Enkel kümmern - diese Perspektive hat Henning Scherf in den vergangenen Jahren immer wieder für sich reklamiert - und dann doch weiter regiert. Umso überraschender kam für viele Bremer - und auch für die meisten der Genossen - dann der Rücktritt vor knapp sechs Wochen auf einem ganz normalen Parteitag:

    " Ich werde 67. Ich möchte gerne ein Leben nach der Arbeit. Ich will nicht mit den Füßen zuerst aus dem Rathaus getragen werden. Sondern ich möchte gerne auch noch leben: als Sozialdemokrat, als Gewerkschafter, als Vater, als Bremer Bürger. Das ist der Grund... "

    Kein Abschied mit Paukenschlag. Eher ein leiser Abgang - so hatte ihn sich der passionierte Klavierspieler wohl auch gewünscht.

    Nun will er sich die Zeit nehmen für Musik und Kultur, fürs Segeln und fürs Sprachenlernen, für die Familie - und hat dabei doch schon wieder ein volles Programm. Der Ausstieg aus dem Politikerleben - er ist dem umtriebigen Henning Scherf offenbar nicht leichtgefallen. Wie viele Male hatte er schon den Ruhestand angesteuert - und sich dann doch eines anderen besonnen. Noch vor den vergangenen Wahlen zur Bremischen Bürgerschaft vor zwei Jahren hatte Scherf laut darüber nachgedacht, den Stab an Jüngere weiter zu geben. Rechtzeitig wolle er seine Ämter abgeben, bekannte der Landesvater - um sich dann umstimmen zu lassen.

    " Ich habe nach der letzten Wahl - ich glaube, am nächsten Tag schon - gesagt: Also hört zu, das mache ich jetzt vier Jahre, und dann muss das jemand anders machen. Ich habe das so früh gesagt, weil ich dachte, dann können sich alle darauf einstellen. Und dann hat ein schwieriger Verständigungsprozess begonnen, an dem Sozialdemokraten teilgenommen haben, aber auch andere. Der Koalitionspartner, die Handelskammer und viele andere haben gesagt: Nein, jetzt, zum Ende einer Legislaturperiode weggehen, das geht nicht. Das ist das falsche Signal. "

    Und so wurde Henning Scherf noch einmal das Zugpferd für die Bremer Sozialdemokraten. Und bei den Landtagswahlen 2003 in der Hansestadt schaffte er das, was selbst Optimisten kaum noch für möglich gehalten hatten: Während anderswo ein Parlament nach dem anderen für die SPD verloren ging, legten die Genossen an der Weser sogar noch zu - nach drei Wahlschlappen in Hessen, Niedersachsen und bei den Kommunalwahlen in Schleswig-Holstein. 70 Prozent der Menschen hätten damals den "Langen" wieder im Rathaus gewollt, wenn sie ihn denn direkt hätten wählen dürfen, konstatierten die Demoskopen später. Die weitere Analyse: Die SPD hatte ihren Sieg allein der Popularität Henning Scherfs zu verdanken - und vor allem seiner Beliebtheit bei den älteren Bewohnern Bremens und Bremerhavens. Landeswahlleiter Jürgen Dinse - als Mann der Zahlen und statistischen Kurven - kleidete diesen Tatbestand freilich in trockenere Worte.

    " Noch in den 70er Jahren war das so, dass das Altersprofil der SPD-Wähler so ging: Also hier sind die Jungen und da sind die Alten, und dann ging das so runter. Und das hat sich jetzt sehr verändert. Dass also der höchste Stimmenanteil bei den über 60-Jährigen ist: Dass das jetzt ein ganz besonderer Scherf-Effekt ist, das kann man vermuten. "

    Der Preis, den Scherfs Partei dafür zahlen musste, ihn noch einmal ins Rennen zu schicken, erschien manchen Genossen ganz schön hoch. Der Bürgermeister hatte sich zuvor auf eine dritte Auflage der großen Koalition festgelegt, als deren Garant nicht nur er sich sah. Zur Halbzeit dieser Legislaturperiode wollte der Regent dann sein Zepter abgeben - so sah es der zwischen Union, der SPD und anderen politischen Institutionen vereinbarte Zeitplan vor. Er wurde schon im vergangenen Sommer wieder Makulatur. Da verkündete Scherf, wie lange er nun wirklich noch an der Macht bleiben will.

    " Erst mal bis 2007. Weil ich fest davon ausgehe, das die Große Koalition hält. Wenigstens die Sozialdemokraten sind ohne Ausnahme fest entschlossen den Koalitionsvertrag zu erfüllen. Und nachdem wir nun heute darüber geredet haben, gehe ich fest davon aus, dass ich dann auch wieder der Spitzenkandidat bin. "

    Nicht nur was Scherf sagte, störte viele in seiner Partei. Auch wie er den Bremer Sozialdemokraten beibrachte, dass er seine Lebensplanung über den Haufen geschmissen habe und man gemeinsam ein weiteres Stück des politischen Weges gehen wolle, vergrätzte die Basis. Per Satellitentelefon verkündete der Bürgermeister nämlich seinen Amtsanspruch. In einem Radiointerview sollte der Regierungschef eigentlich von seinen Erlebnissen während eines arktischen Segeltörns erzählen. Doch mitten in die Schilderung der Schönheiten Spitzbergens schob er - fast beiläufig - den Wunsch nach einer Spielverlängerung. Als "Meldung aus dem Eis" machte dieses Statement in Bremen Furore. Drei Wochen später erst konnte Scherf die erregten Gemüter bei einer Parteiversammlung besänftigen und kommentierte seine neuerliche Kehrtwende:

    " Die Lage ist für das Land dramatisch. Sie ist aber auch für die SPD dramatisch. In so einer Rolle kann doch ein so exponierter Typ wie ich nicht einfach sagen: Jetzt ist meine private Entscheidung, mir reicht es. Das ist nicht der richtige Zeitpunkt. "

    Erst jetzt also hielt Scherf den Moment offenbar für günstiger. Ein Ausstieg zur Hälfte der Legislaturperiode: Bis zu den nächsten Bürgerschaftswahlen in knapp zwei Jahren hat sein Nachfolger nun Zeit, sich einen Namen zu machen. Weit mehr als ein Vierteljahrhundert hat Henning Scherf im kleinen Bremen irgendwo mitregiert und es so zu einem der dienstältesten Kabinettsmitglieder der Republik gebracht. Nur Johannes Rau hatte es seinerzeit ein paar Monate länger in einer Landesregierung ausgehalten - bis er dann Bundespräsident wurde. In seinen über 27 Jahren Dienstzeit hat der schlaksige Bremer Vollblutpolitiker zahlreiche Senatorenposten bekleidet: 1978 holte Bürgermeister Hans Koschnick Scherf als Finanzsenator in die Regierung. Ein Jahr später wurde er zuständig für Jugend und Soziales. 1990 nahm er auf dem Chefsessel des Bildungsressorts Platz, 1991 wurde der gelernte Jurist zudem Justizsenator. Als der damalige Bürgermeister Klaus Wedemeier vier Jahre später mit einer rot-gelb-grünen Ampelkoalition unterging, kam Scherfs große Stunde.

    Per Mitgliederbefragung unter den Sozialdemokraten wurde er ins höchste Amt des Stadtstaates gehievt. Zugleich gaben die Genossen dem bekennenden Partei-Linken einen überraschenden Auftrag mit auf den Weg: Scherf sollte ein Regierungsbündnis mit der CDU schmieden. Diese Mission gelang ihm in erstaunlich kurzer Zeit: Nach zwei Wochen stand die Große Koalition. Sie hält bis heute.

    Die Wirtschaft in der Stadt war anfangs skeptisch: War sie doch nahezu vier Jahrzehnte eine Alleinherrschaft der SPD gewöhnt. Auch in der Ampelkoalition fand sie Anfang der 90er Jahre keinen Ansprechpartner für ihre Bedürfnisse. Doch mit dem neuen Bürgermeister habe man sich schnell zusammengerauft, erinnert sich heute der Hauptgeschäftsführer der Handelskammer Bremen, Matthias Fonger:

    " Zumindest war ja nicht abzusehen, dass sich die Dinge dann doch in der Zusammenarbeit so gut entwickeln werden. Das Vertrauen ist sicherlich in erster Linie durch näheres, persönliches Kennenlernen entstanden. Dann aber in hohem Maße auch durch Verlässlichkeit in bestimmten wirtschaftspolitischen Entscheidungen, die getroffen worden sind. In die wir teilweise eben auch eng involviert waren."

    Als "Sanierungskoalition" war das rot-schwarze Bündnis angetreten. Denn schon damals waren Bremens Kassen leer. Der Finanzsenator hatte einen Schuldenberg von 8,9 Milliarden Euro abzutragen. Eine schier unlösbare Aufgabe, die nur mit der Einbindung aller bürgerlichen Kräfte angegangen werden kann - so lautete das Argument für eine Fortsetzung der Großen Koalition fortan. Das Bundesverfassungsgericht sprach dem bitterarmen Bundesland im vergangenen Jahrzehnt 8,5 Milliarden Euro zu, um seinen Haushalt in Ordnung zu bringen. Bremen versuchte, mit der Strategie "Sparen und Investieren" finanziell wieder auf die Beine zu kommen. Doch mehrere Großprojekte wie eine Musical-Halle oder der heute brachliegende Freizeitpark "Space Center" floppten. Alle Anstrengungen der Großen Koalition unter Scherf blieben im Endeffekt vergeblich. Heute türmen sich die Schulden auf 13 Milliarden Euro - so viel wie nie zuvor.

    Die Selbstständigkeit des Zwei-Städte-Staates zu erhalten - das sah Henning Scherf als seine Hauptaufgabe an. Gedankenspielen, das Bundesland aufzulösen und zu einem Teil Niedersachsens werden zu lassen, erteilte er regelmäßig und in schroffem Ton eine Absage:

    " Alle, die solche Vorschläge haben, die müssten eigentlich mal zwangsweise versetzt werden, damit sie endlich die Realität kennen lernen. Und nicht von irgendwelchen spinnerten, abstrakten, völlig irrealen Vorstellungen ausgehen. Es gibt überhaupt keine vergleichbare Finanzausstattung, wenn wir eingemeindet würden. Und darum vergessen Sie diese Vorschläge!"

    Darin zeigte Scherf sich mit den meisten Bremern einig. Doch die Spielräume der Politiker wurden von Jahr zu Jahr enger. Und so gerieten manche Weser-Hanseaten ins Zweifeln, ob die Selbstständigkeit Bremens wirklich das höchste Gut darstellt.

    " So dolle Bremerin bin ich dann auch nicht. Was das Beste ist für uns, das würde ich mir wünschen. - Wenn es dann nicht anders geht, dann geht es eben nicht anders. Und ich glaube, dass wir das überleben würden. - Ich glaube, aus Kostenersparnisgründen wäre das ja besser, wenn irgend so ein Nordstaat - oder so in der Richtung - geschaffen würde."

    Doch das kam für Henning Scherf nicht in Frage. Stattdessen leitete der SPD-Mann den wirtschaftlichen Strukturwandel ein: Weg von den Werften und der Traditionsindustrie, hin zur Förderung von kleinen High-Tech-Schmieden und dem Mittelstand. Unter seiner Ägide wurden im aufgeblähten Behördenapparat Tausende von Stellen gestrichen, Beamte mussten wieder 40 Stunden arbeiten. Die Personalkosten des Öffentlichen Dienstes in Bremen verschlingen heute fast ein Viertel des Haushaltes. Deswegen nahm Scherf beim Sparen die öffentlich Beschäftigten besonders ins Visier. Das betonte er erst jüngst auf einer Versammlung vor mehreren tausend Stadtangestellten:

    " Die Lage dieses kleinen Landes ist dramatisch, sie ist extrem und ist extrem schwierig. Und wir sind gehalten - um der Existenz willen dieses Landes - vor dem Bundesverfassungsgericht unseren Eigenbeitrag zu konkretisieren und zu belegen. Und darum ist es eine existenzielle Frage, eine Frage des Überlebens dieses Landes, dass wir sowohl nach innen wie nach außen im öffentlichen Dienst es uns gefallen lassen müssen, dass jede Entscheidung, die hier getroffen wird, verglichen wird mit Entscheidungen in anderen Ländern. Wir können es uns nicht leisten, Extras zu organisieren, Extras durchzusetzen. "

    Beim gemeinsamen Agieren mit der CDU bewies der ursprüngliche Befürworter von Rot-Grün erstaunliche und pragmatische Kompromissbereitschaft, die ihm nur wenige zugetraut hatten. Nach einigen Jahren bezeichnete Scherf selbst sich als "personifizierte Große Koalition". In der Partei mehrten sich dagegen die Stimmen für einen Ausstieg. Ende 2002 wurde das Murren bei den Genossen unüberhörbar - nicht nur beim Chef des mächtigen SPD-Verbandes Bremen-Stadt, Wolfgang Grotheer:

    " Ich will nicht verhehlen, dass natürlich viele von uns der Meinung sind, dass acht Jahre Große Koalition in Bremen gut genug sind. Also große Koalitionen führen im Parlament zu einer gewissen Erstarrung. Man vermisst ja auch in Bremen das Gegenüber von Parlament und Regierung. Es finden ja keine wirklich spannenden Debatten mehr statt. Sondern das Ganze ist dann halt etwas langweiliger als man sich das parlamentarische System vorstellen kann. Das ist auch eine grundsätzliche Haltung, dass man eine solche Große Koalition nur dann eingehen sollte, wenn es wirklich keine anderen parlamentarischen Möglichkeiten gibt."

    Denn ein Bündnis mit den Grünen wäre rechnerisch mehrfach möglich gewesen. Doch nur am Rande von Parteitagen ließ die SPD-Basis Dampf ab:

    " Die Große Koalition in Bremen war sicher in der ersten Zeit eine ganz vernünftige und richtige Lösung. Auf der anderen Seite stellt man heute fest, dass bestimmte Probleme in Bremen nicht mehr gelöst werden. Oder dass man sich gegenseitig blockiert. - Wenn der eine sagt, das ist was Gutes, dann sagt der andere, nee, das ist aber nicht von mir, drum lehne ich das ab. So sperren die sich gegenseitig."

    Auch beim Regierungspartner CDU sah man den zunehmenden Unmut bei den Bremer Sozialdemokraten mit Unbehagen. Jens Eckhoff, damals noch Fraktionschef der CDU in der Bremischen Bürgerschaft, machte sich vor drei Jahren wiederholt Sorgen um die Bündnistreue:

    " Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass irgendwann bei der SPD-Fraktion der Tag der Abrechnung mit Henning Scherf kommt. Mich würde auch nicht überraschen, wenn dieses kurz nach der Wahl geschieht. Deshalb müssen wir aufpassen, dass es bei der SPD keinen Wählerbetrug gibt. Dass die also antreten mit einem Spitzenmann, der deutlich für eine Große Koalition steht, und danach Parteifunktionäre etwas anders beschließen werden, wenn der Wähler sein Votum abgegeben hat."

    Doch Scherf ließ den Weser-Genossen ohnehin keine Wahl. Er stehe als Spitzenkandidat allein für Rot-Schwarz zur Verfügung, setzte er seiner SPD die Pistole auf die Brust. Mit dem populären Landesvater als erneuten Stimmenfänger gewann die Partei entgegen allen Bundestrends die Landtagswahlen 2003 - und konnte den Abstand zur CDU sogar noch vergrößern. Für Scherf ein deutliches Bekenntnis der Wähler für die Große Koalition:

    " Es ist ein ganz klarer Auftrag für das, was wir hier im Land acht Jahre lang gemacht haben und wo ich praktisch die Person bin, die das vertreten hat. Ich habe ja immer versucht, zu sagen, wir machen gemeinsame Arbeit. Und dieses Zusammenhalten, das ist nun - auf meine Person konzentriert - bei dieser Wahl offenbar gewollt."

    Henning Scherf als Übervater einer großen Koalition? Mitte der 90er Jahre hätte das wohl kaum einer seiner politischen Weggefährten für möglich gehalten. Galt er doch als Links-Ausleger der SPD. <

    Der erklärte Pazifist blockierte in den Achtzigern mit anderen Demonstranten die Zufahrt einer US-Basis im schwäbischen Mutlangen, um die Stationierung von Pershing-Atomraketen zu verhindern. Er ging als Kaffeepflücker nach Nicaragua, um den Aufbau des Landes nach der sandinistischen Revolution zu unterstützen. Und die Solidaritätsbekundungen für diese Linksregierung hätten seine Politikerkarriere 1986 auch fast beendet.

    Radioreportagen: " Hat er es gesagt, oder hat er es nicht gesagt. Oder: Hat er nicht so gesagt? Fragen, die heute..."

    Was immer diese Radioreporterin damals auch gehört haben mag: Scherf äußerte es in einem Hinterzimmer einer kleinen Bremerhavener Kirchengemeinde - vor knapp 20 Jahren. Bei einer Diskussion mit jungen Parteigenossen über den Befreiungskampf in Zentralamerika soll er dem damaligen amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan den schnellen Krebstod gewünscht haben - irgendwie jedenfalls. Für den CDU-Bürgerschaftsabgeordneten Günter Klein Grund genug, seinen Rücktritt als Sozialsenator zu fordern:

    " So etwas darf ein Regierungsmitglied nicht über den Präsidenten der Vereinigten Staaten sagen. Wir sind ja von Herrn Doktor Scherf ein großes politisches Engagement gewöhnt. Jetzt hat er alle Grenzen des menschlichen Anstandes überschritten... "

    Ein Misstrauensvotum in der Bürgerschaft überstand Scherf dennoch. Fragt man ihn heute nach dieser Episode, geht er auf Abstand:

    " Ich war ein begeisterter Unterstützer der Arbeit für und in Nicaragua. Die ist im Nachhinein, nach dem Scheitern der Sandinisten, nach dem richtigen Herunterwirtschaften der sandinistischen Bewegung völlig ernüchtert. Mit Reformen und Veränderungscharme hat das alles nichts mehr zu tun. Also ich sehe das heute ein Stück anders."

    Für viele Sozialdemokraten war Scherfs Weg vom aufmüpfigen Linken zum pragmatischen, rot-schwarzen Realpolitiker ein Wandel vom Saulus zum Paulus. Für den bisherigen SPD-Fraktionschef und Scherf-Nachfolger Jens Böhrnsen erscheint sein Pfad jedoch geradlinig:

    " Ich kenne ihn als Symbolfigur der Linken. Ich habe die Entwicklung zur personifizierten Großen Koalition miterlebt. Aber die Entwicklungen sind ja jeweils gut begründet. Mich hat sehr beeindruckt, dass Henning Scherf vor Jahren einmal gesagt hat, er habe den bürgerlichen Teil der Gesellschaft entdeckt. Ich habe nur gedacht, ja, man muss offen sein, man muss bereit sein, sich weiterzuentwickeln. Ich glaube, das zeigt er."

    Scherfs Pendant auf CDU-Seite war Jahre lang Hartmut Perschau, der im Laufe der Zeit verschiedene Senatorenposten in Bremen bekleidet hatte. Das Bürgermeisterduo galt als Stützpfeiler der Großen Koalition. Und Hartmut Perschau fand nach eigenem Bekunden ziemlich schnell Vertrauen zu seinem parteipolitischen Gegner:

    " Großkoalitionär zu sein, bedeutet ja immer, dass man einen Teil von parteipolitischen Aspekten zurückstellt mit dem Ziel, eine Einigung im Sinne des Gemeinwesens hinzubekommen. Und ich glaube, dass seine eigene Partei sich sehr schwergetan hat damit, weniger berücksichtigt zu werden und mehr Kompromissorientierung zu schaffen."

    Denn viele der Genossen an der Basis - aber auch die SPD-Fraktionsmitglieder - verübelten es Scherf, dass die Kluft zwischen Rathaus und Bürgerschaft - also zwischen Regierung und Parlament - während seiner Amtszeit immer größer wurde. Mehrfach versuchte die Partei, den bremischen Kabinettschef wieder mehr an sich zu binden - vergeblich, denn Scherf zeigte sich eigensinnig. Hinter den Kulissen offenbarte sich der vordergründige Schlichter, der Umarmer als Machtmensch. Hartmut Perschau:

    " Er hat ein breites Instrumentarium, um Dinge durchzusetzen: Von dieser außerordentlichen Liebenswürdigkeit bis zu einer stürmischen Grimmigkeit. Und er setzt seine unterschiedlichen, gefühlsmäßigen Präsentationsmöglichkeiten sehr klug ein. Und meistens sehr viel stärker vom Intellekt gesteuert als die meisten Menschen glauben, dass es vielleicht nur vom Gefühl gesteuert sei."

    Ähnlich sieht man es bei der SPD. Seine Partei weiß, dass der hanseatische Landesvater seine demonstrative Freundlichkeit auch zweckgebunden einzusetzen weiß. Scherfs politischer Weggefährte Jens Böhrnsen:

    " Ich glaube, jeder wird verstehen, dass man sich so lange in solchen Ämtern nur dann bewegt, wenn man erstens heraus ragende, politische Fähigkeiten besitzt. Und man zweitens Menschen gewinnen kann. All das kann er. Aber drittens: Wenn man auch versteht, mit den politischen Instrumenten umzugehen. Und auch das versteht Henning Scherf. Er ist ja nicht nur einer, der umarmt. Sondern auch einer, der - wenn er weiß, was er will, das auch durchsetzen kann."

    Nach fast vier Jahrzehnten in der Politik wird sich Henning Scherf nun aufs Altenteil zurückziehen und sich mehr den privaten Dingen zuwenden. Ganz aus dem öffentlichen Leben dürfte der 67-Jährige dennoch wohl kaum verschwinden - das ist auch fast unmöglich im überschaubaren Bremen, wo sich der Senatspräsident in all seinen Amtsjahren fast immer ohne Leibwächter und zu vielen Terminen mit dem Fahrrad bewegen konnte. Henning Scherf: Bei seinem Abschied vor der Partei jedenfalls gab er sich ein bisschen selbstkritisch und ironisch:

    " Ihr habt es in den letzten Jahren nicht leicht mit mir gehabt. Manchmal lag ich ganz spürbar quer zu der Mehrheit hier. Ich habe trotzdem gedacht: Ich muss diese einmal eingeschlagene Große Koalition durchhalten. Und ich muss sie optimistisch stärken, auch wenn hinter mir viele sind, die das vielleicht anders wollen. Im Ergebnis haben wir zusammengehalten, das zählt!"