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Von Engeln, Menschenfressern und Zauberstühlen

Isländer sind eng mit der nordischen Sagenwelt verbunden. Auch in den Kinderbüchern treten Figuren aus den Sagas und Eddas auf, Menschenfresser, geheime Briefe in alten, verzauberten Stühlen und imaginäre Engel, die einem beim Selbstbewusstsein helfen. Angela Gutzeit stellt die Neuheiten vor.

Von Angela Gutzeit | 08.10.2011
    Den deutschen Lesern, die an isländischer Literatur interessiert sind, ist vielleicht Kristin Steinsdottirs Erwachsenroman "Eigene Wege" bekannt. Jetzt, zur Buchmesse, legt die 65-jährige Autorin nach mit dem historischen Roman "Im Schatten des Vogels" und dem Hörbuch "Leben im Fisch", in dem sie in erstaunlich gutem Deutsch über ihre Kindheit in einem kleinen isländischen Fischerdorf erzählt. Aber Kristin Steinsdottir, die zurzeit Vorsitzende des Isländischen Schriftstellerverbandes ist, hat sich in Island vor allen Dingen einen Namen als Kinderbuchautorin gemacht. 30 Kinderbücher hat sie verfasst, von denen jedoch bislang keins den Weg zu den deutschen Lesern gefunden hat. Dabei liegt ihr 2002 in Island erschienenes Buch "Ein Engel in der Weststadt" bereits fertig übersetzt vor. Nur ein Verlag, der fehlt noch.
    Zu entdecken wäre eine sehr anrührende Geschichte, gebaut aus vielen kleine Episoden, die die Ängste und Nöte eines achtjährigen Jungen zum Thema hat. Die Autorin erzählt aus seiner Perspektive und zieht uns auf diese Weise hinein in die Fantasiewelt ihres Helden. Sie lässt uns mit ihm zusammen erleben, wie es sich anfühlt, wenn scheinbar harmlose Dinge und Situationen sich ins Unheimliche und Monströse aufblähen. Askur, der mit seiner Mutter in einem anonymen Wohnblock in Reykjavik lebt, glaubt sich von einem Werwolf im Keller bedroht, gleichzeitig aber auch von einem Engel beschützt. Zwischen diesen beiden Polen - zwischen Himmel und Hölle - versucht sich Askur die Welt zu erklären und einen Weg zu bahnen.

    In unserem Treppenhaus sind Gucklöcher in jeder Tür.
    Ich finde sie unangenehm und mag es nicht, wenn mich jemand auf der Treppe beobachtet. Mama sagt, dass diese Löcher keine Gucklöcher seien und dass niemand die anderen beobachtet. Wenn man das nur glauben könnte.
    Sie sagt, dass die Löcher nur dazu da seien, um durch sie hinauszusehen, wenn Leute an der Tür klingeln und zu sehen, wer da kommt.
    "Sind sie wegen des Werwolfs eingebaut worden?", fragte ich nach einigem Nachdenken.
    "Lass niemanden diesen Unsinn hören!", antwortet sie.
    Ich würde dem Werwolf nicht öffnen, wenn er an unserer Tür heulte. Wenn er klingelt, rufe ich die Polizei an und lasse ihn einfach verhaften.


    "Das Buch ist so zustande gekommen, dass ich einen Engel gefunden habe, in meiner Wohnung, einen Holzengel. Wir haben uns befreundet - ich und der Engel. Und nach einem Jahr habe ich angefangen, ein Buch zu schreiben. Ein Junge, der am Anfang so acht Jahre alt ist, der geht durch so einige Sachen. Also, man kann das Buch so lesen, je nachdem, was man sucht. Da ist ein Märchen drin. Da ist ziemlich viel über Mobbing die Rede. Es wird gemobbt in der Schule. Das hat man in Island ziemlich viel, wie man vielleicht auch in Deutschland hat. Weiss ich nicht. Und das wollte ich dann anfassen. Ich finde, das ist ein Thema, das aufgemacht werden muss. Dann ist da Freude, Trauer. Seine Eltern wohnen nicht mehr zusammen. Sein Vater heiratet wieder. Er kriegt einen kleinen Bruder. Es ist alles ein bisschen kompliziert. Aber innerhalb knapp zwei Jahren lernt er eben sehr viel. Er wird einfach groß und versteht viele Sachen auf eine andere Weise. Und das war mein Ziel, dass man verschiedene Dinge rausnehmen könnte."

    Ich wäre gern ein Zauberer. Dann würde ich den Zauberstab schwingen und all das Schlechte verschwinden lassen, wie ich es beim Computer mache, wenn ich die Entfernen-Taste drücke. Dann würde ich in jeder Wohnung einen Engel einsetzen.

    Aber auch ohne Zauberstab besiegt Askur schließlich seine Ängste. Schritt für Schritt - und immer in Kontakt mit seinem imaginierten Engel - gewinnt er an Selbstvertrauen. Er lernt, zu differenzieren. Im Haus wohnen eben nicht nur schreckliche Leute, in der Schule gibt es nicht nur blöde Kinder und sein Vater liebt ihn weiterhin, auch wenn er nun mit einer anderen Frau zusammenlebt und er mit ihr einen weiteren Sohn hat. Die Dämonen treten zurück und am Ende legt Askur seinem neugeborenen Halbbruder einen kleinen Holzengel in die Wiege.
    Askur ist in der nordischen Mythologie der erste Mann auf der Erde. Folglich muss er sich behaupten - wie sein kleiner Nachfahre und Namensvetter auch. Kristin Steinsdottirs Verbundenheit mit der nordischen Sagenwelt und mit isländischer Naturmythologie ist unverkennbar. Sie liebt den Zauber der Verwandlung und glaubt an die Kräfte, die in ihr schlummern. Ein Glaube, den sie mit nicht wenigen Isländern teilt.

    Unsere neue Wohnung lag in der Lichtfeldstraße, in der obersten Etage eines Hauses, das mit graubraunem Zement aus Muschelsand verputzt war. Gegenüber erstreckte sich hinter einer hohen, mit Moos bewachsenen Mauer eine Art Park. Es war niemand auf der Straße, nur ein Junge in einem altmodischen blauen Anorak streichelte eine weiße Katze, die sich faul auf der Mauer räkelte. Als wir aus dem Auto stiegen, blickte er kurz herüber, spielte dann aber weiter mit der Katze.

    So beginnt der neue Roman der 1970 in Reykjavik geborenen Schriftstellerin Gerdur Kristny und so - kurze Kostprobe - hört sich das auf Isländisch an, gelesen von der Autorin selbst.

    Das Buch ist für den diesjährigen Gastlandauftritt Islands von Karl-Ludwig Wetzig ins Deutsche übersetzt worden und kürzlich unter dem Titel "Die letzte Nacht des Jahres" im Bloomsbury Kinderbuchverlag erschienen.
    Kinder wachsen in Island nach wie vor mit den Geschichten der mittelalterlichen nordischen Literatur auf, mit den Sagas und Eddas. Und so sagt auch diese Autorin, die doch fast ein viertel Jahrhundert jünger ist als Kristin Steinsdottir, dass sie die nordische Mythologie lieben und aus ihr immer wieder schöpfen würde. So hat sie beispielsweise in ihrem ersten Gedichtband - wörtlich übersetzt "Eisnachricht" - ihrer Namensvetterin Gerdur, der Riesentochter von Gymir aus der Lieder-Edda, eine Stimme gegeben. Aber die Jüngeren, so bestätigt Gerdur Kristny, gehen mit diesem Erbe anders um.

    So meint Gerdur Kristny , dass sie in der Tat ihre Themen sehr häufig in der alten isländischen Literatur suche. So habe sie schon früher oft Gedichte geschrieben, die ihren Ursprung in der nordischen Mythologie hatten. Sie sehe ihre Aufgabe als zeitgenössische Autorin aber eher darin, eine Idee davon zu geben, wie man diese alten Geschichten heute anders lesen könne als früher. So zum Beispiel in ihrem Gedichtband "Bluthuf", das ein Thema aus der alten Mythologie behandelt, eigentlich eine romantische Liebesgeschichte, in der eine Frau für ein Schwert und ein Pferd verkauft werde. Und das zum Beispiel, so meint Gerdur Kristny, muss man heute natürlich ganz anders vermitteln.

    Gerdur Kristny schreibt abwechselnd Bücher für Kinder und Erwachsene. In 16 Jahren sind 18 Bücher zusammengekommen. Das neue Jugendbuch "Die letzte Nacht des Jahres" hat mit dem Sagenschatz dieses Mal nichts zu tun. Aber ihrem Gedichtband "Bluthuf", der in den alten Mythen wurzelt, hat sie für diese Geschichte ein wesentliches Element entnommen - das Motiv des "falschen Stuhls" - und, so ist hinzuzufügen - das Spiel mit der Angst.
    Und dieses Spiel beherrscht Gerdur Kristny, in Island und Dänemark eine hochgelobte Autorin, in ihrem Jugendbuch geradezu perfekt. Schon auf den ersten Seiten dieses Fantasyromans deutet sich an, dass der Familie von Eya nichts Gutes in ihrem neuen Domizil bevorsteht. Die 14-Jährige ist mit ihren Eltern in Reykjavik in einen anderen Stadtteil gezogen und nun richten sie die neue Wohnung ein. Erste Boten des Unheils kündigen sich an - aber nur das Mädchen scheint sie wahrzunehmen: Die Astlöcher der Holzpaneele starren sie an wie Augen und der Friedhof, den man beim Blick aus dem Fenster sieht, wird jeden Tag größer. Auch der Junge in dem blauen Anorak, dem im Verlauf der Geschichte immer nur Eya begegnen wird, taucht immer öfter auf. Sölvi, so heißt er, sucht ganz offensichtlich die Nähe Eyas - vor allen Dingen von dem Augenblick an, als der Vater in einem Antiquitätenladen für wenig Geld einen uralten geschnitzten Stuhl ersteht. In einem geheimen Fach dieses Möbelstücks findet er ein Bündel Briefe eines etwa 14-jährigen Mädchens mit Namen Halla, das vor ungefähr hundert Jahren gelebt hatte. Von diesem Augenblick an bricht sich das Unglück Bahn. Immer dann, wenn sich der Vater in diesen Stuhl setzt, treten Krankheitssymptome auf, die der Spanischen Grippe ähneln, einem Thema, für das sich der Gymnasiallehrer seit seinem Studium besondern interessiert. Nach und nach verschlimmern sich die Symptome.

    Kunstvoll wird hier ein feines Netz gewoben zwischen der Gegenwart der Protagonisten und einem rätselhaften Geschehen in der fernen Vergangenheit, zwischen dem Jungen mit dem blauen Anorak und den Briefen des unbekannten Mädchens Halla, zwischen der Krankheit des Vaters und der Krankheit, von der in den geheimnisvollen Briefen die Rede ist, zwischen den Lebenden und den Toten. Im Mittelpunkt der magische Stuhl, der in der Wohnung von Eya ein Eigenleben beginnt und alle Mitglieder dieser Familie zu vernichten droht.

    Sölvi folgte mir ins Wohnzimmer, und da thronte der Stuhl. Ein dunkler Schatten fiel über seine Rückenlehne, als hätte jemand ein schwarzes Tuch darüber gebreitet.

    'Ich weiß, es klingt komisch, aber ich bin sicher, dass der ihn krankgemacht hat.‘
    Sölvi sah abwechselnd mich und den Stuhl an. Sicher hörte ich mich wie eine Verrückte an, darum suchte ich nach weiteren Erklärungen. 'Vielleicht ist er gegen das Leder allergisch oder gegen die Polsterung.‘
    'Möglich. Außer ...‘, Sölvi zögerte, 'außer in diesem Stuhl steckt etwas, was nicht hineingehört.‘


    Fast unmerklich zieht die Autorin die Spannungsschraube an. Die Kunst besteht darin, sie nicht zu überdrehen. Gerdur Kristny beherrscht diesen fein austarierten Balanceakt, das Alltägliche nach und nach mit Horror aufzuladen, mit bewundernswerter Souveränität.

    Ganz weit vorn in der Liga der nordischen Spannungsmeister spielt Yrsa Sigurdardottir mit. Die 1963 geborene, international gefragte Autorin verfasste Kinderbücher, bevor sie Kriminalromane für Erwachsene schrieb. Nach längerer Zeit hat Yrsa Sigurdardottir nun wieder ein Buch für junge Leser geschrieben. Ihrem Genre ist sie dabei treu geblieben. Der über 300 Seiten dicke Roman "Die IQ-Kids und die geklaute Intelligenz" ist ein Kinderkrimi und in diesem Herbst bei Fischer-Schatzinsel erschienen.

    Anspruchsvolle Kriminalromane sind komplexe Gebilde, die in der Regel die Wirklichkeitsnähe suchen und weniger das Magische bemühen. Das Unheilvolle entspringt hier nicht dem Jenseits oder fantastischen Parallelwelten, sondern dem perfiden, oft alltäglichen Verbrechen, das auch in unserer Gesellschaft und unserer eigenen Umgebung passieren könnte. In Yrsa Sigurdardottirs preisgekrönten Kriminalromanen spielen zwar nicht selten magische Kultgegenstände, heilige Orte und uralte Rituale eine Rolle - in dieser Hinsicht ist sie eben doch ganz Isländerin - aber die Erdung in realistischen Ereignissen ist doch immer gewährleistet - und nicht selten versieht sie mit einer gewissen gesellschaftskritischen Note.

    Ihr Kinderkrimi "Die IQ-Kids und die geklaute Intelligenz" widmet sich einem Thema, das wissenschaftlich gesehen, noch ganz jung ist, aber das Potenzial hat, uralte Ängste zu aktivieren. Es geht um das Klonen, nicht nur von Tieren, sondern auch von Menschen, insbesondere von hochbegabten Kindern - was zum Glück bis jetzt noch ins Reich der Fantasie gehört.

    Da die Schulsekretärin am letzten Arbeitstag vor ihrer Pensionierung Briefe vertauscht, erhalten die Eltern von Raggi und Anna Lísa statt des erwarteten blauen Briefes eine Einladung zu einem Ferienkurs für hochbegabte Kinder der Firma "Biokids". Sie sollen dort unter Anleitung die Möglichkeit erhalten, ihr kreatives Potenzial zu entfalten und dieses in konkreten Projekten umzusetzen. Natürlich wissen Raggi und Anna Lísa, dass da was falsch gelaufen ist und sie für diesen Kurs überhaupt nicht infrage kommen. Trotzdem gehen sie hin und mischen sich unter die Superschlauen - was natürlich zu einiger Konfusion in ihrer Viererarbeitsgruppe führt. Die Autorin hat mit dieser Konstellation eine gute Ausgangsbasis geschaffen für Witz und Überraschungen, denn die Leistungsschwachen sind bekanntlich nicht immer die Dümmsten. Dafür geben Raggi und Anna Lisa ein deutliches Beispiel. Ihr frisches Draufgängertum und ihre freche Coolness erweisen sich als nützlich, denn bei "Biokids" stimmt was nicht. Im Firmengebäude sind Labors, die sie nicht betreten dürfen, sie entdecken Kaninchen, die absolut identisch aussehen und schließlich informiert Raggi die völlig verdatterte Magga über dubiose Aufzeichnungen, die er sich bei einem heimlichen Laborbesuch notiert hatte.

    Sie nahm das Blatt und las: "Female, IQ 163 und 11/21/98". Ihre Hände zitterten so sehr, dass ihr das Blatt aus der Hand fiel.
    "Was ist los?", fragte Raggi und hob es auf. "Was bedeuten diese Zahlen?"
    Mit bebender Stimme sagte Magga: "Weiblich mit einem Intelligenzquotient von 163 und am 21. November 1998 geboren." Sie schaute die anderen ernst an. "Das bin ich. Ich bin an diesem Tag geboren und habe diesen IQ."
    "Ach, das macht doch nichts", sagte Anna Lisa, die Maggas Besorgnis missverstand. "Ich bin mir sicher, dass du später noch einen höheren IQ erreichen kannst."
    "Höher?", blaffte Anar. "Ich weiß nicht, ob es überhaupt höhere gibt. Ein normaler Mensch hat einen IQ von 100."
    "Aber warum ist das dein Geburtsdatum?" fiel Raggi ihm ins Wort. "Wäre das nicht 21/11/98?"
    "Das macht man so in Amerika", erklärte Magga.
    (...)
    Plötzlich sagte Anna Lisa: "Dieses Fotoshooting, von dem du eben gesprochen hast, Magga, könnte dasselbe Fotoshooting sein, über das sich die Männer in der Perle unterhalten haben?" Raggi und Magga schauten sie fragend an. "Also, der mit dem amerikanischen Auto hat zu Dr. Gudgeir gesagt, sie müssten das Mädchen fotografieren und so schnell wie möglich Fotos rausschicken. Dann war da noch irgendwas mit dem Aussehen, das würde auch eine Rolle spielen."
    (...)
    "Warum hast du uns das denn nicht gleich erzählt?", fragte Magga entgeistert.


    Dr. Gudgeir ist der Direktor von "Biokids", der mit einem amerikanischen Geschäftspartner verbotene, aber sehr lukrative Vereinbarungen trifft: Die Firma soll Genmaterial von hochintelligenten Kindern liefern, um damit in den USA auf Bestellung reicher Ehepaare kluge Babies herzustellen. Und im Visier der beiden ist offensichtlich Magga.

    Diese Entdeckung verspricht eine Menge Spannung. Aber Yrsa Sigurdardottir macht es sich nach meinem Empfinden in diesem Buch zu einfach. Erst einmal bedient sie natürlich mit ihrer Figurenkonstellation das seit Enid Blyton beliebte und hundertfach variierte Schema "Vier, fünf oder auch sieben Freunde legen kriminellen Erwachsenen das Handwerk". Aber warum nicht? Das Problem in diesem Buch ist eher, dass Sigurdardottir die Gegensätze von Gut und Böse, von Erwachsenen- und Kinderwelt zu hart aufeinanderprallen lässt, sich offensichtlich für die sorgfältige Entwicklung ihrer Charaktere und des Handlungsverlaufs nicht genügend interessiert. Grobe Verkürzungen lassen Figuren und ihre Motive unglaubwürdig erscheinen. Warum zum Beispiel sind Dr. Gudgeir und seine Assistentin von vornherein äußerst unfreundlich zu den Kindern? Sie wollen doch von ihnen profitieren! Außerdem sind die Kinder freiwillig da! Merkwürdig auch, dass Magga ausgerechnet am Schwarzen Brett dieser Firma einen Zeitungsartikel entdeckt, der darüber informiert, dass der amerikanische Geschäftspartner von "Biokids" ein zwielichtiger Börsenmakler sei, bekannt dafür, am Rande der Legalität zu operieren. Es ließen sich weitere Ungereimtheiten nennen, die dem Buch nicht gut tun, und zudem der recht anspruchsvollen Thematik nicht gerecht werden.

    Krimis haben auf Island noch keine lange Tradition, vielleicht weil - wie kürzlich in einem Artikel zu lesen war - Island ein weitgehend friedliches Land ist mit geringer Kriminalität. Was allerdings ja nicht heißt, dass es in diesem Inselstaat im Nordatlantik keine Probleme geben würde, die sich für einen Kriminalroman eignen könnten. So zum Beispiel die Bedrohung von Islands wunderbarer Natur durch Wasserkraftwerke und ausländische Aluminiumfabriken. Was da so hinter den Kulissen abläuft, schildert zum Beispiel der Schriftsteller Andri Snaer Magnason in seinem aufregenden Sachbuch "Traumland". Vielleicht schreibt ja Yrsa Sigurdardottir eines Tages einen Krimi darüber - mit ihrer bewährten Kommissarin Dora, bekannt aus ihren sehr erfolgreichen Erwachsenenkrimis. Oder auch einen Umweltkrimi für Kinder. Denn diese Thematik dürfte ihr noch viel näher sein als das Klonen, denn Yrsa Sigurdardottir ist im Hauptberuf leitende Ingenieurin bei einem der größten Staudammprojekte Europas auf Island.

    Die isländische Literatur, auch die für Kinder, bringt immer wieder absolut schräge Typen hervor. Und so wenden wir uns einen Könner auf diesem Gebiet zu: Thorarinn Leifsson. Der 1966 geborene Autor, Webdesigner und Illustrator sieht sich in der Tradition des dänischen Schriftstellers Ole Lund Kirkegaard und des norwegisch-walisischen Autors Roald Dahl, beide bestens bekannt für ihre in tiefschwarzen Humor eingetauchten Kinderbücher. Man kann sagen, diese Tradition verträgt sich aufs Beste mit der oft anzutreffenden isländischen Mentalität, der Wirklichkeit einen makabren Anstrich zu geben. Aber auch mit der mittelalterlichen Sagawelt zeigt sie sich hier und dort kompatibel. Als Leifsson sein Buch "Papas Geheimnis" schrieb, dachte er zum Beispiel an Gryla aus den isländischen Kindersagas, ein Trollweib, das aus den Bergen herabsteigt, um die kleinen Kinder zu fressen. Denn Leifssons Geschichte handelt von einem Vater, der Menschenfresser ist und von diesem Übel einfach nicht runterkommt. Aber der Autor, der seine Bücher selbst illustriert und mit schrillen Gestalten bevölkert, holt sich seine Inspirationen in wohl noch stärkerem Maße aus unserer Gegenwart - in diesem Fall, was die Menschenfresserei angeht, aus Deutschland.

    "In Deutschland passieren ja viele groteske Dinge. Und dieses Buch ist inspiriert durch etwas, das in Deutschland passierte. Zum Beispiel der Menschenfresser in Duisburg. Und als ich in Kopenhagen war, gab es immer wieder Neuigkeiten über die Menschenfresser in Kiel, Norddeutschland. Kiel und Berlin, die hatten so zwei Leute, wo einer den anderen gefressen hat. Und auch die Brüder Grimm haben mich inspiriert. Also, Deutschland, war eine große Inspiration für mich!"

    Eine zweifelhafte Ehre - dass mit den Menschenfressern, aber so ist nun mal "Papas Geheimnis" entstanden" - mit dem Untertitel "Ein Buch für alle Kinder, die Probleme mit ihren Eltern haben". Und Probleme haben Jonas und Sina mit ihrem Eltern im Übermaß, denn zum menschenfleischfressenden Vater gesellt sich eine Mutter, die wegen ihres Vertreterjobs pausenlos am Computer und am Telefon sitzt und sich ganz offensichtlich wenig für die Tatsache interessiert, dass immer mehr Menschen der Umgebung verschwinden. Schließlich treibt es der Papa - zumindest in den Augen seiner Kinder - dann doch zu doll.

    Leifsson lässt die Kinder selbst erzählen und verpackt dabei das Ungeheuerliche in eine völlig unsentimentale, kraftvolle Sprache.

    In jenem Sommer wurde Sina und mir bewusst, dass unser Papa anders als andere Väter war. Und dass es nicht lohnte, andere Kinder zum Geburtstag einzuladen, weil sie sonst auf unserem Speisezettel landen könnten. Wir waren nicht scharf darauf, unsere Freunde mit Remouladensoße und Zwiebeln vorgesetzt zu bekommen.
    Aber gegen Ende des Sommers rückte die Gefahr in unsere allernächste Nähe, als der Touristenstrom nachgelassen hatte und Papas Bauch von den vielen Würstchen schon ganz prall geworden war.
    Er hatte keine Lust mehr, den Nachtschwärmern hinterher zu jagen. Da verfiel er auf die Idee, Drogen-Siggi von weiter unten in unserer Straße zu Würstchen zu verarbeiten. Drogen-Siggi war ein alter Hippi mit einer merkwürdig herabhängenden Fratze und leer dreinblickenden Augen. Er saß den ganzen Tag mit einer Wasserpfeife auf dem Balkon und rauchte irgendwelches absonderliches Kraut.
    Die Leute wurden ganz eigenartig, wenn sie eine Wurst aßen, die Papa aus Drogen-Siggi gemachte hatte. Einige Angestellte der Bank gleich um die Ecke gingen eine Woche lang morgens nicht mehr zur Arbeit. Sie aßen im Halbkreis bei Papas Würstchenbude und debattierten über den wahren Sinn des Lebens und darüber, wie unwichtig doch Geld wäre.
    Papa war in dieser Woche auch sehr komisch. Er kicherte immerzu wie ein Idiot, egal, was man zu ihm sagte. Damals fing er an, sich einen Bart stehen zu lassen und nur in einer blauen Unterhose herumzulaufen.


    Die Kinder zeigen ihren Vater schließlich an. Er wird zum Tode verurteilt, aber die Geschichte nimmt dann noch eine recht komische wie auch versöhnliche Wende.
    Thorarinn Leifsson, der amerikanische Comics á la Robert Crumb liebt, besticht durch Wortwitz, Übertreibung und dem Zusammenspiel von lakonischem Erzähl- und expressivem Zeichenstil. Aber er spielt auch ganz bewusst mit unserem moralisch-pädagogischen Vorbehalt, der da lautet: Darf man so etwas Kindern erzählen?

    "Aber ja, warum nicht? Speziell für Kinder aus kranken Familien. Also, die haben zum Beispiel Vater oder Mutter im Gefängnis. Und die Kinder, die lieben immer ihre Eltern. Egal, was passiert, egal, was die Eltern machen. Ob sie Kriminelle oder Rauschgiftdealer oder Alkoholiker sind. Kinder können das nicht lassen!"

    Das Buch ist in Island im Jahre 2007 erschienen und hatte großen Erfolg. Auch in Dänemark. Ein Jahr später wurde es ins Deutsche übersetzt und blieb weitgehend ohne Resonanz. Und Leifssons neues Kinderbuch, das im Deutschen wohl den Titel tragen würde "Oma Huldas Bibliothek", wird zum diesjährigen Gastlandauftritt Islands auf der Frankfurter Buchmesse gar nicht erscheinen. Es ist schwer, die Qualität dieses neuen Buches zu beurteilen, da nur wenige Kapitel in englischer Sprache vorliegen. Aber auch diese Geschichte ist ganz offensichtlich wieder etwas schräg, mit fantastischen Elementen und dabei ganz nah an den Problemen unserer Gegenwart. Der isländische Bankencrash, der viele Familien ruinierte, gab den Anstoß.

    In seiner Geschichte verteilt Thorarinn Leifsson die Figuren auf verschiedene Planeten: Hier sind die Kinder, - dort ihre Eltern, die alle in der Bank arbeiten. Die Bank entfremdet die Eltern immer mehr ihren Kindern. Alles ist der Arbeit unterworfen. Der Materialismus triumphiert. Ablenkung ist verpönt. Bücher gibt es nicht mehr. Sie sind verboten. Aber mitten unter den Kindern haust im Verborgenen Oma Hulda in ihrer Wohnhöhle. Sie ist alt, sie raucht wie ein Schlot und wäscht sich nicht. Aber - sie besitzt eine Unmenge an Büchern. Bei den Kindern, die mit ihr und ihren Büchern in Berührung kommen, erwacht das Bewusstsein und der Wille zum Widerstand gegen diese, wie das Buch es nahelegt, kalte Welt des Geldvermehrens, die ihnen ihre Eltern nahm.

    "Sie ist so ein Symbol für die traditionellen Dinge, für die Bücher, für die Intelligenz, für das Menschliche. Also, die Kinder lesen diese Bücher. Und das verwandelt alles. Sie gehen in die Bank und sie wollen ihre Eltern zurückholen. Sie machen eine Revolution, kann man sagen."

    Dass Thorarinn Leifssons Kinderbücher in Deutschland nur begrenzt wahrgenommen werden, begründet der Autor mit den möglicherweise unterschiedlichen Auffassungen von Humor und Groteske. Aber er will das nicht überbewerten und glaubt ansonsten sowieso, dass die Zeit für ihn arbeitet.

    Kristin Steinsdottir dagegen, die Vorsitzende des isländischen Schriftstellerverbandes, sieht das anders. Sie formuliert offen ihre Enttäuschung über das - wie sie sagt - mangelnde Interesse deutscher Verlage an isländischen Kinder- und Jugendbüchern:

    "Wir waren natürlich sehr gespannt. Das ist doch unsere große Chance! Wir freuen uns alle riesig auf die Buchmesse und hatten dann so die Hoffnung, es geschieht etwas. Und ich weiß, dass unsere Leute sehr tüchtig gearbeitet haben. Die versuchen nicht nur, die Romane für Erwachsene zu verkaufen, sondern auch Kinderbücher. Aber irgendwie ist es so: Die deutschen Verlage, die haben kein Interesse! Die Kinderbuchverlage in Deutschland, die haben so ihre eigenen Autoren und die stellen sich damit zufrieden. Aber da ist halt nichts zu machen!"


    Auch die junge Autorin Gerdur Kristny sieht das so, die ja mit ihrem Roman "Die letzte Nacht des Jahres" unter den glücklich Auserwählten ist. Aber in unserem Gespräch meinte sie, dass das ansonsten große Interesse in Deutschland an Island und seiner Literatur, seinen Sagas und seinem großen Erzählpotenzial auch irgendwann der isländischen Kinder- und Jugendliteratur zugutekommen wird. - Sicher ist das nicht. Denn auch hierzulande ist eine Tendenz von Verlagen zu beobachten, auf Massenware, auf Bewährtes, auf todsicher Verkäufliches zu setzen und das Risiko zu scheuen. Eine Art von Globalisierung, die nicht kulturelle Vielfalt fördert, sondern den Einheitsbrei. Dabei zeigen doch schon die wenigen isländischen Kinder- und Jugendbücher, die uns erreichen, dass die Themen, die sie wählen, und die Probleme, die sie verarbeiten, durchaus auch die Unsrigen sind. Dass sie mitunter ganz anders erzählt werden, ist nur von Vorteil, denn die Wahrnehmung aus verschiedenen kulturellen und ästhetischen Perspektiven schärft immer den Blick für das Wesentliche und das Verständnis für das Andere.

    Die besprochenen Bücher und Autoren:

    1. Kristin Steindottir: "Ein Engel in der Weststadt". (Im Deutschen noch unveröffentlicht)

    2. Gerdur Kristny: Die letzte Nacht des Jahres". Bloomsbury Kinder- und Jugendbücher. 173 Seiten. 14.90 Euro. Ab 12 Jahre

    3. Yrsa Sigurdardóttir: "Die IQ-Kids und die geklaute Intelligenz". Fischer Schatzinsel. 281 Seiten. 12.95.

    4. Thórarinn Leifsson: "Papas Geheimnis". leiv Leipziger Kinderbuchverlag 2008. 119 Seiten. 9.90 Euro

    5. Thórarinn Leifsson: "Oma Huldas Bibliothek". (Im Deutschen noch unveröffentlicht)