Hildesheim, Sommer 2010. Ein altes Kasernengelände. Rainer Langhans und Fritz Teufel, zwei Aktivisten der 68er-Generation, stehen vor Gericht im Kommune-1-Brandstifterprozess. Nebeneinander sitzend tragen sie ihre Stellungnahmen vor.
Doch etwas stimmt da nicht, Gegenwart und Vergangenheit fließen ineinander: Rainer Langhans hat sich in einen weißhaarigen Alt-Hippie verwandelt – es ist tatsächlich Rainer Langhans, um Jahrzehnte gealtert. Fritz Teufel aber, im Sommer verstorben, zeigt sich mit jugendlichem Gesicht: Ein 22-jähriger Student hält seine Rede.
Beim Reenactment sollen im Normalfall historische Figuren und Ereignisse streng authentisch nachinszeniert werden. In diesem Fall stellen zwei Dutzend Studenten sowie 300 Teilnehmer die turbulenten Ereignisse der Jahre 1967/68 nach: das Attentat auf Benno Ohnesorg, die Demonstration gegen die Springer-Presse nach dem Anschlag auf Rudi Dutschke, die Schlacht am Tegeler Weg.
Worin liegt der Sinn einer solchen Darstellung, für die - mehr als 40 Jahre später - selbst der Woll-Pulli von Rudi Dutschke nach Original-Anleitung gestrickt wurde? Was hat das alles mit Authentizität zu tun?
Die Kulturwissenschaftlerin Melanie Hinz hat die Aktion an der Universität Hildesheim geleitet.
"Man ist jetzt 1968, zum Beispiel in der Art und Weise wie ein Darsteller exakt eine Dutschke-Rede imitiert, sodass man das Gefühl hat oder gar nicht mehr weiß: Läuft da jetzt ein Tonband oder spricht er selber? Er hat diese Tonspur ganz exakt auswendig gelernt und abgenommen und es kommt sozusagen kaum weiteres Gestisches oder keine weitere schauspielernde Verkörperungspraxis hinzu. Was uns interessiert am Reenactment, ist eigentlich, dass es hier nicht mehr darum geht, dass ein Performer, ein Schauspieler in seiner Leistung, wie er Dutschke spielt, authentisch ist, sondern dass wir eigentlich gar nicht mehr sagen können, der spielt den jetzt. Sondern der verwirklicht den. Der Maßstab, dass wo die Bezugnahme liegt, die liegt nicht mehr im Selbst, sondern beispielsweise in einer politisch-historischen Wirklichkeit."
"Im Zentrum dieser Geschichtsobsessionen ist wieder diese Suche, wie es wirklich war, also diese Idee so zu zeigen, wie es wirklich war, das taucht plötzlich an vielen Stellen auf, ganz stark verbunden mit so einem Bedürfnis nach echtem Erleben. Was natürlich auch ganz lange Tradition hat und was sich alles an diesem Begriff Authentizität fokussiert. Und der dadurch zu so einem Gegenstand wird, der ein großes Fragezeichen auch erstmal ist."
Auf der einen Seite steht das Bedürfnis, durch Geschichte Identität zu erlangen. Denn der Theaterwissenschaftler Ulf Otto, der das 68er-Reenactment mit inszeniert hat, fühlt sich nach eigenem Bekunden einer "geschichtslosen Generation" zugehörig. Er und Melanie Hinz pochen auf das Recht, "dabei" zu sein und somit zu "einem Teil von Geschichte" zu werden - was in der Realität allerdings nur stellenweise gelungen sei.
Auf der anderen Seite fragen sich die Wissenschaftler, ob die gegenwärtig zu beobachtende Suche nach Authentizität – welche Ausdrucksformen sie auch immer annimmt – wirklich neu ist. Ulf Otto:
"Ist das, was uns jetzt unter diesem Schlagwort Authentizität begegnet, etwas Neues, was möglicherweise durch neue Medienkulturen produziert wird? Oder ist es aber vielleicht etwas ganz ganz Altes, was uns immer noch begleitet? Als vom Theater her kommend, würde ich immer eher gucken: Kennen wir das nicht alles schon? Hat da nicht was überlebt? Anstatt wieder den nächsten neuen Bruch der neuen Medienwirklichkeit zu betonen. Es sind glaube ich ganz alte Ideale und Vorstellungen von Erleben und Wirklichkeit, die uns da heimsuchen."
Um sich dem Thema anzunähern, hat die Kunsthistorikerin Uta Daur an der Freien Universität Berlin eine Tagung organisiert. Am Theaterwissenschaftlichen Institut ging es in der vergangenen Woche um künstlerische und kulturelle Ausdrucksformen von Authentizität – oder vielmehr den Versuch, diese nachzubilden.
"Die Idee der Tagung liegt darin, dass die beiden Begriffe Authentizität und Wiederholung und auch damit verbundene Phänomene enger miteinander verwoben sind und häufiger miteinander einhergehen als allgemein angenommen wird. Ein weiterer Punkt ist auch, dass sich in einer Kultur der Kopie gesamtgesellschaftlich ein neues und auch ein verstärktes Verlangen nach Authentizität gebildet hat und das zeigt sich in so populären Phänomenen wie dem Reenactment."
Dass die gegenwärtige Gesellschaft von einem großen Bedürfnis nach dem Echten und Unverfälschten bestimmt wird, lässt sich schon länger beobachten. Die Menschen suchen mit vielerlei Mitteln nach Identität. Sie lesen Ratgeber oder suchen Therapeuten auf, um das verschüttete Innere freizulegen. In der medial bestimmten Wirklichkeit gelangen Vorbildfiguren wie der frühere deutsche Nationaltorwart Oliver Kahn an die Spitze.
Auch Historisches hat schon lange Konjunktur: Reenactments finden schon seit den 1960er Jahren vor allem im angloamerikanischen Raum statt. Da stellen sogenannte Hobbyisten neben zivil- und kriminalhistorischen Ereignissen vor allem militärhistorische Schlachten nach. Sie beschäftigen sich in ihrer Freizeit mit dem amerikanischen Bürgerkrieg oder dem 1. und 2. Weltkrieg und wollen das Erleben und Empfinden eines Soldaten nachvollziehen.
"Das Paradox ist, dass diese Leute so sehr nach dieser authentischen Erfahrung streben, aber dass es eigentlich gar nicht möglich ist, dieses historische Ereignis tatsächlich aktuell herzustellen. Es ist eine Wiederholung, und die Wiederholung unterscheidet sich von dem ursprünglichen Ereignis."
"Ein Begriff, den man rein bringen könnte, wäre etwas provokant: Magie! Zu sagen, es geht bei vielen Praktiken scheinbar um Beschwörung von historischen Ereignissen. Es wird nicht mehr dargestellt nur, sondern es werden Sachen beschworen. Es erinnert an Ritualvollzüge, teilweise, Praktiken, die man beobachten kann."
Von Authentizität wird im Deutschen ungefähr seit der Mitte des 18. Jahrhunderts gesprochen. Der Begriff hat vielerlei Bedeutungen und verweist zum einen auf Echtheit im Sinne eines Originals, zum anderen auf Glaubwürdigkeit, Urheberschaft sowie Autorität.
Aber erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wandelt er sich zu einem zentralen philosophischen und kunstwissenschaftlichen Terminus. In der Bedeutung von wahrhaftig und genuin bezieht er sich nun auch auf Kunst und Literatur.
Mit der Postmoderne aber gerät der Begriff in die Kritik. Die Zweifel am Authentischen und Echten wachsen. Das Spiel mit der Kopie tritt – wie etwa in der Kunst Andy Warhols - in den Vordergrund.
"In der postmodernen Kunstdiskussion wird nun vor allem der Wert der Originalität und Echtheit von Werken infrage gestellt. Und diese Kritik des Begriffs hat sich durchgesetzt. Wie ich vorher schon erwähnt habe, sprechen wir deswegen heute eben auch von Authentizitätsfiktionen und Inszenierung von Authentizität. Und dem Begriff des Authentischen wird dann in der postmodernen Debatte entgegengesetzt, dass alles immer irgendwie schon Mal da war. Und nun wird der Begriff Wiederholung relevant, wobei dieser Begriff meist nicht in der Form einer Kopie gesehen wird, sondern es wird immer auch eine Differenz angenommen, die zu dem, was wiederholt, wird, steht."
Auch auf der politischen Bühne bildet Wiederholung ein zentrales Element, sagt der Theaterwissenschaftler Christoph Scheurle. Was Politiker in ihren Fraktionen, mit dem Koalitionspartner oder dem politischen Gegner aushandeln, bleibt der Öffentlichkeit zunächst verborgen. Um ihre Entscheidungen dennoch transparent zu machen, inszenieren die Politiker in der parlamentarischen Debatte die Diskussion noch einmal nach.
"Also das, was kommuniziert werden soll, nämlich diese ganzen Vorgänge in der Politik, zeigen sich nach außen hin immer als ein Wettstreit und vielleicht auch als Dissonanz. Was aber in den Verfahren eher ein Aushandlungsprozess, der auf Kompromiss baut, ist. Und dadurch haben wir eigentlich immer eine wahnsinnige Diskrepanz zwischen dem, was tatsächlich in der Politik stattfindet und dem, wie es sich nach außen hin zeigt."
Diese Diskrepanz bleibt der Öffentlichkeit nicht verborgen. Sie wird häufig als Mangel an Authentizität sowie als politisches Theater kritisiert.
"Jetzt ist aber das Problem in einer Mediendemokratie, dass wir gar nicht so viel Zeit haben, das alles im Einzelnen aufbereitet zu bekommen. Das heißt, wir erleben eigentlich immer nur verdichtete und dramaturgisch zugespitzte Formen dieses Aushandlungsprozesses. Was dann aber auch dazu führen kann, dass wir das ganz anders wahrnehmen als das, was eigentlich gesagt werden soll"
beschreibt Scheurle das Dilemma, politische Entscheidungsprozesse nachvollziehbar zu machen. Bestes Beispiel für ein "Kommunikationsdesaster" ist seiner Ansicht nach "Stuttgart 21". Das Verfahren um den Umbau des Hauptbahnhofs hätten die Politiker der Öffentlichkeit nur ungenügend vermittelt. Das "Reenactment" längst verhandelter Argumente und Gefühle sei aber unbedingt nötig.
Wenn ein Politiker sich im Deutschen Bundestag empört zeigt, sieht Scheurle darin keine Manipulation. Denn im Unterschied zum historischen Reenactment, bei dem Unbeteiligte längst Vergangenes nachstellen, wiederhole der Politiker sein eigenes echtes Gefühl.
"Erstens, weil wir als Souverän ein Recht darauf haben, über die Vorgänge zu erfahren, was los ist und aber auch, damit sozusagen dem Verfahren, der Legitimierung Genüge getragen ist, müssen wir nochmal diesen öffentlichen Prozess sehen."
"Wer hätte gedacht, dass das höchste Regierungsamt schon in diesem Jahr einer Frau übertragen wird, wer hätte das alles gedacht, meine Damen und Herren? Dass alles ist für viele von uns eine Überraschung und ich sage manches davon natürlich auch für mich."
Angela Merkel nach ihrem Wahlsieg im Jahr 2005. Die Öffentlichkeit musste sich erst an ihre wenig geschmeidige Art gewöhnen. Anders als bei dem Mediendarsteller Gerhard Schröder fragten sich nicht wenige: welcher Mensch steckt hinter dem zugeknöpften Blazer?
"Aber, es ist nicht die größte Überraschung meines Lebens. Die größte Überraschung meines Lebens ist die Freiheit! Mit vielem habe ich gerechnet, aber nicht mit dem Geschenk der Freiheit vor meinem Rentenalter."
Längst ist die Sprödigkeit der Kanzlerin kein Thema mehr, meint Christoph Scheurle. Er hat die Selbstdarstellung deutscher Bundeskanzler im Fernsehen untersucht. Politiker, die überzeugen können, hätten ihre Darstellungsmittel im Griff. Auch Angela Merkel komme in den Medien – auf ihre Weise – als echt an:
"Ein Politiker wirkt in meinen Augen dann authentisch, wenn eben keine Diskrepanzen zwischen dem, was er sagt und wie er sich gibt, entstehen.
Also Angela Merkel könnte nicht so vor der Kamera spielen in Anführungsstrichen, wie Gerhard Schröder das könnte. Sondern sie muss sich auf das beziehen, und sie muss auf das bauen, was sie an körperlichen und stimmlichen sprachlichen usw. Darstellungsmitteln hat. Wenn sie die einsetzt und auch aus ihrer darstellerischen Limitierung überhaupt kein Hehl macht, würde ich sagen ist das unproblematisch. Sie darf nur nicht versuchen, etwas sein zu wollen, was sie nicht sein kann, weil ihr dazu das Talent fehlt und die Mittel."
"Es gibt den anderen Fall eines Menschen, der ein Mensch von Schrot und Korn ist, und auch vielleicht ein bisschen skurril. Und sich überhaupt nicht schert um die anderen. Das ist dann verbunden mit Begriffen wie Zivilcourage oder echtes politisches Urgestein. Stichwort Franz-Josef Strauß oder Helmut Schmidt oder andere, nicht?"
Ein authentischer Mensch muss Kante zeigen, sagt Peter Walschburger, Professor für Psychologie an der FU Berlin. Persönlichkeit zu zeigen, ist für ihn verbunden mit moralischen Einstellungen und dauerhaften ethischen Wertüberzeugungen.
"Es ist verbunden mit einer gewissen Reflexionsfähigkeit. Man muss ihm unterstellen, dass die Sachen von ihm selber kommen mit einer gewissen Originalität im Denken und im pragmatischen Denken und Handeln. Obwohl ich sagen würde auch, eine gewisse Inszenierung ist immer notwendig. Die Inszenierung bildet sozusagen den Kontext eines wirkungsvollen Auftritts."
Ein Ort, an dem beides stattfindet – das Reenactment und die authentische Wiederholung persönlicher Gefühle - ist Berlin-Hohenschönhausen. In der Stasi-Gedenkstätte, der ehemaligen Untersuchungs-Haftanstalt der Staatssicherheit, erzählen Zeitzeugen, was sie in ihrer Haftzeit hier erlitten haben. Seit Jahren schon führen viele von ihnen die Besucher durch die Zellen. Wieder und wieder erzählen sie ihre Geschichte.
Die U-Haft und die psychische Misshandlung sind zwar längst vorbei. Weil der Zeitzeuge sie aber selbst erlebt hat, wirkt er beim Rundgang durch die Gedenkstätte viel authentischer als jene Hobby-Reenacter, die weit entfernte Schlachten nachstellen.
Die britische Kulturwissenschaftlerin Sara Jones untersucht die kulturelle Erinnerung an die Stasi an jenen Orten, die als authentisch dargestellt und von den Besuchern, als solche wahrgenommen werden. Sie betont, dass selbst die Erzählung des Zeitzeugen einem ständigen Wandel unterliegt:
"Weil die Referenten zum Beispiel auf Fragestellungen von den Besuchern reagieren oder das narrativ in einem neuen politischen Kontext erzählen, mit neuen Erkenntnissen bereichern und so weiter und sofort ist das jedes Mal geändert. Eine authentische Wiederholung sozusagen (lacht). Weil es jedes Mal neu ist, ist es auch jedes Mal wieder authentisch. Und auch von den Besuchern als authentisch wahrgenommen."
"Hohenschönhausen hat mich persönlich außerordentlich beeindruckt, gerade auch in der Authentizität der Wirkung des Ortes, weil da ja alles so gelassen wurde, wie das damals war, Stasigefängnis, und weil Menschen, die das selber erlebt haben, zurückhaltend aber sehr echt einfach sagen, was damals war. Das ist der eine Punkt. Aber wenn ich mir vorstelle - ich war nur einmal dort - ich würde jetzt jede Woche eine Gruppe von Studierenden da hinführen, dann könnte ich mir vorstellen, dass sich da mein Eindruck dann auch verändert. In der Regel ist es so, dass wenn ein Ereignis, was uns tief packt, häufiger wiederholt wird, dann verflacht es halt auch."
Doch etwas stimmt da nicht, Gegenwart und Vergangenheit fließen ineinander: Rainer Langhans hat sich in einen weißhaarigen Alt-Hippie verwandelt – es ist tatsächlich Rainer Langhans, um Jahrzehnte gealtert. Fritz Teufel aber, im Sommer verstorben, zeigt sich mit jugendlichem Gesicht: Ein 22-jähriger Student hält seine Rede.
Beim Reenactment sollen im Normalfall historische Figuren und Ereignisse streng authentisch nachinszeniert werden. In diesem Fall stellen zwei Dutzend Studenten sowie 300 Teilnehmer die turbulenten Ereignisse der Jahre 1967/68 nach: das Attentat auf Benno Ohnesorg, die Demonstration gegen die Springer-Presse nach dem Anschlag auf Rudi Dutschke, die Schlacht am Tegeler Weg.
Worin liegt der Sinn einer solchen Darstellung, für die - mehr als 40 Jahre später - selbst der Woll-Pulli von Rudi Dutschke nach Original-Anleitung gestrickt wurde? Was hat das alles mit Authentizität zu tun?
Die Kulturwissenschaftlerin Melanie Hinz hat die Aktion an der Universität Hildesheim geleitet.
"Man ist jetzt 1968, zum Beispiel in der Art und Weise wie ein Darsteller exakt eine Dutschke-Rede imitiert, sodass man das Gefühl hat oder gar nicht mehr weiß: Läuft da jetzt ein Tonband oder spricht er selber? Er hat diese Tonspur ganz exakt auswendig gelernt und abgenommen und es kommt sozusagen kaum weiteres Gestisches oder keine weitere schauspielernde Verkörperungspraxis hinzu. Was uns interessiert am Reenactment, ist eigentlich, dass es hier nicht mehr darum geht, dass ein Performer, ein Schauspieler in seiner Leistung, wie er Dutschke spielt, authentisch ist, sondern dass wir eigentlich gar nicht mehr sagen können, der spielt den jetzt. Sondern der verwirklicht den. Der Maßstab, dass wo die Bezugnahme liegt, die liegt nicht mehr im Selbst, sondern beispielsweise in einer politisch-historischen Wirklichkeit."
"Im Zentrum dieser Geschichtsobsessionen ist wieder diese Suche, wie es wirklich war, also diese Idee so zu zeigen, wie es wirklich war, das taucht plötzlich an vielen Stellen auf, ganz stark verbunden mit so einem Bedürfnis nach echtem Erleben. Was natürlich auch ganz lange Tradition hat und was sich alles an diesem Begriff Authentizität fokussiert. Und der dadurch zu so einem Gegenstand wird, der ein großes Fragezeichen auch erstmal ist."
Auf der einen Seite steht das Bedürfnis, durch Geschichte Identität zu erlangen. Denn der Theaterwissenschaftler Ulf Otto, der das 68er-Reenactment mit inszeniert hat, fühlt sich nach eigenem Bekunden einer "geschichtslosen Generation" zugehörig. Er und Melanie Hinz pochen auf das Recht, "dabei" zu sein und somit zu "einem Teil von Geschichte" zu werden - was in der Realität allerdings nur stellenweise gelungen sei.
Auf der anderen Seite fragen sich die Wissenschaftler, ob die gegenwärtig zu beobachtende Suche nach Authentizität – welche Ausdrucksformen sie auch immer annimmt – wirklich neu ist. Ulf Otto:
"Ist das, was uns jetzt unter diesem Schlagwort Authentizität begegnet, etwas Neues, was möglicherweise durch neue Medienkulturen produziert wird? Oder ist es aber vielleicht etwas ganz ganz Altes, was uns immer noch begleitet? Als vom Theater her kommend, würde ich immer eher gucken: Kennen wir das nicht alles schon? Hat da nicht was überlebt? Anstatt wieder den nächsten neuen Bruch der neuen Medienwirklichkeit zu betonen. Es sind glaube ich ganz alte Ideale und Vorstellungen von Erleben und Wirklichkeit, die uns da heimsuchen."
Um sich dem Thema anzunähern, hat die Kunsthistorikerin Uta Daur an der Freien Universität Berlin eine Tagung organisiert. Am Theaterwissenschaftlichen Institut ging es in der vergangenen Woche um künstlerische und kulturelle Ausdrucksformen von Authentizität – oder vielmehr den Versuch, diese nachzubilden.
"Die Idee der Tagung liegt darin, dass die beiden Begriffe Authentizität und Wiederholung und auch damit verbundene Phänomene enger miteinander verwoben sind und häufiger miteinander einhergehen als allgemein angenommen wird. Ein weiterer Punkt ist auch, dass sich in einer Kultur der Kopie gesamtgesellschaftlich ein neues und auch ein verstärktes Verlangen nach Authentizität gebildet hat und das zeigt sich in so populären Phänomenen wie dem Reenactment."
Dass die gegenwärtige Gesellschaft von einem großen Bedürfnis nach dem Echten und Unverfälschten bestimmt wird, lässt sich schon länger beobachten. Die Menschen suchen mit vielerlei Mitteln nach Identität. Sie lesen Ratgeber oder suchen Therapeuten auf, um das verschüttete Innere freizulegen. In der medial bestimmten Wirklichkeit gelangen Vorbildfiguren wie der frühere deutsche Nationaltorwart Oliver Kahn an die Spitze.
Auch Historisches hat schon lange Konjunktur: Reenactments finden schon seit den 1960er Jahren vor allem im angloamerikanischen Raum statt. Da stellen sogenannte Hobbyisten neben zivil- und kriminalhistorischen Ereignissen vor allem militärhistorische Schlachten nach. Sie beschäftigen sich in ihrer Freizeit mit dem amerikanischen Bürgerkrieg oder dem 1. und 2. Weltkrieg und wollen das Erleben und Empfinden eines Soldaten nachvollziehen.
"Das Paradox ist, dass diese Leute so sehr nach dieser authentischen Erfahrung streben, aber dass es eigentlich gar nicht möglich ist, dieses historische Ereignis tatsächlich aktuell herzustellen. Es ist eine Wiederholung, und die Wiederholung unterscheidet sich von dem ursprünglichen Ereignis."
"Ein Begriff, den man rein bringen könnte, wäre etwas provokant: Magie! Zu sagen, es geht bei vielen Praktiken scheinbar um Beschwörung von historischen Ereignissen. Es wird nicht mehr dargestellt nur, sondern es werden Sachen beschworen. Es erinnert an Ritualvollzüge, teilweise, Praktiken, die man beobachten kann."
Von Authentizität wird im Deutschen ungefähr seit der Mitte des 18. Jahrhunderts gesprochen. Der Begriff hat vielerlei Bedeutungen und verweist zum einen auf Echtheit im Sinne eines Originals, zum anderen auf Glaubwürdigkeit, Urheberschaft sowie Autorität.
Aber erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wandelt er sich zu einem zentralen philosophischen und kunstwissenschaftlichen Terminus. In der Bedeutung von wahrhaftig und genuin bezieht er sich nun auch auf Kunst und Literatur.
Mit der Postmoderne aber gerät der Begriff in die Kritik. Die Zweifel am Authentischen und Echten wachsen. Das Spiel mit der Kopie tritt – wie etwa in der Kunst Andy Warhols - in den Vordergrund.
"In der postmodernen Kunstdiskussion wird nun vor allem der Wert der Originalität und Echtheit von Werken infrage gestellt. Und diese Kritik des Begriffs hat sich durchgesetzt. Wie ich vorher schon erwähnt habe, sprechen wir deswegen heute eben auch von Authentizitätsfiktionen und Inszenierung von Authentizität. Und dem Begriff des Authentischen wird dann in der postmodernen Debatte entgegengesetzt, dass alles immer irgendwie schon Mal da war. Und nun wird der Begriff Wiederholung relevant, wobei dieser Begriff meist nicht in der Form einer Kopie gesehen wird, sondern es wird immer auch eine Differenz angenommen, die zu dem, was wiederholt, wird, steht."
Auch auf der politischen Bühne bildet Wiederholung ein zentrales Element, sagt der Theaterwissenschaftler Christoph Scheurle. Was Politiker in ihren Fraktionen, mit dem Koalitionspartner oder dem politischen Gegner aushandeln, bleibt der Öffentlichkeit zunächst verborgen. Um ihre Entscheidungen dennoch transparent zu machen, inszenieren die Politiker in der parlamentarischen Debatte die Diskussion noch einmal nach.
"Also das, was kommuniziert werden soll, nämlich diese ganzen Vorgänge in der Politik, zeigen sich nach außen hin immer als ein Wettstreit und vielleicht auch als Dissonanz. Was aber in den Verfahren eher ein Aushandlungsprozess, der auf Kompromiss baut, ist. Und dadurch haben wir eigentlich immer eine wahnsinnige Diskrepanz zwischen dem, was tatsächlich in der Politik stattfindet und dem, wie es sich nach außen hin zeigt."
Diese Diskrepanz bleibt der Öffentlichkeit nicht verborgen. Sie wird häufig als Mangel an Authentizität sowie als politisches Theater kritisiert.
"Jetzt ist aber das Problem in einer Mediendemokratie, dass wir gar nicht so viel Zeit haben, das alles im Einzelnen aufbereitet zu bekommen. Das heißt, wir erleben eigentlich immer nur verdichtete und dramaturgisch zugespitzte Formen dieses Aushandlungsprozesses. Was dann aber auch dazu führen kann, dass wir das ganz anders wahrnehmen als das, was eigentlich gesagt werden soll"
beschreibt Scheurle das Dilemma, politische Entscheidungsprozesse nachvollziehbar zu machen. Bestes Beispiel für ein "Kommunikationsdesaster" ist seiner Ansicht nach "Stuttgart 21". Das Verfahren um den Umbau des Hauptbahnhofs hätten die Politiker der Öffentlichkeit nur ungenügend vermittelt. Das "Reenactment" längst verhandelter Argumente und Gefühle sei aber unbedingt nötig.
Wenn ein Politiker sich im Deutschen Bundestag empört zeigt, sieht Scheurle darin keine Manipulation. Denn im Unterschied zum historischen Reenactment, bei dem Unbeteiligte längst Vergangenes nachstellen, wiederhole der Politiker sein eigenes echtes Gefühl.
"Erstens, weil wir als Souverän ein Recht darauf haben, über die Vorgänge zu erfahren, was los ist und aber auch, damit sozusagen dem Verfahren, der Legitimierung Genüge getragen ist, müssen wir nochmal diesen öffentlichen Prozess sehen."
"Wer hätte gedacht, dass das höchste Regierungsamt schon in diesem Jahr einer Frau übertragen wird, wer hätte das alles gedacht, meine Damen und Herren? Dass alles ist für viele von uns eine Überraschung und ich sage manches davon natürlich auch für mich."
Angela Merkel nach ihrem Wahlsieg im Jahr 2005. Die Öffentlichkeit musste sich erst an ihre wenig geschmeidige Art gewöhnen. Anders als bei dem Mediendarsteller Gerhard Schröder fragten sich nicht wenige: welcher Mensch steckt hinter dem zugeknöpften Blazer?
"Aber, es ist nicht die größte Überraschung meines Lebens. Die größte Überraschung meines Lebens ist die Freiheit! Mit vielem habe ich gerechnet, aber nicht mit dem Geschenk der Freiheit vor meinem Rentenalter."
Längst ist die Sprödigkeit der Kanzlerin kein Thema mehr, meint Christoph Scheurle. Er hat die Selbstdarstellung deutscher Bundeskanzler im Fernsehen untersucht. Politiker, die überzeugen können, hätten ihre Darstellungsmittel im Griff. Auch Angela Merkel komme in den Medien – auf ihre Weise – als echt an:
"Ein Politiker wirkt in meinen Augen dann authentisch, wenn eben keine Diskrepanzen zwischen dem, was er sagt und wie er sich gibt, entstehen.
Also Angela Merkel könnte nicht so vor der Kamera spielen in Anführungsstrichen, wie Gerhard Schröder das könnte. Sondern sie muss sich auf das beziehen, und sie muss auf das bauen, was sie an körperlichen und stimmlichen sprachlichen usw. Darstellungsmitteln hat. Wenn sie die einsetzt und auch aus ihrer darstellerischen Limitierung überhaupt kein Hehl macht, würde ich sagen ist das unproblematisch. Sie darf nur nicht versuchen, etwas sein zu wollen, was sie nicht sein kann, weil ihr dazu das Talent fehlt und die Mittel."
"Es gibt den anderen Fall eines Menschen, der ein Mensch von Schrot und Korn ist, und auch vielleicht ein bisschen skurril. Und sich überhaupt nicht schert um die anderen. Das ist dann verbunden mit Begriffen wie Zivilcourage oder echtes politisches Urgestein. Stichwort Franz-Josef Strauß oder Helmut Schmidt oder andere, nicht?"
Ein authentischer Mensch muss Kante zeigen, sagt Peter Walschburger, Professor für Psychologie an der FU Berlin. Persönlichkeit zu zeigen, ist für ihn verbunden mit moralischen Einstellungen und dauerhaften ethischen Wertüberzeugungen.
"Es ist verbunden mit einer gewissen Reflexionsfähigkeit. Man muss ihm unterstellen, dass die Sachen von ihm selber kommen mit einer gewissen Originalität im Denken und im pragmatischen Denken und Handeln. Obwohl ich sagen würde auch, eine gewisse Inszenierung ist immer notwendig. Die Inszenierung bildet sozusagen den Kontext eines wirkungsvollen Auftritts."
Ein Ort, an dem beides stattfindet – das Reenactment und die authentische Wiederholung persönlicher Gefühle - ist Berlin-Hohenschönhausen. In der Stasi-Gedenkstätte, der ehemaligen Untersuchungs-Haftanstalt der Staatssicherheit, erzählen Zeitzeugen, was sie in ihrer Haftzeit hier erlitten haben. Seit Jahren schon führen viele von ihnen die Besucher durch die Zellen. Wieder und wieder erzählen sie ihre Geschichte.
Die U-Haft und die psychische Misshandlung sind zwar längst vorbei. Weil der Zeitzeuge sie aber selbst erlebt hat, wirkt er beim Rundgang durch die Gedenkstätte viel authentischer als jene Hobby-Reenacter, die weit entfernte Schlachten nachstellen.
Die britische Kulturwissenschaftlerin Sara Jones untersucht die kulturelle Erinnerung an die Stasi an jenen Orten, die als authentisch dargestellt und von den Besuchern, als solche wahrgenommen werden. Sie betont, dass selbst die Erzählung des Zeitzeugen einem ständigen Wandel unterliegt:
"Weil die Referenten zum Beispiel auf Fragestellungen von den Besuchern reagieren oder das narrativ in einem neuen politischen Kontext erzählen, mit neuen Erkenntnissen bereichern und so weiter und sofort ist das jedes Mal geändert. Eine authentische Wiederholung sozusagen (lacht). Weil es jedes Mal neu ist, ist es auch jedes Mal wieder authentisch. Und auch von den Besuchern als authentisch wahrgenommen."
"Hohenschönhausen hat mich persönlich außerordentlich beeindruckt, gerade auch in der Authentizität der Wirkung des Ortes, weil da ja alles so gelassen wurde, wie das damals war, Stasigefängnis, und weil Menschen, die das selber erlebt haben, zurückhaltend aber sehr echt einfach sagen, was damals war. Das ist der eine Punkt. Aber wenn ich mir vorstelle - ich war nur einmal dort - ich würde jetzt jede Woche eine Gruppe von Studierenden da hinführen, dann könnte ich mir vorstellen, dass sich da mein Eindruck dann auch verändert. In der Regel ist es so, dass wenn ein Ereignis, was uns tief packt, häufiger wiederholt wird, dann verflacht es halt auch."