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Von der Tragödie zum Big Business
150 Jahre nach der Erstbesteigung des Matterhorns

Den entscheidenden Grundstein für die touristische Zukunft Zermatts legt ein historisches Ereignis: Die tragische Erstbesteigung des Matterhorns mit vier Toten, und der Name Edward Whympers. Er gilt seitdem als heroischer Bezwinger, dramatischer Überlebender. Jetzt, zum 150. Jubiläum, wird sein Heldentum kritisch zurechtgerückt.

Von Andreas Burman |
    Blick auf das Matterhorn.
    Blick auf das Matterhorn. (Andreas Burmann)
    "Das Matterhorn ist einer der schönsten Berge der Welt, es ist ein ganz eigenwilliger Berg. Und er ist natürlich historisch interessant."
    "Die kannten sich nicht. Es waren sieben Männer, drei Sprachen, und die gingen los ohne jegliche Vorbereitung. Es musste eigentlich schief gehen."
    "Herr Whymper, was ist passiert? What's happened?" - "Terrible! Terrible! A horrible accident!"
    "Also im Grunde genommen hat der Whymper selber durch sein Ego das ganze Unglück auch ein bisschen eingeleitet."
    "Es ist ein Verbrechen, wie auch Rufmord ein Verbrechen ist."
    "Ja man muss sehen, am Matterhorn ist immer sehr viel Rummel gewesen in den letzten 150 Jahren."
    "Viele wollen da hoch, und natürlich eben auch einige, die da schlussendlich nicht hochsollten. Die wollen halt trotzdem da hoch."
    Die Geschichte Zermatts als das berühmte Matterhorn-Dorf beginnt bereits im 18. Jahrhundert. Da ist der Ort ein typisches kleines, armes Bergdorf mit rund 400 Bewohnern. Am oberen Ende des Vispertals auf rund 1.600 Metern gelegen. Eines Tages, so der Zermatter Heimatforscher Klaus Julen, finden erste Fremde mit einer nie gehörten Sprache herauf, Engländer:
    "Aber das waren meistens noch Gelehrte, Botaniker und Physiker oder was auch immer, und die paar Leute, die gekommen sind, sind beim Pfarrer abgestiegen. Und dann, 1838, hat ein Zermatter namens Josef Lauber eine erste kleine Herberge errichtet. Soviel ich weiß drei Zimmer mit sechs Betten, also etwas sehr, sehr Bescheidenes. Und damit sind dann eigentlich so ein bisschen die Gastbetriebe, die Hotels aufgekommen."
    Goldene Zeitalter des Alpinismus
    Mit den 1850er Jahren tritt bei den Gästen von der Insel die wissenschaftliche Motivation in den Hintergrund, es beginnt das sogenannte "Goldene Zeitalter des Alpinismus". Denn Zermatt ist umgeben von 38 Viertausendern. Im folgenden Jahrzehnt erobern die Vertreter des British Empires Engländer die bedeutendsten Gipfel wie die Dufourspitze des Monte-Rosa-Massivs, den Liskamm, das Weisshorn und das Obergabelhorn.
    Zugleich weiß das wachsende Interesse an Zermatt ein findiger und visionärer Nicht-Zermatter zu nutzen: Alexander Seiler. Der deutschstämmige Bergbauernsohn hat das touristische Potenzial der herrlichen Hochalpen-Landschaft mit der beeindruckenden, frei stehenden Pyramide des Matterhorns erkannt. Innerhalb weniger Jahre begründet er eine Hoteldynastie im Dorf. Matterhorn-Erstbesteiger Edward Whymper schreibt in seinem Buch "Der lange Weg auf den Gipfel":
    "Die Hotels, einschließlich des Gasthofs zum Riffelberg, gehören sämtlich einem Eigentümer, Alexander Seiler, dem das Dorf und das Tal viel zu verdanken haben und der in allen schwierigen Fällen der beste Ratgeber ist."
    Den entscheidenden Grundstein für die touristische Zukunft Zermatts aber legt ein historisches Ereignis: Die tragische Erstbesteigung des Matterhorns mit vier Toten, und der Name Edward Whympers. Er gilt seitdem als heroischer Bezwinger, dramatischer Überlebender. Jetzt, zum 150. Jubiläum, wird sein Heldentum kritisch zurechtgerückt. Am bedeutendsten durch Bergsteigerlegende Reinhold Messner in seiner soeben erschienenen Doku-Erzählung "Der gefallene Himmel":
    "Ich hab' versucht diese Matterhorn-Geschichte so zu erzählen, dass klar wird, dass sich der Alpinismus wesentlich verändert hat mit dieser Besteigung, dass der Alpinismus erstmals seine Unschuld verliert, und weil Whymper in der Lage war, als sehr geschickter Schreiber - er hat das Buch auch bebildert -, das Thema zu besetzen, und 150 Jahre lang zu halten, war es höchste Zeit, dass man den Unfall durchleuchtet, bergsteigerisch ..."
    Das Matterhorn, aufgenommen am Sonntag (24.07.2011). 
    Das Matterhorn (Marijan Murat / dpa)
    Wobei es Messner besonders darauf ankommt, Whympers mangelndes Verantwortungs-Bewusstsein herauszustellen und dem mitüberlebenden Zermatter Bergführer Peter Taugwalder, Vater, die Ehre zurückzugeben, denn:
    "Was Whymper sechs Jahre später mit seinem Matterhornbuch gemacht hat, ist ein Rufmord an Taugwalder, Vater Taugwalder, und der ist daran zerbrochen, gestorben, und das wurde nie richtiggestellt."
    Die dramatische Geschichte beginnt in der ersten Julihälfte 1865. Nach vierjähriger Vorbereitung macht sich der 25-jährige Whymper daran, endlich den Gipfel zu erreichen. Auf der italienischen Südseite des Bergs, von Breuil aus, hat er in zähen, teils lebensgefährlichen Aufstiegen eine machbare Route erschlossen. Entscheidend unterstützt hat ihn dabei der einheimische Bergführer Jean-Antoine Carrel.
    Mit ihm gemeinsam will er nun auch das letzte Stück meistern. Carrel jedoch sagt überraschend ab: Er sei schon lange zuvor eine andere Verpflichtung eingegangen. Was Carrel verschweigt: Er soll den jungen Italienischen Alpenclub zum nationalen Gipfel-Triumph führen. Als Whymper ihn tags darauf mit großer Mannschaft auf dem Weg zum Matterhorn entdeckt, sieht er sich hintergangen. Erbost beschließt der Engländer, ihm über die schweizerische Seite zuvorzukommen. Sie gilt bislang als zu schroff, zu steil, als unbezwingbar. Doch nun geht es um alles.
    Der Zufall kommt Whymper entgegen, in Gestalt von Lord Douglas, Angehöriger der britischen Königin Victoria. Der junge Bergsteiger will das Matterhorn ebenfalls erobern. Und er hat, was Whymper dringend sucht: Einen verlässlichen Bergführer, den Zermatter Peter Taugwalder. Sie einigen sich, gemeinsam aufzusteigen. Doch noch am Abend vor dem Aufbruch stehen drei weitere Gipfel-Anwärter vor ihnen: Der Geistliche Charles Hudson, berühmtester Bergsteiger jener Zeit, mit einem jungen unerfahrenen Zögling namens Hadow, und der damals beste Bergführer, Michel Croz aus dem französischen Chamonix. Sie beschließen kurzerhand, den Berg zusammen "anzugreifen". Es ist keine günstige Ausgangssituation, sagt Messner:
    "Whymper hat sich im letzten Moment eben dazu entschlossen, auf die schweizer Seite zu gehen, traf dabei diesen Lord Douglas, dann kamen zufällig noch die anderen, die alle aufs Matterhorn wollten, ist natürlich bergsteigerisch eine ungünstige Situation. Aber Whymper, der den größte Ehrgeiz hatte und natürlich schon lange versucht hatte, wollte sich das Matterhorn, die Erstbesteigung, – er hatte verstanden, was das bergsteigerisch bedeutet – nicht wegschnappen lassen und ist dann in dieser Konstellation mitgegangen."
    Eine zusammengewürfelte Seilschaft mit zweifelhaften Erfolgs-Chancen also - zumal mit einer Ausrüstung, die aus heutiger Sicht für ein Himmelfahrtskommando gut ist. Im Matterhorn-Museum zeigt der Zermatter Hermann Biner, Ex-Präsident der Internationalen Bergführervereinigung, auf einen Bergschuh von Hadow:
    "Wenn wir hier den Schuh von Hadow anschauen, dann ist das ein besserer Schuh für eine Party vielleicht im Frack und einfach ein bisschen über die Knöchel hochgezogen, ungefähr so."
    Am 13. Juli 1865 brechen die Männer auf, errichten auf rund 3.300 Metern am Berg ihr Nachtlager.
    Am frühen Morgen des 14. Juli, um 2 Uhr, brechen sie von dort auf. Sie wollen, sie werden Geschichte schreiben. Peter Taugwalder Sohn, den sein Vater als dritten Bergführer in die Seilschaft eingebracht hat, beschreibt später:
    "Wir brauten etwas Tee und brachen sofort zum Angriff auf unseren riesengroßen Gipfel auf. Um etwa drei Uhr begann der Tag zu dämmern, und der östliche Himmel schien wie pures Gold. Nicht eine einzige Wolke war sichtbar; die einzigen hörbaren Laute waren die Schritte von sieben begeisterten Kletterern und das Geklapper der Eispickel auf den Felsen."
    Der Berg bietet sich ihnen als großer Abhang, der gleich einer mächtigen natürlichen Treppe 900 Meter hoch aufsteigt, hält Whymper fest. Ohne besondere Schwierigkeiten kommen sie, zunächst seilfrei, voran. Hudson und Whymper wechseln sich in der Führung ab. Oberhalb 4.000 Metern wird der Fels teils verfallener, steiler, schwieriger. Nach mehr als acht Stunden gelangen sie plötzlich an eine senkrechte Wand. Vorsichtig weichen sie in die heikle Nordflanke aus. Der erfahrene Bergführer Croz übernimmt hier die Führungsarbeit. Whymper dann:
    "Nachdem wir um eine ziemlich schlimme Ecke gebogen waren, befanden wir uns wieder auf Schnee. Der letzte Zweifel verschwand jetzt vollständig. Das Matterhorn gehörte uns! Wir hatten bloß noch 60 Meter über bequemen Schnee zu gehen."
    Da bindet Croz sich aus dem Seil und stürmt dem Gipfel entgegen. Whymper macht sich sofort frei und hastet Croz nach: Nach allen Anstrengungen als Zweiter abgehängt zu werden, das darf ihm jetzt nicht passieren. Kurz vor dem höchsten Punkt holt er Croz ein - und setzt nur einen Augenblick später als erster Mensch seinen Fuß auf 4.778 Metern in den unberührten Schnee.
    "Um Viertel vor zwei lag die Welt zu unseren Füßen, und das Matterhorn war besiegt. Hurra!"
    In seinem Triumph hält Whymper sogleich nach Carrel und dessen Seilschaft Ausschau. Er entdeckt sie einige Hundert Meter tiefer. "Ich habe Dich geschlagen!", ruft er dem Konkurrenten hinunter. Der Anblick der sieben Männer auf dem Gipfel lässt die Italiener tief enttäuscht absteigen.
    Was Whymper allerdings nicht ahnt: Er hat seinen Sieg mit einem folgenschweren Fehler errungen, der vier Männern seiner Seilschaft beim Abstieg jede Chance auf Rettung nehmen wird. Messner belegt das mit späteren Äußerungen Whympers und dessen Holzstich vom Gipfel:
    Whymper hat das Unglück eingeleitet
    "Whymper hatte nicht die Möglichkeit, die Zeit, das Seil auszubinden, das ist sehr kompliziert mit einem Hanfseil. Er hat das Seil durchtrennt, sagt er auch an drei Stellen, die allerdings nicht schriftlich belegt sind, sondern mündlich. Aber er zeigt sich am Gipfel mit einem um die Schulter gelegten Seil. Und Whymper war mit der Zeichnung immer ganz genau. So hat er sozusagen auch die Dokumente hinterlassen für die Details bei dieser Besteigung."
    Die Folge des eiligen Schnitts: Nicht mehr alle können sich beim Abstieg mit demselben starken Seil sichern. Taugwalder muss sich mit den ersten vier durch ein dünnes Hilfsseil verbinden. Benedikt Perren, Präsident der Zermatter Bergführer und Nachkomme Taugwalders, erläutert:
    "Und dieses dünne Seil war dann einfach zu schwach, um die vier Leute zu halten. Also im Grunde genommen hat der Whymper selber durch sein Ego das ganze Unglück auch ein bisschen eingeleitet."
    Das Unglück geschieht, als sie wieder die heikle Nordwand-Passage erreichen. Jäh rutscht der unerfahrene junge Hadow aus. In Sekundenschnelle zieht er die anderen mit sich. Verzweifelt stemmt Taugwalder Vater sich gegen den vierfachen Ruck. Zum Glück hat er zuvor das hintere Seil um einen Felssporn gelegt. Das hält ihn jetzt. Doch das Seil vor ihm zerreißt. Die vier ersten stürzen 1.200 Meter tief die Nordwand hinab. Unter dem Eindruck des entsetzlichen Geschehens gelingt den drei Überlebenden der Abstieg ins Tal.
    Dort geht rasch die Vermutung um, Taugwalder habe zur eigenen Rettung das Seil mit einem Messer durchschnitten. Ein windiger Journalist greift das Gerücht auf und verbreitet es in alle Welt. Whymper reagiert – aber auf infame Weise, betont Messner:
    "Whymper sagt nur: Es ist eine Ungerechtigkeit, dem Taugwalder zu unterstellen, dass er das Seil durchgeschnitten hätte. Aber: Taugwalder hatte jeden Grund, das schwache Seil zu nehmen. Weil er wusste: Er kann seinen Sohn und sich selber nur retten, sollten die anderen stürzen, wenn er solch ein dünnes Seil nimmt. Und das ist, ja, es ist ein Verbrechen, weil auch Rufmord ein Verbrechen ist."
    Whymper verschweigt also, dass wegen seines Schnitts knapp vor dem Gipfel Taugwalder nur noch das dünne Seil blieb. Keine Chance hat der Bergführer auch in seiner Verteidigung, betont Livia Anne Richard. Sie hat aus der Geschichte zum Jubiläum ein spannendes Theaterstück geschrieben und auf einer Freilichtbühne am Riffelberg gegenüber dem Matterhorn spannend inszeniert mit Schauspielern und Laiendarstellern. Richard sagt, Taugwalder war von vornherein unterlegen:
    "Der konnte sich halt als eben Analphabet, scheuer Bergbauer, gegen diese Eloquenz Whympers nicht wehren. Und Whymper hat dann auf der ganzen Welt Vorträge gehalten, hat sein Buch "Scrambles amongst the Alps", wo er dem alten Taugwalder gar den Wahnsinn anhängt, geschrieben. Und das war einfach David gegen Goliath."
    Whympers ungeheurer Vorwurf hat dem Leben seines Ururgroßvaters eine ganz andere Wende gegeben, sagt Nachkomme Perren:
    "Er hat dann nicht mehr viele Gäste gehabt, oder praktisch keine mehr, weil er eben als schlechter Bergführer gegolten hat, hat daher nicht mehr ein gutes Einkommen generieren können und nachher dann ein armseliges Dasein eigentlich gefristet. Und ist dann fast als Alkoholiker auch geendet."
    Für die Zermatter dagegen beginnt mit der tragischen Erstbesteigung ein neues Zeitalter. Plötzlich ist ihr Berg weltberühmt. Bisher waren sie arme Bergbauern. Als Bergführer können sie das in der nur zweimonatigen Sommersaison jetzt ändern, ehe der Schnee ihr Dorf wieder isoliert. Schon zwei Touren auf das Matterhorn erbringen ein Jahresauskommen. Das bleibt nicht folgenlos, erzählt Hermann Biner:
    "Bergführer gingen zu Fuß nach Täsch, um dann die Engländer ankommen zu sehen und mit denen zurückzulaufen, und dann wurden die auf der Bahnhofstraße angegangen. Und nachher kamen sie ins Hotel und dann hatte der Hotelier auch schon einen Führer bereit. Also es war natürlich ein gewisser Kampf um dieses Einkommen."
    Bergführer erster und zweiter Klasse
    Berühmt ist die Mauer gegenüber dem Hotel Monte Rosa, auf der damals viele Männer sitzen in der Hoffnung als Führer engagiert zu werden. Es sind mit den Worten Whympers "gute, schlechte und mittelmäßige, die auf neue Ankömmlinge warten und die Franken berechnen, die sich ihnen aus der Tasche locken lässt". Ein vom Kanton Wallis eingesetzter Kommissär, der Ordnung schaffen soll, bittet schließlich entnervt um seine rasche Entlassung mit dem Hinweis, er habe „eine solche gottlose Nation in seinem Leben nirgends angetroffen". Ab 1870 gilt ein kantonales Reglement.
    "Und da gab es Bergführer erster und zweiter Klasse. Die erste Klasse konnte Gipfelbesteigungen machen und die zweite Klasse Passübergänge und Wanderungen. Und wenn man ein paar Jahre zweite Klasse war, rückte man in die erste Klasse nach."
    Alle Bergführer sind verpflichtet, einen dreitägigen Kurs - nicht in Bergsteigen -, sondern in gutem Benehmen zu absolvieren. Die Vorschriften betreffen aber auch die Gäste. Eine lautet: "Die Reisenden dürfen keinen Regenschirm aufspannen, ohne vorher den Führer gemahnt zu haben."
    Schwerfälliger taten sich die Zermatter mit der Hotellerie. Es ist Dorfpfarrer Josef Ruden, der die Initiative ergreift, erzählt Heimatforscher Klaus Julen:
    "Dieser Pfarrer Ruden hat eben dann gemerkt, dass die beiden wichtigsten Hotels im Dorf nicht von Einheimischen geführt wurden, sondern eigentlich von zugezogenen Leuten. Und er hat dann so in den 70er Jahren die Bevölkerung von Zermatt soweit gebracht, dass sie dann hier im Dorf auch ein Haus gebaut hat, Hotel Zermatterhof, das heute noch steht."
    Um keine unnötigen Kosten zu verursachen, verpflichtet der Pfarrer die Zermatter "Burger" zur gemeinnützigen Mitarbeit beim Bau. Ihr Lohn soll die Nutznießung sein, also ein jährlicher Anteil am erwirtschafteten Gewinn. Das zahlt sich aus und lässt die sogenannte Burger-Gemeinde weitere Hotels und Restaurants erbauen.
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    Der alte Dorfkern am Matterhorn. (Andreas Burmann)
    Die Rivalität zwischen den heute 1.500 alteingesessenen Zermattern, den Burgern eben, und der Seiler-Familie hat über die Zeitläufe keinen Abriss erlebt. So gelten die weißen Pferde der Gästekutsche des "Zermatterhofs" und die schwarzen von jener des Seilerhauses "Mont Cervin" unter den Einheimischen als Ausdruck von "Himmel und Hölle".
    Wie prächtig sich der Bergtourismus entwickelt, kann man bei dem amerikanischen "Tom Sawyer"-Autor Mark Twain nachlesen, der im August 1878 nach Zermatt kommt. Er lässt sich – wohl durch das Auftreten anderer Touristen - vom Wanderweg auf den harmlosen Riffelberg zu einer Satire inspirieren. In "Climbing the Riffelberg" macht sich eine 205-köpfige Expedition mit Büglerinnen und Pastetenbäcker, 22 Whiskey-Fässern, 154 Regenschirmen und jeder Menge Opiumtinktur auf den Weg.
    "Ich saß in steinharter Entschlossenheit da, denn im Geiste rang ich bereits mit den Gefahren der Berge, und mein Freund starrte mich in anbetender Bewunderung durch seine Tränen an. Endlich warf er sich in einer liebevollen Umarmung auf mich und rief mit entsagender Stimme: 'Ihr Harris wird Sie nie verlassen. Wir werden zusammen sterben!'"
    Realsatire hat bei den englischen Gästen am Matterhorn Schuhmacher Otto Burgener noch als Junge erlebt. Der heute 86-jährige, der erstklassige Bergschuhe für Kunden rund um den Globus handgefertigt hat, erinnert sich an sehr selbstgefällige Auftritte:
    "Junge Leute, Fanatiker, so wie man sagt, die kamen den ganzen Tag durchs Dorf, ein Seil übergehängt, ein Rucksack an, Pickel in der Hand und durchs ganze Dorf den ganzen Tag herumspaziert. Um den Leuten zu zeigen: Ich bin Bergsteiger! [lacht]"
    Die Tage, da die Hotels praktisch nur von Engländern bewohnt sind, von denen viele sogar die ganze Sommer-Saison über bleiben, die enden mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Nach Kriegsende kommen allmählich Gäste aus aller Welt. Zugleich führt die herausragende Bedeutung des Ortes für den Hochalpinsport 1964 zu der Gründung der Air Zermatt, betont Hermann Biner:
    "Der erste Pilot der wirklich sehr schwierige Rettungen durchgeführt hat, war übrigens ein Deutscher, Sigi Stangier. Der hat, also die Air Zermatt hat die ersten Rettungen gemacht, die Eiger Nordwand, die erste Matterhorn Nordwand, die erste Badile Nordwand, die ersten Nachtrettungen – die haben sehr viel getan, um das Rettungswesen vorwärts zu bringen."
    Inzwischen setzen die Zermatter 12 Helikopter ein. Auch bei den Bergführern hat sich so manches verändert. Hugo Biner, der diesen Beruf an den Nagel gehängt hat und seit einigen Jahren den Berggasthof Trift führt, erinnert sich:
    "Ganz früher, zu den Zeiten von meinem Vater und vom Großvater, als die noch am Matterhorn waren, da gab es auf der Hütte morgens den Schoppen, das war ein halber Liter Weißwein. Den hat der Bergführer mitgetragen auf den Gipfel, und der wurde auf dem Gipfel zusammen mit dem Gast als Gipfelwein getrunken. Heute un-vor-stell-bar!"
    Auch die am häufigsten begangene Normal- oder wie Reinhold Messner sagt: Touristen-Route über den Hörnligrat verlangt den ganzen Einsatz. Gerade wenn man sie ohne Führer geht, wie es der Kölner Dirk mit einem Freund gemacht hat:
    "Das Matterhorn ist für uns, wie kein anderer Berg zuvor, ein Irrgarten gewesen aus Felstürmen, aus Felsblöcken, aus Rinnen, aus Verschneidungen. Wir haben jede Möglichkeit genutzt, um das Seil reinzulegen, um das Seil einzufädeln. Aber das Seil ist irgendwann immer zu Ende, und manchmal sind wir auch in Positionen dann gewesen, wo die nächste Sicherungsmöglichkeit noch meilenweit entfernt war. Kam uns jedenfalls so vor."
    Selbst die Statue des Schutzheiligen der Bergsteiger am Gipfel, des Heiligen St. Bernhards, haben sie zur Seilsicherung genutzt. Partner Hans-Gerd aus Bergisch-Gladbach erinnert sich gut an das Abendessen nach dem Abstieg in der Dunkelheit:
    "Ich sehe sie noch vor mir stehen, die große Schnitzelportion. Aber ich war einfach nicht in der Lage, etwas zu essen. Also wir hatten über 15 Stunden höchste Anspannung hinter uns, höchste Konzentration, körperliche Belastung. Und nachdem das alle raus war aus dem Körper, wollte auch nichts mehr rein. Und anschließend waren es im Prinzip zehn Stunden Tiefschlaf, wirklich in so einer Art komatösen Zustand, und am nächsten Morgen war dann alles wieder gut. Aber der Körper brauchte seine Regeneration da."
    Ab den 1950er Jahren schwingen um Zermatt die Wintersport-Gäste von den Berghängen und drängen touristisch in den Vordergrund. Mit ihnen machen die 130 Hotels und Vermieter der 1.500 Apartments heute rund drei Viertel ihres Jahresgeschäfts.
    Und das alte Zermatt? Einige wenige Holzspeicher und Häuser sind im Zentrum geblieben. Allmorgendlich treiben Kinder noch eine kleine Bergziegen-Herde durch den Ort, nur in der Hauptsaison. Touristische Folklore also. Ganz und gar unfolkloristisch ist, was mit dem Ort selbst geschieht, bedauert Heimatforscher Julen:
    "Was zu wünschen wäre, dass das Dorf nicht größer wird. Denn es hat jetzt schon eine kritische Größe. Vor allem vor zehn, zwanzig Jahren wurden sehr viele Zweitwohnungen gebaut. Und die sind, ja, Dreiviertel vom Jahr leer. Rollladen runter. Auch nicht gerade das schönste Bild."
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    Die renovierte und erweiterte Hörnli-Belvédère-Hütte. (Andreas Burmann)
    Weil das auf zwei Drittel der Neubauten zutrifft, hat die Gemeinde bereits reagiert, betont deren Präsident Christoph Bürgin:
    "Zermatt hat schon in 2005 Reglemente geschaffen, damit das nicht alles ausverkauft wird. Weil, das Problem ist: Es kommt immer sehr, sehr schnell sehr, sehr viel Geld ins Spiel. Und das wird problematisch. Erst kamen die Engländer, die viel kaufen wollten, es kamen dann die Russen, die viel kaufen wollten, und dann mussten wir einen Riegel schieben, wenn wir nicht so enden wollen wie die anderen Stationen."
    Er meint vor allem bekannte Skiorte in Frankreich. Es gibt auch Fehlentwicklungen, die dagegen ganz hausgemacht sind. So, dass man mit neuen Bergbahn- und Skiliftanlagen Naturgebiete erschlossen hat, räumt Bürgin ein:
    "Aber das wurde in der Zwischenzeit wurde das alles korrigiert. Und Sie bauen heute keine Bahn, wenn sie nicht jemand von der Umwelt neben sich haben, der Ihnen auf die Finger schaut. Und das finde ich richtig. Da hat man vielleicht schon gewisse Eingriffe in die Natur gemacht, die einfach 100 Jahre brauchen, bis sie wieder korrigiert sind. ABER wir sind wirklich dran, solche Fehler nicht mehr zu begehen."
    Und er beteuert, man wolle nicht mehr „so verrückte Sachen" machen, sondern die Natur belassen wie sie ist - gerade weil man ja in ihr aufwachse. Aktuellstes Beispiel ist die umweltbewusst renovierte Hörnli-Hütte am Matterhorn - übrigens im Besitz der Burgergemeinde. Mit ihr soll der Berg über das Angebot entlastet werden. Die Bettenzahl ist um ein Drittel auf 130 reduziert worden, der Preis um das Doppelte auf 150 Franken gestiegen. Doch das ist nicht alles, sagt Hüttenwart Kurt Lauber:
    "Die Doppelzimmer, die kosten wirklich mehr. Das ist ein Doppelzimmer mit Abendessen, Frühstück kostet 450 Schweizer Franken. Die haben aber ihre eigene Dusche, eigenes WC, also das ist wirklich Luxus. Aber das ist gefragt."
    Nicht inbegriffen: Ein Gipfelaufstieg mit der Sänfte, dafür jedoch bis Ende der Jubiläums-Saison der nachts von Solarleuchten illuminierte Hörnligrat aus nächster Nähe durch die Panoramafenster. Solches gönnen sich inzwischen deutlich weniger Euro-Touristen, dafür aber zunehmend Asiaten aus China, Taiwan, Südkorea und Indien. 150 Jahre nach der Erstbesteigung des Matterhorn-Gipfels erklimmen die Zermatter den Umsatz-Gipfel, ein jährliches Milliarden-Geschäft. Wie sagt Gemeindepräsident Bürgin hochzufrieden?
    "Es ist natürlich schon der Berg, der zieht. Und ich muss Ihnen sagen, ich komme jeden Tag, wenn ich hier aufs Büro komme, schaue ich einen Moment hoch. Er hat irgendwas Magisches an sich und sieht keinen Tag gleich aus. Und so wird es wahrscheinlich auch vielen, vielen Gästen gehen von der ganzen Welt."