Zwei Monate später steht in einem Hinterhof in Hamburg ein frisch angemietetes Wohnmobil: eine kleine dreiköpfige Familie, dem Anschein nach völlig Wohnmobil-unerfahren, versucht den Stauraum eines Hobby AKSC, so heißt das acht Meter lange "Wal-Auto", das Lukas entdeckt hat, optimal auszunutzen.
Unzählige Wäschekörbe voll mit Kochtöpfen, Geschirr, Babyklamotten, Windeln, Lebensmitteln und Strandsachen verschwinden im Bauch des Wals. Mit soviel Stauraum hatten wir nicht gerechnet, aber wir, wir füllen ihn aus.
Das kostet die ersten beiden Urlaubstage. Und dann geht es endlich los, abends 20 Uhr 45: Großstadt ade: Die Oma winkt zum Abschied und schenkt uns als Symbol für eine gute Wiederkehr ihren kitschigen Plastik-Vogel blau-orange, mit der Option zum Zwitschern oder zum Singen; Und genau dieser batteriebetriebene "Bluebird" wird unseren dreijährigen Sohn Lukas während des gesamten Urlaubs in den Schlaf singen:
Das erste große Etappenziel: Süddeutschland. Dann plötzlich zwei Uhr nachts, irgendwo hinter Fulda: Der erste Stau, aus dem Nichts! Aber wir haben ja jetzt ein Wohnmobil! Also raus auf die nächste Tankstelle und alles klarmachen zur ersten Übernachtung: Sorgen um die Sicherheit müssen wir uns nicht machen: Wir sind nicht die einzigen Wohnmobilschläfer hier.
Am nächsten Morgen geht es weiter: frisch gestärkt durch Kaffee und Spiegelei vom eigenen mobilen Herd, Lukas frisch gewaschen und gewindelt im eigenen Mobilbad. Herrlich, soviel Luxus auf Rädern, soviel Unabhängigkeit.
Kurz vor München wird es dann wieder stauig: Zeit für einen kleinen Abstecher auf die Landstraße. Kreuz und quer tuckern wir durch die oberbayerische Pampa - auf der Suche nach einem typischen bayerischem Dorf: Gaden heißt unser Fundort.
Gaden sieht nett aus, klein, echt; und beim Kruzifix am Ende der Hauptstraße halten wir an, um echte bayerische Landluft zu schnuppern. Sie riecht nach frischem Backwerk: Auf der Terrasse des Hofes direkt hinter dem Kruzifix stehen zwei Blechkuchen zum Auskühlen. Wir beschließen auf diesem Hof nach einem Stellplatz für eine Nacht zu fragen, um die Gegend kennenzulernen- und den Kuchen.
Aus dieser einen Nacht wird eine Woche Wohnmobilurlaub auf dem ehemaligen Bauernhof der Großfamilie Hartinger: Und dort gibt es vieles für Lukas an der Hand seines Papa zu entdecken:
Lukas: "Ich habe runter geguckt, jetzt sind mehr Tauben da, es sind mehr Tauben aus dem Häusl gekommen, hab ich gesehen, drei Tauben sind da grad vorbei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, 1000 sind da grade vorbeigeflogen."
Papa: "Wollen wir noch mal zu den Hühnern gucken?"
Lukas: "Nein! Zu den Kaninchen!"
Viele Tiere und viele Menschen: Opa, Oma, die Tochter mit Ehemann und die drei kleinen Hartingers: Eva-Maria, acht jahre alt, Mathilde fünf und Magdalena drei Jahre: Drei Generationen unter einem Dach, sieben Leute täglich zusammen, mit uns zehn: Und jeden Tag werden mittags drei Gänge gekocht: von der 70-jährigen Oma, Mathilde Hartinger:
"Das ist einfach schön, wenn die ganze Familie zusammen am Tisch sitzt, und streiten und lachen und essen und alles machen wir zusammen!"
Da stimmt Martin, ihr Mann gerne zu: "Ja, des is super, super, weil des is stressig und schön! Ja, schee is des scho!"
Als wir nach sieben Tagen und Nächten aus Gaden abfahren, wird Lukas von seinen neuen kleinen Freundinnen reich beschenkt: Knetgummi, Knetförmchen, Bauernhoftiere, Wachsmalkreiden, selbst gemalte Bilder. Er, das Einzelkind, weint bitterlich beim Abschied, will "für immer bei "Oma Mathilde" wohnen:
Die "Oma" versucht zu trösten: "Wir haben schon eine große Familie, wir können niemand mehr aufnehmen, aber es ist schön wenn mal wieder ein Besuch aus HH daherkommt!"
Nach einer Weile haben Lukas auch der Gesang des Bluebirds, die Reiselust und vor allem die Müdigkeit wieder beruhigt. Wir sind auf dem Weg in die Berge: mit geleertem Brauchwasser und neu gefülltem Frischwassertank.
Grobe Richtung: Mittenwald, und dann mal weiter sehen; doch auf der Karte entdecken wir 50km vor Mittenwald eine Straße, die so interessant aussieht, dass wir Mittenwald streichen und einfach rechts abbiegen.
Ein guter Entschluss: die B 23 ist wunderbar: Wiesen, Kühe, Berge, ursprüngliche Bauerndörfer und plötzlich auch noch eine alte Wassermühle: Die Ettaler Mühle. Da will Lukas sofort hin; Mühlen kennt er aus seinen Liederbüchern.
Und weil wir auf dem Wohnmobil auch unsere Fahrräder dabei haben, beschließen wir den smaragdgrünen Mühlenbach ein bisschen entlang zu radeln.
Ein herrlicher Weg führt uns tief in die alpenländische Landschaft hinein; an jeder Ecke kleine Sensationen für Lukas: Eine riesige Kreuzotter, zwei Blindschleichen, Libellen in allen Farben, springende Fische, Eidechsen, Bachstelzen und Aussichten auf herrliche kuhbestandene Mittelgebirgsanhöhen. Bald an Wiesen vorbei, bald durch den Wald bergauf und bergab weiter am Fluss entlang. Bis sich eine riesige Lichtung auftut: Links in der Ferne ein Gutshof mit alter Wassertränke, rechts: eine Kapelle, davor: ein mächtiger Lindenbaum inklusive Rundbank: Mit einem Wort: Ein Bilderbuch-Idyll.
Die wenigen Wanderer, die am Lindenbaum vorbeikommen, grüßen höflich, die Bienen summen, der Bach murmelt, die Wiesen duften, unser Picknick mitsamt im Womo gekühlten Getränken und Joghurts schmeckt; und Lukas, damit beschäftigt, mit dem Dosenöffner des Taschenmessers Steine am Fuße der Rundbank auszugraben will abermals: "für immer hier bleiben". Und uns geht's in diesem Augenblick genauso.
Nach einer äußerst ruhigen Nacht auf dem Parkplatz vor der Ettaler Mühle entdeckt mein Mann beim Frühstück in unserem Womoführer ein Bild von einem tiefblauen See mit weißem flachem Ufer irgendwo im Trentin: Der Tovel-See: sieht wunderschön aus: Und auf dem Weg dorthin gibt es laut Womobuch einen kostenfreien Wohnmobilplatz bei einer ehemaligen Mühle; wenn das kein Zufall ist - das nächste Fahrziel steht also wieder fest!
Die Brennerautobahn Richtung Süden und raus bei Mezzocorona. Dann eine Stunde durch ein Tal mit Apfelplantagen und einer unheimlich tiefen Schlucht. Es ist das Tal di Non und der Giustina-Stausee an dem wir entlangfahren.
Wie im Womoführer versprochen, finden wir gleich hinter dem Marktplatz im Örtchen Sanzano eine enge Straße, die uns direkt zum Gasthaus zur Mühle, dem "Al Mulino" bringt. Doch inzwischen ist es dunkel geworden, das Restaurant hat Ruhetag und außer dem Rauschen des Flüsschens am unbewachten Uferparkplatz ist nichts zu hören und niemand zu sehen.
Die Bergketten links und rechts scheinen uns bedrohlich einzukreisen. Aber Lukas hat Hunger und wir sind müde. Einsamkeit kann ja auch was Schönes sein. Kann. Mit einem etwas mulmigen Gefühl parken wir - als einzige - direkt am Fluss unser Wohnmobil, das nun, trotz seiner acht Meter recht klein und verloren aussieht; genauso wie der Bretterverschlag, der unter einer großen Platane steht. Wer oder was mag darin wohl hausen?
Während wir Nudeln mit Tomatensoße und Möhrensalat im Walauto zubereiten hören wir plötzlich draußen ein Knarren und Schaben, Kettenrasseln! Panik erfasst uns. Lukas brüllt los. Ich schicke meinen Mann mit Taschenlampe und Messer hinaus in die gefährliche Wildnis: Und: Ein kleines strubbeliges Pony, angeleint an einem langen Seil, das zum Bretterverschlag führt, bleibt vor Schreck im Lichtkegel stehen. Wir lachen bis uns die Tränen kommen; Angst und Anspannung lösen sich endlich auf und Lukas füttert im Dunkeln begeistert das Pony mit unseren restlichen Möhren.
Am nächsten Morgen gehen wir drei mutig und stolz ob des bestandenen Abenteuers vom Uferparkplatz hoch zum "Al Mulino". Auf der Terrasse direkt neben der schmalen Dorfstraße sitzen unter Sonnenschirmen fünf weißhaarige Männer. Alle sonnengegerbt, freundlich und gut gelaunt: alle zwischen 72 und 91 Jahren alt.
Sofort und ungefragt bekommen mein Mann und ich Kaffee und Hörnchen und Lukas Kakao und ein Eis, das er dankbar in Empfang nimmt. Zum Frühstück!
Roberto, 76, hat alles spendiert, ohne ein Wort zu sagen, ohne uns zu kennen. 25 Jahre lang war er der Küster der Wahlfahrtskirche San Romedio fünf Autominuten vom Mühlenparkplatz entfernt. Zuvor soll er Priester gewesen sein, das raunen mir seine Freunde zu, bis ihn eine "Bella Bionda", eine Blondine aus Deutschland fast um den Verstand und kurzzeitig auf die Straße gebracht hat.
Aber das ist eine alte Geschichte, fast so alt wie die des Gründers der Wallfahrtskirche San Romedio selbst, sagt Roberto:
"So um 1200 kam dieser Einsiedler San Romedio hierher mit zwei Glaubensbrüdern Andreas und David. Er war sehr reich gewesen und hatte in der Nähe von Salzburg ein Schloss gehabt, dass er verkaufte, um hier im Wald eine religiöse Gemeinschaft zu gründen. Er wirkte viel Gutes und wegen der vielen Zuwendungen der Gläubigen wuchs die Einsiedelei sehr schnell. Er war ein wirklich guter Mann! Ein Heiliger! Die Sache mit dem Bären aber, der bei ihm lebte, na ja, das ist eben eine Geschichte, die erzählt wird: Als San Romedio aus Österreich hierher kam, hatte er ein Packpferd dabei; ein Bär hat dann hier in den Wäldern das Pferd gerissen und aufgefressen. Und San Romedio soll dann mit dem Bären geschimpft haben und ihn dazu verdonnert haben weiter sein Gepäck und das seiner Brüder zu tragen. Und letztendlich ist der Bär von da an immer bei San Romedio geblieben, dort in der Wallfahrtskirche!"
Innerhalb der burgähnlichen Kirchenanlage windet sich eine lange steile Treppe als Kreuzweg zum "Allerheiligsten", zur Kapelle direkt über der Einsiedelei, also über dem Loch im Felsen, in dem der heilige San Romedio im 13. Jahrhundert zwölf Jahre lang gelebt hat, zusammen mit seinem Bären. Zehn weitere Stufen führen von der Kapelle zu einer Geheimtür hinter einem drei Meter hohen Kruzifix und durch diese versteckte Tür ins Freie.
Wir blicken in den steil abfallenden Bergwald, alles grün, der Himmel blau und das magere, rostige Geländer rund um den drei eckigen Austritt ein Abenteuer für Dreijährige und deren nicht ganz schwindelfreie Angehörige. Wunderschön ist es hier über den Baumwipfeln ganz oben auf dem Wallfahrtskirchlein.
Sicherer ist es aber wieder unten auf dem viereckigen Kirchenvorplatz, wo wir uns auf einer der im Carré angeordneten Holzbänke niederlassen. Aber nur kurz, denn Lukas entdeckt begeistert die nächste Sensation: Ein riesiges Freigehege mit zwei echten Braunbären, die zum Andenken an den Bären des Einsiedlers gehalten werden. Nach der Bärenbesichtigung genießen wir im Überfluss das von Lukas "Bärenwasser" getaufte Quellwasser, das auf Knopfdruck eiskalt aus einem bronzenen Bärenmaul an der Festungsmauer sprudelt und das von jedermann gezapft werden kann.
Am späten Nachmittag dann erreichen wir den Eingang des Dolomiten-Nationalparks "Lago di Tovel". Eigentlich ist es verboten, im Nationalpark selbst zu übernachten, aber das ist - wie wir hören - bloße Theorie:
"Das Übernachten hier im Nationalpark ist, das können Sie hier im Prospekt nachlesen, theoretisch nicht erlaubt, - soweit zur Theorie - und im übrigen gibt es ganz am Ende der Straße, die sie direkt zum Tovel-See führt, einen herrlichen Platz für Wohnmobile, - zum Übernachten! Ja so ist das hier mit der Theorie und der Praxis in Italien. Also viel Vergnügen!"
Und der Platz mitten im Nationalpark ist wirklich schön! Und kostenlos obendrein.
Am nächsten Morgen führt uns direkt vom Übernachtungsplatz aus ein knapp zehnminütiger Fußweg an einem Quellfluss entlang mitten durch den Wald zum See. Schön blau ist er der Lago di Tovel, aber nicht ganz so einsam, wie wir es dem Foto nach erwartet hatten, für unseren Geschmack tummeln sich viel zu viele Menschen hier für einen ganz normalen Montag und: das Wasser ist - leider - "schweinekalt" wie Lukas ganz richtig bemerkt.
Mein Mann und ich wagen trotzdem ein Bad, bestaunt von den zumeist italienischen Touristen. Jetzt gilt es noch eine Erfrischung für Lukas zu ergattern, bei einem der unzähligen überfüllten Eisbüdchen. Doch die Schlangen sind länger als unsere Geduld. Wir wandern lieber weiter bis Lukas endlich etwas abseits des Rummels ein total leeres Büdchen entdeckt. Er stürzt sofort hinein: Das ist unsere Rettung! Freundliche Bedienung, gutes Eis und ein herrlicher süditalienischer Kaffee erwarten uns.
Die Wirtsleute sind nicht von hier, sind neu, aus Neapel, total nett. Wir plauschen bei Espresso satt, Eis und Bitterino und sind mit dem Getummel am Lago di Tovel dank Lukas Spontaneität und der Liebenswürdigkeit der Neapolitaner versöhnt und beschließen noch am selben Abend weiterzufahren; wir sind reisemutig geworden, wollen jetzt doch unbedingt nach Süditalien. Die Neapolitaner sind für uns ein Wink des Himmels!
Später auf einer Autobahntankstelle kurz vor Parma verstärkt sich dieser "neapolitanische" Eindruck! Der netteste Tankwart und die netteste Tankwartin sind nicht nur ein Paar, sondern beide - aus Neapel! Und auch sie retten uns aus einer Notlage: Wir haben vergessen uns ums Wasser zu kümmern. unser Brauchwassertank ist randvoll, der Frischwassertank total leer, wir total müde und reif für eine Dusche und Lukas muss außerdem gewindelt und gründlich gewaschen werden.
Und das Erste was uns die Tankwarte und fragen, als wir an "Ihrer" Zapfsäule anhalten, ist "Habt ihr genug Wasser?" Dann holt Antonio einen Schlauch, danach winkt Tiziana uns an ein Abflussgitter und flugs füllen die zwei kostenlos unseren Frischwassertank auf - lassen unser Brauchwasser ab, flirten mit unserem strohblonden Sohn, weisen uns einen Übernachtungsplatz zu und drücken uns beim "Abschied" zur Guten Nacht fest an ihre Herzen, als sie hören, dass wir Richtung tiefer Süden unterwegs sind.
Der nächste Tag ist ein reiner Reisetag: Wir durchqueren mit einigen Pausen die Emiglia Romana, die Toscana, Umbrien und das Latium. An einem See hinter Genzano di Roma gibt es dann Abendessen: Frisch in der Wohnmobilküche gebratene römische Würstchen mit Seeblick, Holzofenbrot, Salat und Sonnenuntergangsstimmung.
Mit einem satten, brav schlafenden Dreijährigen an Bord unseres gemächlich durch die Nacht dahingleitenden Wales sind die restlichen knapp 500 km bis zum anvisierten nächsten Ziel ein Klacks: Sapri - ein kleines süditalienisches Kaff am wohlklingenden Golfo di Policastro in Campagnien soll es sein. Der Name klingt hübsch und es ist weit genug weg von Neapel selbst, von der vornehmen sorrentinischen und von der reichen amalfitanischen Küste und auch vom Moloch Salerno.
Gegen zwei Uhr morgens fahren wir in Sapri auf einen Parkplatz direkt am Meer und schlafen sofort ein, nachdem wir auch Lukas aus dem Kindersitz in sein Womobett verfrachtet haben.
Die Sonne weckt uns mit Musik und Klopfgeräuschen. Ein älterer dunkelhaariger braungebrannter Mann mit Schnauzer steht vor der Tür - haben wir etwas falsch gemacht? Filippo Mauro lacht; er hat auf dem Weg in seine Pizzeria zufällig unser deutsches Kennzeichen gesehen und war einfach nur neugierig, denn bislang ist dieser Teil Süditaliens relativ unentdeckt, zumal von uns Deutschen. Filippo weiß warum:
"Also Süditalien war im Gegensatz zum Norden touristisch immer unterentwickelt! Aus politischen und ökonomischen Gründen, die man einfach nicht kapiert, so wie es in den 50er-Jahren war, so ist es heute noch! Und wir hier, wir wollen zwar die Entwicklung, aber es gibt so viele Probleme, Mauern, die Politiker wollen nicht investieren, die stecken alles selber in die Tasche! Uns fehlt eine Revolution! Klar, ein bisschen Tourismus gibt es hier, aber von niederer Qualität, uns hier in diesem 8000-Seelen-Städtchen fehlt es an Hotels, an Betten, an Infrastruktur. Pah, in Rimini zum Beispiel, die haben doch alles durchstrukturiert. Wir hier haben nur Landschaft, klar die ist wunderschön, ursprünglich, sogar einzigartig, aber was nutzt es, wenn das niemand weiß! Wir haben hier nur Sommergäste aus Neapel und den anderen Großstädten im Süden, die haben Ferienwohnungen hier, bringen alles mit und konsumieren fast nichts! Deshalb freue ich mich über jeden Reisenden aus dem Ausland wie ihr aus Deutschland, die ihr euren Weg zu uns findet!"
Filippo, der in ganz Süditalien bekannte Pizzabäcker, nickt auf unsere Dankesbezeugungen für den freundlichen Empfang, steigt in sein Auto und fährt wie ein Berserker davon, allerdings nicht ohne uns zuvor die größten Geheimnisse einer guten Pizza zu verraten:
"Um eine gute Pizza zu machen braucht man nur eine einzige Sache: Das Herz! Du musst sie mit dem Herzen machen; alle Rezepte sind unnütz: Du musst sie mit dem Herzen machen und mit wahrer Leidenschaft! Und dann muss sie in einen echten Holzofen bei 400 bis 450 Grad, nicht weniger! Aber nur für eine einzige Minute, höchstens eineinhalb Minuten. Nie mehr: Sie muss kross sein und dennoch weich innen: Denn ein neapolitanisches Sprichwort sagt: Eine gute Pizza musst zu zusammenklappen können wie ein Buch. Du bestellst sie, klappst sie zusammen und isst sie im Stehen! Ja , die Pizza, das ist die eine Sache. Eine andere Sache ist die gute Pizza und wir hier, wir bevorzugen die Beste!"
Nach einem ersten morgendlichen Bad im Golf von Sapri, "im warmen Meer" - wie Lukas das Mittelmeer im Gegensatz zur kalten Nordsee nennt - fahren auch wir los; langsam und leise mit den Fahrrädern die Strandpromenade entlang. Wir sind auf der Suche nach einer Bäckerei.
Franco Cartolano, 38, ist der Besitzer des "Süßen Ecks" - des "l'angolo di dolci" nahe des Ortseingangs. Er hat nicht nur eine große und köstliche Auswahl an Hörnchen, Keksen, Fruchttörtchen, salzigen Stückchen und selbstgemachter Eiscreme, sondern ist obendrein Vater von vier Kindern und sehr nett. Mit der Eröffnung seiner eigenen Bäckerei-Konditorei vor anderthalb Jahren hat er sich einen Lebenstraum erfüllt:
"Mit zehn Jahren habe ich schon angefangen das Handwerk des Bäckers und Konditors zu lernen. Mit Tortenfüllungen und Tortendekoration hat es angefangen und es war von Anfang an eine große Liebe; Ich habe immer mit Tortenfüllungen experimentiert, neue erfunden. Bei uns zuhause waren wir sieben Kinder, ökonomisch hätten wir es zwar nicht nötig gehabt, aber unsere Eltern arbeiteten ja selbst und konnten nicht auf uns alle aufpassen, so beschlossen sie, uns alle möglichst früh ein Handwerk lernen zu lassen; damit waren wir untergebracht, weg von der Straße und wir lernten etwas Anständiges. So wurde ich Konditor. Mein Meister damals hatte selber auch mit 10 Jahren angefangen, er war unverheiratet, ohne Kinder, er war wie ein zweiter Vater für mich. Zehn Jahre lang hat er mich alle seine Geheimnisse gelehrt! Und seit dieser Zeit träumte ich von einer eigenen Konditorei! Mit dem "L' Angolo di Dolci" habe ich mir meinen Traum erfüllt!"
Als Francos Frau Elisa mit den Kindern Marco, Daniele, Valentina und Rosella im Angolo di Dolci auftaucht, um ebenfalls zu frühstücken, werden wir ihr von Franco schon wie alte Freunde vorgestellt; die Kinder staunen über Lukas blonde Haare und Elisa spricht eine Einladung für den nächsten Tag zum Mittagessen aus. Kaum zwölf Stunden in einer süditalienischen Kleinstadt des Cilentos und schon wollen wir alle drei hier nicht mehr weg:
Das ist das Signal - wir beschließen die letzten drei Urlaubswochen hier zu verbringen. Leider sind die wenigen Campingplätze hier wirklich nicht sehr reizvoll und keiner liegt direkt am Meer. Die sanitären Anlagen sind mager ausgerüstet, dicht an dicht drängen sich die Womos und Dauerzelter- fast ausschließlich Italiener. Und in der Nacht ist die Hölle los: laute Musik, kreischende Teenager, schreiende Animateure.
Für einen echten Süditaliener kein Problem:
"Ich komme gut damit zurecht, mit diesem Arrangement: Wohnmobil und der Campingplatz hier: man fühlt sich so frei, mitten in der Natur!"
Danielle di Angelo, ein 44-jähriger Handelsvertreter, unser direkter Womonachbar, natürlich aus Neapel, macht jedes Jahr hier bei Sapri im Wohnmobil Urlaub - weil das Wasser sauber und die Freizeitmöglichkeiten für seine beiden Jungs Manu,12, und Jean-Luca, 3, ideal sind: So gesehen stimmt das: Tennisplatz, abgedunkelter Computerspielraum, Teenager-Disco von 18 bis 24 Uhr, Tischtennis, Kicker und ein umzäuntes bewachtes Gelände, auf dem man die Kids unbesorgt herumstromern lassen kann. Außerdem hat unser Platz als einziger in der Gegend ein Swimmingpool, in das auch Lukas nun jeden Tag mit Begeisterung und mit seinen Schwimmflügelchen rennt: in Begleitung seines neuen neapolitanischen Freundes Jean-Luca, Danielles Sohn.
Imma, die Mama der Familie, und ich, unterhalten uns, langgestreckt auf Poolliegen, stets mit einem Auge bei den beiden 3 Jährigen im Wasser, über Kinder und das Leben im Allgemeinen.
"Wenn es den Kindern gut geht, dann geht's uns doch auch gut, oder? Und die Kinder sind glücklich wenn sie draußen sind, in der Natur, die Kinder müssen frei sein, wie die Tiere, tatsächlich haben wir nur wegen Ihnen das Wohnmobil angeschafft, aber inzwischen lieben wir alle diese Art Campingurlaub: Es ist doch toll, wenn auf dem Campingplatz alle Kinder zusammen spielen, und die Kinder müssen sich ja auch sozialisieren. Ich denke, die Kinder müssen alle wie Brüder sein, wie Brüder und Schwestern, d a s gefällt mir!"
Und abends veranstalten wir lange Gelage, bei denen aus der Hamburger und der Neapolitanischen Küche herausgeholt und gegrillt wird, was das Zeug hält.
So tritt die laute Musik am Campingplatz wortwörtlich immer mehr in den Hintergrund, das Leben drei Wochen an einem Ort ist plötzlich herrlich, wir haben neue Freunde fürs Leben gefunden - echte Neapolitaner.
Der Abschied ist auf beiden Seiten tränenreich, eine neapolitanische Espressomaschine und eine deutsche Klappcampingbank wechseln die Besitzer - kleiner Kinder küssen und umarmen sich.
Süditalien und die Süditaliener haben unser Herz erobert. Und auf der langen Fahrt 2800 km nach Hause, nach Hamburg, vergessen wir nie, dass all das uns ein Wohnmobil ermöglicht hat, das unser kleiner Sohn in Fockbek, ganz oben im hohen Norden Deutschlands entdeckt hat, weil es aussah wie ein großer geschwungener Wal.
Unzählige Wäschekörbe voll mit Kochtöpfen, Geschirr, Babyklamotten, Windeln, Lebensmitteln und Strandsachen verschwinden im Bauch des Wals. Mit soviel Stauraum hatten wir nicht gerechnet, aber wir, wir füllen ihn aus.
Das kostet die ersten beiden Urlaubstage. Und dann geht es endlich los, abends 20 Uhr 45: Großstadt ade: Die Oma winkt zum Abschied und schenkt uns als Symbol für eine gute Wiederkehr ihren kitschigen Plastik-Vogel blau-orange, mit der Option zum Zwitschern oder zum Singen; Und genau dieser batteriebetriebene "Bluebird" wird unseren dreijährigen Sohn Lukas während des gesamten Urlaubs in den Schlaf singen:
Das erste große Etappenziel: Süddeutschland. Dann plötzlich zwei Uhr nachts, irgendwo hinter Fulda: Der erste Stau, aus dem Nichts! Aber wir haben ja jetzt ein Wohnmobil! Also raus auf die nächste Tankstelle und alles klarmachen zur ersten Übernachtung: Sorgen um die Sicherheit müssen wir uns nicht machen: Wir sind nicht die einzigen Wohnmobilschläfer hier.
Am nächsten Morgen geht es weiter: frisch gestärkt durch Kaffee und Spiegelei vom eigenen mobilen Herd, Lukas frisch gewaschen und gewindelt im eigenen Mobilbad. Herrlich, soviel Luxus auf Rädern, soviel Unabhängigkeit.
Kurz vor München wird es dann wieder stauig: Zeit für einen kleinen Abstecher auf die Landstraße. Kreuz und quer tuckern wir durch die oberbayerische Pampa - auf der Suche nach einem typischen bayerischem Dorf: Gaden heißt unser Fundort.
Gaden sieht nett aus, klein, echt; und beim Kruzifix am Ende der Hauptstraße halten wir an, um echte bayerische Landluft zu schnuppern. Sie riecht nach frischem Backwerk: Auf der Terrasse des Hofes direkt hinter dem Kruzifix stehen zwei Blechkuchen zum Auskühlen. Wir beschließen auf diesem Hof nach einem Stellplatz für eine Nacht zu fragen, um die Gegend kennenzulernen- und den Kuchen.
Aus dieser einen Nacht wird eine Woche Wohnmobilurlaub auf dem ehemaligen Bauernhof der Großfamilie Hartinger: Und dort gibt es vieles für Lukas an der Hand seines Papa zu entdecken:
Lukas: "Ich habe runter geguckt, jetzt sind mehr Tauben da, es sind mehr Tauben aus dem Häusl gekommen, hab ich gesehen, drei Tauben sind da grad vorbei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, 1000 sind da grade vorbeigeflogen."
Papa: "Wollen wir noch mal zu den Hühnern gucken?"
Lukas: "Nein! Zu den Kaninchen!"
Viele Tiere und viele Menschen: Opa, Oma, die Tochter mit Ehemann und die drei kleinen Hartingers: Eva-Maria, acht jahre alt, Mathilde fünf und Magdalena drei Jahre: Drei Generationen unter einem Dach, sieben Leute täglich zusammen, mit uns zehn: Und jeden Tag werden mittags drei Gänge gekocht: von der 70-jährigen Oma, Mathilde Hartinger:
"Das ist einfach schön, wenn die ganze Familie zusammen am Tisch sitzt, und streiten und lachen und essen und alles machen wir zusammen!"
Da stimmt Martin, ihr Mann gerne zu: "Ja, des is super, super, weil des is stressig und schön! Ja, schee is des scho!"
Als wir nach sieben Tagen und Nächten aus Gaden abfahren, wird Lukas von seinen neuen kleinen Freundinnen reich beschenkt: Knetgummi, Knetförmchen, Bauernhoftiere, Wachsmalkreiden, selbst gemalte Bilder. Er, das Einzelkind, weint bitterlich beim Abschied, will "für immer bei "Oma Mathilde" wohnen:
Die "Oma" versucht zu trösten: "Wir haben schon eine große Familie, wir können niemand mehr aufnehmen, aber es ist schön wenn mal wieder ein Besuch aus HH daherkommt!"
Nach einer Weile haben Lukas auch der Gesang des Bluebirds, die Reiselust und vor allem die Müdigkeit wieder beruhigt. Wir sind auf dem Weg in die Berge: mit geleertem Brauchwasser und neu gefülltem Frischwassertank.
Grobe Richtung: Mittenwald, und dann mal weiter sehen; doch auf der Karte entdecken wir 50km vor Mittenwald eine Straße, die so interessant aussieht, dass wir Mittenwald streichen und einfach rechts abbiegen.
Ein guter Entschluss: die B 23 ist wunderbar: Wiesen, Kühe, Berge, ursprüngliche Bauerndörfer und plötzlich auch noch eine alte Wassermühle: Die Ettaler Mühle. Da will Lukas sofort hin; Mühlen kennt er aus seinen Liederbüchern.
Und weil wir auf dem Wohnmobil auch unsere Fahrräder dabei haben, beschließen wir den smaragdgrünen Mühlenbach ein bisschen entlang zu radeln.
Ein herrlicher Weg führt uns tief in die alpenländische Landschaft hinein; an jeder Ecke kleine Sensationen für Lukas: Eine riesige Kreuzotter, zwei Blindschleichen, Libellen in allen Farben, springende Fische, Eidechsen, Bachstelzen und Aussichten auf herrliche kuhbestandene Mittelgebirgsanhöhen. Bald an Wiesen vorbei, bald durch den Wald bergauf und bergab weiter am Fluss entlang. Bis sich eine riesige Lichtung auftut: Links in der Ferne ein Gutshof mit alter Wassertränke, rechts: eine Kapelle, davor: ein mächtiger Lindenbaum inklusive Rundbank: Mit einem Wort: Ein Bilderbuch-Idyll.
Die wenigen Wanderer, die am Lindenbaum vorbeikommen, grüßen höflich, die Bienen summen, der Bach murmelt, die Wiesen duften, unser Picknick mitsamt im Womo gekühlten Getränken und Joghurts schmeckt; und Lukas, damit beschäftigt, mit dem Dosenöffner des Taschenmessers Steine am Fuße der Rundbank auszugraben will abermals: "für immer hier bleiben". Und uns geht's in diesem Augenblick genauso.
Nach einer äußerst ruhigen Nacht auf dem Parkplatz vor der Ettaler Mühle entdeckt mein Mann beim Frühstück in unserem Womoführer ein Bild von einem tiefblauen See mit weißem flachem Ufer irgendwo im Trentin: Der Tovel-See: sieht wunderschön aus: Und auf dem Weg dorthin gibt es laut Womobuch einen kostenfreien Wohnmobilplatz bei einer ehemaligen Mühle; wenn das kein Zufall ist - das nächste Fahrziel steht also wieder fest!
Die Brennerautobahn Richtung Süden und raus bei Mezzocorona. Dann eine Stunde durch ein Tal mit Apfelplantagen und einer unheimlich tiefen Schlucht. Es ist das Tal di Non und der Giustina-Stausee an dem wir entlangfahren.
Wie im Womoführer versprochen, finden wir gleich hinter dem Marktplatz im Örtchen Sanzano eine enge Straße, die uns direkt zum Gasthaus zur Mühle, dem "Al Mulino" bringt. Doch inzwischen ist es dunkel geworden, das Restaurant hat Ruhetag und außer dem Rauschen des Flüsschens am unbewachten Uferparkplatz ist nichts zu hören und niemand zu sehen.
Die Bergketten links und rechts scheinen uns bedrohlich einzukreisen. Aber Lukas hat Hunger und wir sind müde. Einsamkeit kann ja auch was Schönes sein. Kann. Mit einem etwas mulmigen Gefühl parken wir - als einzige - direkt am Fluss unser Wohnmobil, das nun, trotz seiner acht Meter recht klein und verloren aussieht; genauso wie der Bretterverschlag, der unter einer großen Platane steht. Wer oder was mag darin wohl hausen?
Während wir Nudeln mit Tomatensoße und Möhrensalat im Walauto zubereiten hören wir plötzlich draußen ein Knarren und Schaben, Kettenrasseln! Panik erfasst uns. Lukas brüllt los. Ich schicke meinen Mann mit Taschenlampe und Messer hinaus in die gefährliche Wildnis: Und: Ein kleines strubbeliges Pony, angeleint an einem langen Seil, das zum Bretterverschlag führt, bleibt vor Schreck im Lichtkegel stehen. Wir lachen bis uns die Tränen kommen; Angst und Anspannung lösen sich endlich auf und Lukas füttert im Dunkeln begeistert das Pony mit unseren restlichen Möhren.
Am nächsten Morgen gehen wir drei mutig und stolz ob des bestandenen Abenteuers vom Uferparkplatz hoch zum "Al Mulino". Auf der Terrasse direkt neben der schmalen Dorfstraße sitzen unter Sonnenschirmen fünf weißhaarige Männer. Alle sonnengegerbt, freundlich und gut gelaunt: alle zwischen 72 und 91 Jahren alt.
Sofort und ungefragt bekommen mein Mann und ich Kaffee und Hörnchen und Lukas Kakao und ein Eis, das er dankbar in Empfang nimmt. Zum Frühstück!
Roberto, 76, hat alles spendiert, ohne ein Wort zu sagen, ohne uns zu kennen. 25 Jahre lang war er der Küster der Wahlfahrtskirche San Romedio fünf Autominuten vom Mühlenparkplatz entfernt. Zuvor soll er Priester gewesen sein, das raunen mir seine Freunde zu, bis ihn eine "Bella Bionda", eine Blondine aus Deutschland fast um den Verstand und kurzzeitig auf die Straße gebracht hat.
Aber das ist eine alte Geschichte, fast so alt wie die des Gründers der Wallfahrtskirche San Romedio selbst, sagt Roberto:
"So um 1200 kam dieser Einsiedler San Romedio hierher mit zwei Glaubensbrüdern Andreas und David. Er war sehr reich gewesen und hatte in der Nähe von Salzburg ein Schloss gehabt, dass er verkaufte, um hier im Wald eine religiöse Gemeinschaft zu gründen. Er wirkte viel Gutes und wegen der vielen Zuwendungen der Gläubigen wuchs die Einsiedelei sehr schnell. Er war ein wirklich guter Mann! Ein Heiliger! Die Sache mit dem Bären aber, der bei ihm lebte, na ja, das ist eben eine Geschichte, die erzählt wird: Als San Romedio aus Österreich hierher kam, hatte er ein Packpferd dabei; ein Bär hat dann hier in den Wäldern das Pferd gerissen und aufgefressen. Und San Romedio soll dann mit dem Bären geschimpft haben und ihn dazu verdonnert haben weiter sein Gepäck und das seiner Brüder zu tragen. Und letztendlich ist der Bär von da an immer bei San Romedio geblieben, dort in der Wallfahrtskirche!"
Innerhalb der burgähnlichen Kirchenanlage windet sich eine lange steile Treppe als Kreuzweg zum "Allerheiligsten", zur Kapelle direkt über der Einsiedelei, also über dem Loch im Felsen, in dem der heilige San Romedio im 13. Jahrhundert zwölf Jahre lang gelebt hat, zusammen mit seinem Bären. Zehn weitere Stufen führen von der Kapelle zu einer Geheimtür hinter einem drei Meter hohen Kruzifix und durch diese versteckte Tür ins Freie.
Wir blicken in den steil abfallenden Bergwald, alles grün, der Himmel blau und das magere, rostige Geländer rund um den drei eckigen Austritt ein Abenteuer für Dreijährige und deren nicht ganz schwindelfreie Angehörige. Wunderschön ist es hier über den Baumwipfeln ganz oben auf dem Wallfahrtskirchlein.
Sicherer ist es aber wieder unten auf dem viereckigen Kirchenvorplatz, wo wir uns auf einer der im Carré angeordneten Holzbänke niederlassen. Aber nur kurz, denn Lukas entdeckt begeistert die nächste Sensation: Ein riesiges Freigehege mit zwei echten Braunbären, die zum Andenken an den Bären des Einsiedlers gehalten werden. Nach der Bärenbesichtigung genießen wir im Überfluss das von Lukas "Bärenwasser" getaufte Quellwasser, das auf Knopfdruck eiskalt aus einem bronzenen Bärenmaul an der Festungsmauer sprudelt und das von jedermann gezapft werden kann.
Am späten Nachmittag dann erreichen wir den Eingang des Dolomiten-Nationalparks "Lago di Tovel". Eigentlich ist es verboten, im Nationalpark selbst zu übernachten, aber das ist - wie wir hören - bloße Theorie:
"Das Übernachten hier im Nationalpark ist, das können Sie hier im Prospekt nachlesen, theoretisch nicht erlaubt, - soweit zur Theorie - und im übrigen gibt es ganz am Ende der Straße, die sie direkt zum Tovel-See führt, einen herrlichen Platz für Wohnmobile, - zum Übernachten! Ja so ist das hier mit der Theorie und der Praxis in Italien. Also viel Vergnügen!"
Und der Platz mitten im Nationalpark ist wirklich schön! Und kostenlos obendrein.
Am nächsten Morgen führt uns direkt vom Übernachtungsplatz aus ein knapp zehnminütiger Fußweg an einem Quellfluss entlang mitten durch den Wald zum See. Schön blau ist er der Lago di Tovel, aber nicht ganz so einsam, wie wir es dem Foto nach erwartet hatten, für unseren Geschmack tummeln sich viel zu viele Menschen hier für einen ganz normalen Montag und: das Wasser ist - leider - "schweinekalt" wie Lukas ganz richtig bemerkt.
Mein Mann und ich wagen trotzdem ein Bad, bestaunt von den zumeist italienischen Touristen. Jetzt gilt es noch eine Erfrischung für Lukas zu ergattern, bei einem der unzähligen überfüllten Eisbüdchen. Doch die Schlangen sind länger als unsere Geduld. Wir wandern lieber weiter bis Lukas endlich etwas abseits des Rummels ein total leeres Büdchen entdeckt. Er stürzt sofort hinein: Das ist unsere Rettung! Freundliche Bedienung, gutes Eis und ein herrlicher süditalienischer Kaffee erwarten uns.
Die Wirtsleute sind nicht von hier, sind neu, aus Neapel, total nett. Wir plauschen bei Espresso satt, Eis und Bitterino und sind mit dem Getummel am Lago di Tovel dank Lukas Spontaneität und der Liebenswürdigkeit der Neapolitaner versöhnt und beschließen noch am selben Abend weiterzufahren; wir sind reisemutig geworden, wollen jetzt doch unbedingt nach Süditalien. Die Neapolitaner sind für uns ein Wink des Himmels!
Später auf einer Autobahntankstelle kurz vor Parma verstärkt sich dieser "neapolitanische" Eindruck! Der netteste Tankwart und die netteste Tankwartin sind nicht nur ein Paar, sondern beide - aus Neapel! Und auch sie retten uns aus einer Notlage: Wir haben vergessen uns ums Wasser zu kümmern. unser Brauchwassertank ist randvoll, der Frischwassertank total leer, wir total müde und reif für eine Dusche und Lukas muss außerdem gewindelt und gründlich gewaschen werden.
Und das Erste was uns die Tankwarte und fragen, als wir an "Ihrer" Zapfsäule anhalten, ist "Habt ihr genug Wasser?" Dann holt Antonio einen Schlauch, danach winkt Tiziana uns an ein Abflussgitter und flugs füllen die zwei kostenlos unseren Frischwassertank auf - lassen unser Brauchwasser ab, flirten mit unserem strohblonden Sohn, weisen uns einen Übernachtungsplatz zu und drücken uns beim "Abschied" zur Guten Nacht fest an ihre Herzen, als sie hören, dass wir Richtung tiefer Süden unterwegs sind.
Der nächste Tag ist ein reiner Reisetag: Wir durchqueren mit einigen Pausen die Emiglia Romana, die Toscana, Umbrien und das Latium. An einem See hinter Genzano di Roma gibt es dann Abendessen: Frisch in der Wohnmobilküche gebratene römische Würstchen mit Seeblick, Holzofenbrot, Salat und Sonnenuntergangsstimmung.
Mit einem satten, brav schlafenden Dreijährigen an Bord unseres gemächlich durch die Nacht dahingleitenden Wales sind die restlichen knapp 500 km bis zum anvisierten nächsten Ziel ein Klacks: Sapri - ein kleines süditalienisches Kaff am wohlklingenden Golfo di Policastro in Campagnien soll es sein. Der Name klingt hübsch und es ist weit genug weg von Neapel selbst, von der vornehmen sorrentinischen und von der reichen amalfitanischen Küste und auch vom Moloch Salerno.
Gegen zwei Uhr morgens fahren wir in Sapri auf einen Parkplatz direkt am Meer und schlafen sofort ein, nachdem wir auch Lukas aus dem Kindersitz in sein Womobett verfrachtet haben.
Die Sonne weckt uns mit Musik und Klopfgeräuschen. Ein älterer dunkelhaariger braungebrannter Mann mit Schnauzer steht vor der Tür - haben wir etwas falsch gemacht? Filippo Mauro lacht; er hat auf dem Weg in seine Pizzeria zufällig unser deutsches Kennzeichen gesehen und war einfach nur neugierig, denn bislang ist dieser Teil Süditaliens relativ unentdeckt, zumal von uns Deutschen. Filippo weiß warum:
"Also Süditalien war im Gegensatz zum Norden touristisch immer unterentwickelt! Aus politischen und ökonomischen Gründen, die man einfach nicht kapiert, so wie es in den 50er-Jahren war, so ist es heute noch! Und wir hier, wir wollen zwar die Entwicklung, aber es gibt so viele Probleme, Mauern, die Politiker wollen nicht investieren, die stecken alles selber in die Tasche! Uns fehlt eine Revolution! Klar, ein bisschen Tourismus gibt es hier, aber von niederer Qualität, uns hier in diesem 8000-Seelen-Städtchen fehlt es an Hotels, an Betten, an Infrastruktur. Pah, in Rimini zum Beispiel, die haben doch alles durchstrukturiert. Wir hier haben nur Landschaft, klar die ist wunderschön, ursprünglich, sogar einzigartig, aber was nutzt es, wenn das niemand weiß! Wir haben hier nur Sommergäste aus Neapel und den anderen Großstädten im Süden, die haben Ferienwohnungen hier, bringen alles mit und konsumieren fast nichts! Deshalb freue ich mich über jeden Reisenden aus dem Ausland wie ihr aus Deutschland, die ihr euren Weg zu uns findet!"
Filippo, der in ganz Süditalien bekannte Pizzabäcker, nickt auf unsere Dankesbezeugungen für den freundlichen Empfang, steigt in sein Auto und fährt wie ein Berserker davon, allerdings nicht ohne uns zuvor die größten Geheimnisse einer guten Pizza zu verraten:
"Um eine gute Pizza zu machen braucht man nur eine einzige Sache: Das Herz! Du musst sie mit dem Herzen machen; alle Rezepte sind unnütz: Du musst sie mit dem Herzen machen und mit wahrer Leidenschaft! Und dann muss sie in einen echten Holzofen bei 400 bis 450 Grad, nicht weniger! Aber nur für eine einzige Minute, höchstens eineinhalb Minuten. Nie mehr: Sie muss kross sein und dennoch weich innen: Denn ein neapolitanisches Sprichwort sagt: Eine gute Pizza musst zu zusammenklappen können wie ein Buch. Du bestellst sie, klappst sie zusammen und isst sie im Stehen! Ja , die Pizza, das ist die eine Sache. Eine andere Sache ist die gute Pizza und wir hier, wir bevorzugen die Beste!"
Nach einem ersten morgendlichen Bad im Golf von Sapri, "im warmen Meer" - wie Lukas das Mittelmeer im Gegensatz zur kalten Nordsee nennt - fahren auch wir los; langsam und leise mit den Fahrrädern die Strandpromenade entlang. Wir sind auf der Suche nach einer Bäckerei.
Franco Cartolano, 38, ist der Besitzer des "Süßen Ecks" - des "l'angolo di dolci" nahe des Ortseingangs. Er hat nicht nur eine große und köstliche Auswahl an Hörnchen, Keksen, Fruchttörtchen, salzigen Stückchen und selbstgemachter Eiscreme, sondern ist obendrein Vater von vier Kindern und sehr nett. Mit der Eröffnung seiner eigenen Bäckerei-Konditorei vor anderthalb Jahren hat er sich einen Lebenstraum erfüllt:
"Mit zehn Jahren habe ich schon angefangen das Handwerk des Bäckers und Konditors zu lernen. Mit Tortenfüllungen und Tortendekoration hat es angefangen und es war von Anfang an eine große Liebe; Ich habe immer mit Tortenfüllungen experimentiert, neue erfunden. Bei uns zuhause waren wir sieben Kinder, ökonomisch hätten wir es zwar nicht nötig gehabt, aber unsere Eltern arbeiteten ja selbst und konnten nicht auf uns alle aufpassen, so beschlossen sie, uns alle möglichst früh ein Handwerk lernen zu lassen; damit waren wir untergebracht, weg von der Straße und wir lernten etwas Anständiges. So wurde ich Konditor. Mein Meister damals hatte selber auch mit 10 Jahren angefangen, er war unverheiratet, ohne Kinder, er war wie ein zweiter Vater für mich. Zehn Jahre lang hat er mich alle seine Geheimnisse gelehrt! Und seit dieser Zeit träumte ich von einer eigenen Konditorei! Mit dem "L' Angolo di Dolci" habe ich mir meinen Traum erfüllt!"
Als Francos Frau Elisa mit den Kindern Marco, Daniele, Valentina und Rosella im Angolo di Dolci auftaucht, um ebenfalls zu frühstücken, werden wir ihr von Franco schon wie alte Freunde vorgestellt; die Kinder staunen über Lukas blonde Haare und Elisa spricht eine Einladung für den nächsten Tag zum Mittagessen aus. Kaum zwölf Stunden in einer süditalienischen Kleinstadt des Cilentos und schon wollen wir alle drei hier nicht mehr weg:
Das ist das Signal - wir beschließen die letzten drei Urlaubswochen hier zu verbringen. Leider sind die wenigen Campingplätze hier wirklich nicht sehr reizvoll und keiner liegt direkt am Meer. Die sanitären Anlagen sind mager ausgerüstet, dicht an dicht drängen sich die Womos und Dauerzelter- fast ausschließlich Italiener. Und in der Nacht ist die Hölle los: laute Musik, kreischende Teenager, schreiende Animateure.
Für einen echten Süditaliener kein Problem:
"Ich komme gut damit zurecht, mit diesem Arrangement: Wohnmobil und der Campingplatz hier: man fühlt sich so frei, mitten in der Natur!"
Danielle di Angelo, ein 44-jähriger Handelsvertreter, unser direkter Womonachbar, natürlich aus Neapel, macht jedes Jahr hier bei Sapri im Wohnmobil Urlaub - weil das Wasser sauber und die Freizeitmöglichkeiten für seine beiden Jungs Manu,12, und Jean-Luca, 3, ideal sind: So gesehen stimmt das: Tennisplatz, abgedunkelter Computerspielraum, Teenager-Disco von 18 bis 24 Uhr, Tischtennis, Kicker und ein umzäuntes bewachtes Gelände, auf dem man die Kids unbesorgt herumstromern lassen kann. Außerdem hat unser Platz als einziger in der Gegend ein Swimmingpool, in das auch Lukas nun jeden Tag mit Begeisterung und mit seinen Schwimmflügelchen rennt: in Begleitung seines neuen neapolitanischen Freundes Jean-Luca, Danielles Sohn.
Imma, die Mama der Familie, und ich, unterhalten uns, langgestreckt auf Poolliegen, stets mit einem Auge bei den beiden 3 Jährigen im Wasser, über Kinder und das Leben im Allgemeinen.
"Wenn es den Kindern gut geht, dann geht's uns doch auch gut, oder? Und die Kinder sind glücklich wenn sie draußen sind, in der Natur, die Kinder müssen frei sein, wie die Tiere, tatsächlich haben wir nur wegen Ihnen das Wohnmobil angeschafft, aber inzwischen lieben wir alle diese Art Campingurlaub: Es ist doch toll, wenn auf dem Campingplatz alle Kinder zusammen spielen, und die Kinder müssen sich ja auch sozialisieren. Ich denke, die Kinder müssen alle wie Brüder sein, wie Brüder und Schwestern, d a s gefällt mir!"
Und abends veranstalten wir lange Gelage, bei denen aus der Hamburger und der Neapolitanischen Küche herausgeholt und gegrillt wird, was das Zeug hält.
So tritt die laute Musik am Campingplatz wortwörtlich immer mehr in den Hintergrund, das Leben drei Wochen an einem Ort ist plötzlich herrlich, wir haben neue Freunde fürs Leben gefunden - echte Neapolitaner.
Der Abschied ist auf beiden Seiten tränenreich, eine neapolitanische Espressomaschine und eine deutsche Klappcampingbank wechseln die Besitzer - kleiner Kinder küssen und umarmen sich.
Süditalien und die Süditaliener haben unser Herz erobert. Und auf der langen Fahrt 2800 km nach Hause, nach Hamburg, vergessen wir nie, dass all das uns ein Wohnmobil ermöglicht hat, das unser kleiner Sohn in Fockbek, ganz oben im hohen Norden Deutschlands entdeckt hat, weil es aussah wie ein großer geschwungener Wal.