Archiv


Von der Verzweiflung zur Wut

Eine patriarchalisch strukturierte Gesellschaft mit dubiosen Traditionen, die auch zur Gewalt gegen Frauen missbraucht werden, ist das zu 97 Prozent muslimische Pakistan. So sehr sich sein Präsident Pervez Musharraf auch als verlässlicher Verbündeter des Westens in Szene zu setzen versucht – zuletzt beim Besuch des US-Präsidenten am Wochenende: In vielerlei Hinsicht bleibt Skepsis angebracht. Pakistan – ein Land, das sich öffnet und reformiert?

Von Christina Janssen |
    Die Geschichte der jungen Pakistanerin Mukhtar Mai zeichnet ein anderes, ein düsteres Bild: Im Juni 2002 wird sie von vier Männern ihres Dorfes vergewaltigt. Ein Stammesgericht hatte sie dazu verurteilt, um die Ehre einer Familie wiederherzustellen. Doch anstatt Selbstmord zu begehen, wie man es nun von ihr erwartet, begehrt die junge Frau auf. Sie zieht vor Gericht und schreibt so pakistanische Geschichte. Christina Janssen stellt Ihnen die Autobiographie Mukhtar Mais vor:

    Die Entscheidung, die mein Leben von Grund auf verändern wird, fällt in der Nacht vom 22. Juni 2002 im Kreis der Familie.

    Ich, Mukhtaran Bibi, 28 Jahre alt und Angehörige der Bauernkaste der Gujjar aus dem Dorf Meerwala in der pakistanischen Provinz Punjab, muss vor den Klan der höheren Kaste der Mastoi treten, der aus mächtigen Grundbesitzern und Kriegern besteht. Ich muss sie im Namen meiner Familie um Vergebung bitten. Um Vergebung für meinen kleinen Bruder Shakkur. Die Mastoi beschuldigen ihn, mit Salma, einem Mädchen ihres Stammes, "gesprochen" zu haben. Mein jüngerer Bruder ist gerade mal zwölf Jahre alt, die junge Frau dagegen über 20.

    So grotesk die Vorwürfe, so grausam sind die Folgen, die Mukhtar Mai in ihrem Buch beschreibt. In ihrem Heimatdorf Meerwala hat die Familie Mastoi das Sagen. Und so wird die junge Frau vom Dorfgericht, der jirga, zur Vergewaltigung durch vier Männer des feindlichen Klans verurteilt:

    "Sie ist da!", dröhnt die Stimme des Klanführers in meinen Ohren. "Macht mit ihr, was ihr wollt." [...] Gewaltsam zerren sie mich fort wie ein Lamm zur Schlachtbank. Männerarme packen die meinen, reißen an meinen Kleidern, an meinem Tuch, an meinen Haaren. [...] Mein Vater und mein Onkel müssen all das mit ansehen und haben keine Möglichkeit, mir zu helfen. Ehe ich’s mich versehen kann, wechsle ich von einer äußeren Nacht in eine innere Nacht und finde mich wenig später irgendwo in einem geschlossenen, dunklen Raum wieder. Im fahlen Mondlicht, das durch die winzigen Fenster dringt, nehme ich vier Männer wahr. [...] Kein Ausweg. Keine Möglichkeit zu beten.

    Stunden später wird die junge Frau vor den Augen der wartenden Dorfbewohner halbnackt nach Hause gejagt. Wer glaubt, Schicksale wie dieses seien Einzelfälle, der irrt, sagt Sigrid Krieg, Pakistan-Expertin bei amnesty international:

    "Das ist leider kein Einzelfall, das ist an der Tagesordnung in Pakistan. Der Einzelfall insofern ist es, als Mukhtar Mai gewagt hat, aufzumucken, und dass sie den Mut gefasst hat, sich nicht umzubringen. Das ist total realistisch, dass eine Frau sich dann umbringt in diesen Fällen. Und wir haben Unmengen von Meldungen von Frauen, die vergewaltigt werden oder zu Massenvergewaltigungen verurteilt werden von diesen Jirgas. "

    Die Jirgas gehen zurück auf vorislamische Stammestraditionen. Ihre Aufgabe ist es nicht, die Wahrheit herauszufinden, sondern den sozialen Frieden wiederherzustellen. In weiten Teilen Pakistans haben sie sich behauptet, als Alternative zur staatlichen Justiz:

    "Die Leute wenden sich lieber an die Jirga, weil sie kein Vertrauen haben zu den Gerichten, kein Vertrauen zur Polizei. Es hat nicht immer solche Ausmaße wie in diesem Dorf, aber es ist schon so, dass sich die Rechtsprechung dann nach den Dorfältesten richtet bzw. den Mächtigen im Dorfe und dass Recht gesprochen wird zugunsten derjenigen, die mehr Geld oder mehr Besitz haben."

    Mukhtar Mai wurde zum Opfer eines extremen Auswuchses dieser Rechtsprechung. Von einer Frau, der solches widerfährt, wird gemeinhin erwartet, dass sie Selbstmord begeht. Auch Mukhtar Mai schildert eindrücklich die aggressiv-ablehnende Haltung vieler Dorfbewohner, die Verdächtigungen und Schuldzuweisungen. Doch sie weiß zumindest ihre Familie hinter sich. Anders als so viele Frauen, deren Angehörige selbst zur Tat schreiten, wenn der sozial korrekte Suizid ausbleibt. Verbrechen, bei denen Frauen zur Rettung der Familienehre missbraucht oder getötet werden, entbehren eigentlich jeder religiösen Grundlage, allerdings tragen die in islamisch geprägten Gesellschaften tief verwurzelten Vorstellungen von Ehre und Sittsamkeit dazu bei, dass derart archaische Bräuche aufrecht erhalten werden. Auf mehr als tausend beziffert Sigrid Krieg von amnesty die "Tötungen im Namen der Ehre" pro Jahr allein in Pakistan. Den Vorwurf der zina, des Ehebruchs oder der Unzucht, nach einer Vergewaltigung zu entkräften, ist für eine Frau beinahe unmöglich, so Sigrid Krieg:

    "Das heißt auch, dass eine Frau, die eine Anklage vorbringt, dass sie vergewaltigt wurde, oft ins Gefängnis wandern muss. Sie braucht vier männliche Augenzeugen, um das zu beweisen. Die Frauen werden doppelt Opfer, einmal dass sie ihre Ehre verloren haben und die Misshandlung ertragen mussten und umgekehrt von der Polizei als Täterinnen betrachtet werden und ins Gefängnis wandern."

    Wie viele andere denkt auch Mukhtar Mai zunächst an Selbstmord, doch die Verzweiflung, schreibt sie, schlägt bald in Wut um. Die Bauerntochter nimmt den Kampf auf – eine einfache Analphabetin gegen die scheinbar Allmächtigen. Unterstützt von ihrem Vater und dem Mullah ihres Dorfes erstattet sie bei der Polizei Anzeige gegen ihre Vergewaltiger. Ein Skandal.

    Denn die Polizei in unserer Provinz ist direkt den höheren Kasten unterstellt. Die Ordnungshüter gebärden sich als besessene Hüter der Tradition, als Verbündete der Stammesfürsten. Es ist unmöglich, eine einflussreiche Familie zu beschuldigen, vor allem, wenn das Opfer eine Frau ist. Der Brauch will, dass sie keine Rechte hat. Sie wird in diesem Sinne erzogen, und niemand hat mir je gesagt, dass es in Pakistan eine Verfassung gibt. Das offizielle Rechtssystem meines Landes ist mir gänzlich unbekannt, es ist den Gebildeten und Reichen vorbehalten.

    Mit ihrer öffentlichen Anklage tritt Mukhtar Mai aus der den Frauen traditionell verordneten Unsichtbarkeit heraus. Ihr Bericht macht deutlich, wie sehr die festgefügte Ordnung nun ins Wanken gerät. Vergeblich versucht die Bezirkspolizei, die rebellierende junge Frau zu stoppen – mit angeblich gut gemeinten Warnungen, Drohungen, immer neuen Verhören, gefälschten Protokollen. Doch es ist zu spät: Eine Lokalzeitung hat über den Fall berichtet. Die Geschichte verbreitet sich wie ein Lauffeuer weit über Pakistan hinaus. Bald darf Mai bei einem Richter vorsprechen, den sie überzeugt und für ihre Sache gewinnt. In einer aberwitzigen juristischen Auseinandersetzung bringt sie ihre Peiniger hinter Gitter. Sie und ihre Familie leben seitdem unter Polizeischutz.

    Mukhtar Mai schildert in ihrer Autobiographie einen Prozess der Selbstfindung und -Erkenntnis. In Gesprächen mit Journalisten und Vertretern von Menschenrechtsorganisationen lernt sie, dass sie mit ihrem Schicksal nicht allein dasteht. Und erkennt im Zugang zu Bildung den einzigen Ausweg. Als die Regierung eine Ministerin mit einem Scheck nach Meerwala schickt, steht ihr Entschluss fest.

    "500.000 Rupien, in etwa 7000 Euro. Plötzlich kommt mir eine Idee, und ich sage spontan: "Ich will den Scheck nicht, ich will eine Schule!" – Sie lächelt. "Eine Schule?" – "Ja, eine Schule für die Mädchen in unserem Dorf. Wir haben nämlich keine."

    Und diese Schule bekommt sie dann auch – gegen alle Widerstände im Dorf:

    Täglich höre ich zu, wenn die Mädchen ihre Lektionen aufsagen, wenn sie auf dem [...] Pausenhof diskutieren, lauthals lachen oder umher rennen. [...] Es war vorbestimmt, dass diese Schule entstehen würde, und ich werde ein Leben lang für ihre Erhaltung kämpfen.

    "Man muss eine unglaubliche Pionierarbeit leisten, um die Eltern zu überzeugen, ihre Mädchen zur Schule zu schicken. Es ist in Pakistan nicht üblich, dass die Mädchen zur Schule geschickt werden, wenn man überhaupt das Geld dazu hat, dann die Jungen. Die Mädchen sind für den Haushalt und zum Heiraten vorgesehen."

    In ein paar Jahren werden diese kleinen Mädchen über genug Wissen verfügen, um ihr Dasein anders zu gestalten, als es zum Beispiel mir und meinen Schwestern möglich war. Das ist meine größte Hoffnung.

    Noch steht das abschließende Urteil des Obersten Pakistanischen Gerichtshofes im Fall Mukhtar Mai aus. Doch die Geschichte der Analphabetin, die es mit dem Mächtigen aufgenommen hat, ist in fast jeden Winkel des Landes vorgedrungen. Und Mukhtar Mai ist heute eine international agierende Aktivistin, eine Ikone der Frauenrechtsbewegung.

    Ungewollt bin ich zum Sinnbild für all die Frauen geworden, die unter der Gewalt der Patriarchen und Stammesführer leiden, und wenn dieses Bild die Grenzen überschreitet, dann soll es meinem Land dienen. Dies ist die wahre Ehre meiner Heimat: es einer Frau zu ermöglichen, sei sie gebildet oder nicht, gegen das Unrecht anzukämpfen, das ihr angetan wurde.

    Mukhtar Mais Autobiographie ist eine erschütternde, empörende und schließlich doch ermutigende Geschichte. Mai, die ihr Buch mit Hilfe der Autorin Marie-Therese Cuny geschrieben hat, macht es ihren Lesern außerdem leicht: Denkbar nüchtern gibt sie ihre Erlebnisse zu Protokoll. Da spricht tatsächlich das einfache Mädchen vom Dorf. Das ist nicht unbedingt ein literarischer Genuss, aber es ist authentisch. Und die rhetorische Unbefangenheit, die Klarheit, ja die Naivität des Textes verleihen dieser schweren Lektüre immerhin eine gewisse Leichtigkeit.
    Christina Janssen über Mukhtar Mai: "Die Schuld, eine Frau zu sein". Veröffentlicht im Droemer Verlag München, das Buch umfasst 233 Seiten und kostet 16 Euro und 90 Cent.