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Von desaströs bis sensationell

Desaster und Sensation: Beides war auf der 13. Münchner Biennale für neues Musiktheater anzutreffen. Während die Uraufführung von Sarah Nemtsovs "L'Absence" auf ganzer Linie floppte, begeisterte Arnulf Herrmanns Musiktheater "Wasser" sowohl Kritiker als auch Publikum.

Von Jörn Florian Fuchs | 17.05.2012
    Sehr mühsam begann Anfang Mai die 13. Ausgabe der Münchener Biennale. Die erste Uraufführung floppte auf ganzer Linie. Sarah Nemtsovs inhomogenes Werk "L'Absence" hatte mit Theater kaum etwas zu tun, die 1980 geborene Komponistin kreierte Erinnerungsräume von Holocaustopfern, für die sie immerhin teilweise sehr eindringliche Musik schrieb. Jasmin Solfaghari versuchte, in recht ästhetischen Bildern, zumindest eine Ahnung von Handlung zu vermitteln - doch letztlich war alles vergebens.

    "L'Absence" wurde zur reinen Kopfgeburt. Das zweite Stück, "Mama Dolorosa" von Eunyoung Kim, erwies sich dagegen als fast zu narrativ: eine grelle Farce aus dem Südkorea von heute, in der ein kriminelles Muttersöhnchen von Mama und Großmama umgluckt wird. Die Partie der Großmutter interpretiert ein aufgekratzter Countertenor (vorzüglich: Daniel Gloger), auch die übrigen Sänger und das Staatsorchester Braunschweig (unter Sebastian Beckedorf) müssen sich durch sehr schrille und kurzatmige Klänge arbeiten. Ein poppiger, peppiger Videoclip, inszeniert von Yona Kim, die auch das Libretto schrieb.

    Recht geglückt waren einige der kleineren Biennale-Produktionen, vor allem "A Game of Fives", fünf junge Komponisten unternahmen da erste musiktheatrale Gehversuche. Herausragend etwa Abel Paúls wundersames Spiel mit einem realen und einem imaginären Orchester oder Cathy van Ecks an allen möglichen und unmöglichen Stellen auftauchende Performer, die - mit Lautsprechern und Mikrophonen bewaffnet -, ihre Stimmen und Körper bisweilen sehr humorig erweiterten.

    Regisseur Enrico Stolzenburg und seine Dramaturgin Marion Hirte versetzten die fünf sehr heterogenen Beiträge in eine Lewis Carroll Welt, mit einem Hauch von Apokalypse.

    Doch die wirkliche Sensation dieser Saison kam erst ganz am Schluss: Arnulf Herrmanns Musiktheater "Wasser", mit einem kongenialen Libretto des Lyrikers Nico Bleutge. Herrmann ist ein langsamer Arbeiter, mit bisher eher schmalem Werkkatalog. Genau das merkt man seiner Partitur an, da ist keine Note falsch oder zu viel. Auch Nico Bleutges Text, der unter anderem eine Überschreibung von Heiner Müllers "Traumwald" beinhaltet, wiegt kein Gramm zu viel oder zu wenig. "Wasser" hat keine lineare, sondern eher eine atmosphärische Handlung. Ein Mann wacht auf, begegnet Doppelgängern, tanzt mit einer Frau, die er vielleicht von irgendwo her kennt. Ein Teppich aus Andeutungen und Erinnerungsfetzen wird da gewoben.

    Arnulf Herrmann hat für diesen gut einstündigen Psychotrip eine atemberaubende Musik geschrieben. Von einer eiernden, leiernden Schallplatte kommen elektroakustisch erweiterte Töne, irrsinnig schöne Klangtropfen durchziehen den Raum, dazu singt ein vierköpfiger Männerchor (die von Walter Nußbaum bestens einstudierte Schola Heidelberg) kunstvoll redundante Ornamente und das Ensemble Modern (unter der enthusiastischen Leitung von Hartmut Keil) wühlt sich durch vorwiegend vierteltönige Flächen.

    Außerdem gibt es jazzige Rhythmen, versch(r)obene Tänze und regelrechte Parodien auf Suspense-Filmmusiken der 50er- und 60er-Jahre. Der Männerchor zupft auch noch auf vier riesigen Saiten, die auf der Bühne angebracht sind - eine Art Riesenharfe, die voluminöse Zerrlaute von sich gibt. Boris Grappe und Sarah Maria Sun sind das seltsame Anti-Paar, dessen brillanter Gesang immer wieder direkt in Flöten und hohes Blech übergeht.

    Florentine Klepper macht aus der komplexen Vorlage bestechendes Musiktheater. Mit ihrer Bühnenbildnerin Adriane Westerbarkey schuf sie einen verrätselt-verschwommenen Raum mit altertümlichem Mobiliar, Münztelefonen, sanft schwingenden Lampen, einer Mischung aus Aquarium und Terrarium in der Mitte und vielen auf einen Gazevorhang projizierten Bildern. Man sieht Gesichter, Sterne, Abstraktes. Der Bühnenboden ist spiegelglatt und wird ständig neu geputzt, während Videoschnee fällt oder die geheimnisvolle Frau in einem Kleid umherschweift, das bei jedem Schritt wie Staub wirkenden Nebel aufwirbelt.

    Es entsteht ein somnambules Gesamtkunstwerk, das sämtliche Sinne öffnet und damit genau das einlöst, was Biennale-Intendant Peter Ruzicka vorschwebt: andere, nicht lineare Erzählweisen zu bieten, jenseits von postmoderner Beliebigkeit. Mit "Wasser" wird auf beispielhafte Weise Neuland betreten und die Entwicklung des Genres Musiktheater vorangetrieben. Hoffentlich wird "Wasser" bald auf einer - nicht eiernden - CD oder DVD verewigt.