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"Von diesem Zirkus kann man nur wenig erwarten"

Zum zweiten Mal steht der frühere russische Oligarch Michail Chodorkowski derzeit in Moskau vor Gericht. Dabei ist es schwer, sich ein umfassendes Bild über diesen Fall zu verschaffen, denn offizielle Stellen geben wenig Auskünfte. Die Verteidigung hingegen hält alle Vorwürfe gegen ihren Mandanten für absurd - doch tatsächlich liegt der Fall viel komplizierter.

Von Robert Baag |
    Der Saal im Museum für den Menschenrechtler und Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow nahe des Kursker Bahnhofs in Moskau ist brechend voll. Oppositionelle, Anwälte, Journalisten, aber auch völlig Unbekannte aller Altersgruppen wollen ihre Solidarität mit Michail Chodorkowski ausdrücken. Ihm und seinem Geschäftspartner Platon Lebedew macht der Staat jetzt zum zweiten Mal den Prozess. Umgerechnet knapp 20 Milliarden Euro aus Erdöl-Geschäften sollen die beiden zwischen 1998 und 2003 als Eigentümer des mittlerweile zerschlagenen YUKOS-Konzerns unterschlagen und an den Finanzbehörden vorbeigeleitet haben. Eine Farce wie schon der erste Prozess, finden allerdings die Anwesenden. Gespannte Stille, als die Anwältin Natalija Terechowa seine Botschaft verliest, die er in der Gefängniszelle verfasst hat:
    "Eure Anstrengungen helfen mir. Aber noch viel mehr helfen sie allen in Russland unrechtmäßig Verurteilten. Ich hoffe sehr, dass mein zweiter Prozess jetzt ein Gegengewicht zum ersten sein wird - und zwar mit einer symbolischen Wirkung, die zeigt, wie die Beziehungen zwischen unseren Justizorganen und den Menschen in unserem Land aussehen."

    Ganz still wird es im Raum, als sich Boris Moiseewitsch erhebt, der Vater von Michail Chodorkowski. Marina Filipowna, Chodorkowskis Mutter, ist anzusehen, wie sehr sie die die nun schon fünf Jahre andauernde Haft des Sohnes in Ostsibirien mitgenommen hat. Bitter klingen die Worte des Vaters:

    "Noch unter Präsident Jelzin hat unsere talentierte Jugend mitgeholfen, unser Land aus den Ruinen auszugraben. Und heute? Wo ist sie? Die einen sind im Gefängnis, die anderen in weiter Ferne! Warum hat man unschuldige Menschen - gemäß dem bekannten Putin-Zitat - 'auf der Latrine ersäuft'? Wo ist das Gericht, das gerechtes Recht spricht?! Sogar Stalin hat Talente wieder aus dem Gefängnis herausgelassen. Wladimir Wladimirowitsch Putin! Ich möchte mich bei Ihnen noch einmal für unser 'glückliches Leben' im Alter bedanken."

    Der Publizist Viktor Schenderowitsch teilt die Skepsis des alten Mannes. Immerhin drohen den Angeklagten Strafen von jeweils bis zu weiteren 22 Jahren Haft. - Schenderowitsch im Sender "Echo Moskvy":

    "Uns ist klar, dass die Entscheidung über den Prozessausgang nicht das Gericht fällt. Flattert das weiße Taschentüchlein, wird so entschieden, flattert das schwarze, dann eben anders. Im Moment scheint das schwarze Tüchlein herausgezogen zu werden. Darauf deutet die stete Entschlossenheit des Gerichts hin, alle Verfahrensanträge der Verteidigung abzulehnen, jene der Staatsanwaltschaft aber zuzulassen."

    Neuesten Umfragen unabhängiger Meinungsforscher zufolge lässt die Hälfte der Menschen in Russland der Fall Chodorkowski gleichgültig. Etwa ein Drittel äußert Mitgefühl für den Angeklagten. Zwanzig Prozent aber, so jüngst das Lewada-Institut, finden es richtig, dass dem so genannten "Oligarchen" Chodorkowski der Prozess gemacht wird.

    "Dass jemand ein Dieb ist, muss ihm nachgewiesen werden", entgegnet Schenderowitsch. "Dass, was man mit Chodorkowski veranstaltet hat, war keine Beweisführung!" Verstöße über Verstöße habe man registriert. Juristen hätten unisono erklärt, schon allein deshalb hätte man Chodorkowski mehrfach entlassen, stattdessen aber diejenigen festsetzen müssen, die ihn verhaftet hätten.

    Den wahren Dieb, so Schenderowitsch ironisch, hätte man wesentlich näher finden können. Da wäre etwa der Präsident des Landes, der eigenartigerweise über jene rätselhaften Leute Bescheid gewusst habe, die sich über die "Bajkal-Finanzgruppe" die YUKOS-Besitzanteile für die sprichwörtliche Kopeke angeeignet hätten. Er, der Präsident, kenne sie, warum auch immer.

    Im Sacharow-Museum macht unterdessen der Politologe Andrej Piontkowski auf eine weitere Signalwirkung dieses nicht nur strafprozessual bereits heftig kritisierten Verfahrens aufmerksam:

    "Bei diesem Prozess geht es nicht so sehr um Chodorkowski sondern um Präsident Medwedew. Der Macht geht es darum, der Gesellschaft die Hoffnung zu nehmen, unter Medwedew könnte es vielleicht zu einem politischen 'Tauwetter' kommen."

    Über den Prozessausgang macht Schenderowitsch sich keine Illusionen. "Von diesem Zirkus", so sein Verdikt, "kann man nur wenig erwarten." Die "Verwaltung" des Zirkus müsse ausgetauscht werden. Das aber sei schon die Antwort auf die Frage, ob Chodorkowski eine Perspektive habe, wieder die Freiheit zu erlangen.