Intrigen, Mord und gegenseitige Schuldzuweisungen - Leitmotive in der pakistanischen Politik, nicht erst seit gestern, seit dem Tod Benazir Bhuttos. Und schon lange vor dem Aufstieg der religiösen Extremisten. Seit der Gründung des Staates im Jahre 1947 ist Pakistan die Beute einer hauchdünnen Schicht von Großgrundbesitzern. Alle engagieren sich für soziale Gerechtigkeit. Alle sind Streiter gegen die Korruption. Tatsächlich kämpfen sie mit harten Bandagen um die Pfründe - das jedenfalls meint Arnold Heredia, von der Nichtregierungsorganisation "Komitee für Frieden und Gerechtigkeit" in Karachi:
"Es gibt zwischen den säkularen Parteien keine Unterschiede. Sie sind nicht da, um den Leuten zu dienen, sondern den Parteiinteressen - ja nicht einmal den Parteiinteressen, sondern denen ihrer Führer. Korruption, darüber gibt es hinter den Kulissen keine echten Kontroversen. Korruption, das ist die allgemein akzeptierte Verhaltensweise. Wenn du an die Macht gekommen bist, dann deshalb, um dir zu nehmen was immer du willst. Diese Mächtigen sehen das nicht einmal als Korruption an. Es ist die alte Feudalmentalität. Nicht du bist korrupt. Alles gehört dir. Der ganze Staat ist dein. Du bist der Boss. Tu, was immer du willst. Schade, dass du es nicht unbegrenzt tun kannst, sondern nur solange, bis dir jemand die Macht vor der Nase wegschnappt."
Um sich die Kluft vor Augen zu führen, die Politiker und Wahlvolk trennt ist es aufschlussreich, in einem Slum Karachis mit hierher verschlagenen Landarbeitern zu reden, jenen, die vormals auf den Anwesen der Großgrundbesitzer arbeiteten. Um sich Düngemittel und Arbeitsgeräte für ihre eigenen kleinen Felder zu kaufen, verschulden sich die Arbeiter oft bei den Großgrundbesitzern, erzählt ein Slumbewohner. Er sei nach Karachi gegangen, in der Hoffnung dort Geld verdienen zu können.
Viele Großgrundbesitzer, so ergänzt eine Sozialarbeiterin, nötigen die Bauern, ihnen ihre Kinder als kostenlose Arbeitskräfte dazulassen, Jungen im Alter von zehn bis zwölf Jahren - so lange, bis die Schulden restlos abgestottert seien.
Auch die Familie der ermordeten Oppositionsführerin und Ex-Premierministerin gehört zu den Feudalherren von Sindh, der südlichen pakistanischen Provinz rund um die Millionenstadt Karachi. Schon Benazir Bhuttos Vater, Zulfiqar Ali Bhutto, hatte sich in den 70er Jahren zum Sozialrevolutionär stilisiert. In einem Mao Tse Tung nachempfundenen Kittel und einer Ballonmütze war er über Land gefahren und hatte ein sozialistisches System verkündet. Währenddessen besuchte seine Tochter Benazir die besten Schulen im In- und Ausland, inklusive Oxford und der US-amerikanischen Eliteuniversität Harvard. Als Zulfiqar Ali Bhutto 1977 - unter dem Vorwurf politischen Mordes und gefälschter Wahlen - 1977 von General Zia ul Haq gestürzt und hingerichtet worden war, erbten zunächst seine Ehefrau und dann seine Tochter Benazir wie selbstverständlich den Vorsitz der Partei.
1988 gewann die erst 35-jährige Benazir Bhutto die Wahlen und wurde zur ersten weiblichen Regierungschefin eines muslimischen Landes.
1996 enthob der pakistanische Staatspräsident Leghari sie wegen Korruption ihres Amtes.
Heredia: "Gegen Benazir Bhutto gibt es zahlreiche Anschuldigungen, diverse seriöse Zeitungen haben in Sachen Korruption über sie und ihren Ehemann recherchiert. Es ging darum, dass sie Geld aus der Staatskasse zur Förderung ihres eigenen Images verschwendet haben oder für unnötige Auslandsreisen mit einem übertrieben großen Hofstaat. Ihre Politik bestand im wesentlichen darin, ihr Bild gegenüber dem Ausland zu pflegen, das Bild einer progressiven Premierministerin."
Trotz ihres Images einer weltlichen frauenfreundlichen Politikerin ließ Benazir Bhutto die Taliban fördern - in dieser Analyse stimmen die meisten politischen Beobachter überein. Mitte der 90er Jahre ging es nicht nur Pakistan, sondern auch dessen Schutzmacht USA um eine Hegemonie über das vom Bürgerkrieg zerrissene Afghanistan. Die Taliban boten sich als Ordnungsmacht an. Umso paradoxer wäre es, wenn die Oppositionsführerin am 27. Dezember 2007 tatsächlich einem Selbstmordattentäter der pakistanischen Taliban zum Opfer gefallen wäre. So lautet immerhin die These, die Pakistans Präsident Musharraf unmittelbar nach dem Mord verlauten ließ.
Benazir Bhutto selber nährte offenbar ganz andere Vermutungen. Einem US-amerikanischen Politiker sandte sie vor ein paar Tagen eine E-Mail, in der sie der Überzeugung Ausdruck gab, sollte sie ermordet werden, so dürfte höchstwahrscheinlich die Armee hinter der Tat stehen.
Aber auch das ist alles andere als sicher.
Denn im Konflikt zwischen General Musharraf und Benazir Bhutto spiegelt sich nicht nur der Konflikt mit der Tochter Zulfiqar Ali Bhuttos, der von der Armee dem Henker ausgeliefert wurde. Es spiegelt sich auch die Animosität zwischen der reichen Großgrundbesitzerin und dem Mohadschir, dem Sohn der aus Indien eingewanderten Flüchtlinge. Als solcher gehört Musharraf zu denen, die sich ihre Stellung im neuen Pakistan mühsam erkämpfen mussten - gegen den Widerstand der ortsansässigen Reichen vom Schlage Benazirs.
Wenige Tage vor ihrem Tod beklagte sich Benazir noch bitter darüber, dass Musharrafs Staatsmacht ihr nicht genügend Schutz gewähre.
Nach dem Tod Benazirs ist Nawaz Sharif im Spektrum der weltlich orientierten Politiker der einzige ernstzunehmende Gegenkandidat - ein Ziehsohn des strengreligiösen Generals Zia ul Haq, der sich - in bewährter Tradition - den Kampf für soziale Gerechtigkeit, die "echte" Religiosität und gegen Korruption auf die Fahnen geschrieben hat.
Doch Arnold Heredia vom Komitee für Frieden und Gerechtigkeit bleibt skeptisch:
"Nawaz Sharif ist zwar kein klassischer Großgrundbesitzer, sondern Industrieller. Aber er hat sich stets verhalten wie ein Gutsherr. In seinen eigenen Unternehmen hat er nicht einmal Gewerkschaften zugelassen, er hat den Arbeitern stets ihre grundlegenden Rechte verweigert. Und dabei ging es um nichts Außerordentliches, sondern um die grundlegenden Rechte."
Vielleicht liegt die Hoffnung für das von Gewalt geschüttelte Pakistan gerade in Kritikern wie Arnold Heredia. Schließlich hat der jüngste Protest gegen Präsident Musharrafs Einflussnahme auf die Justiz gezeigt, wie stark und selbstbewusst die pakistanische Zivilgesellschaft ist.
Muneer Malik, Chef der Anwaltskammer am 'Supreme Court' Pakistans, weiß, wie gefährlich Politiker leben in seinem Land. Einige Monate hat Malik den Protest angeführt gegen Präsident Musharrafs brachiale Demontage des Obersten Richters Ifthikar Chaudry; und schon wurden drei Anschläge auf sein Haus in Karachi verübt:
"Es gibt keine demokratische Kultur in Pakistan", sagt Malik. "Parteien hier sind Vehikel von Partikularinteressen, diktatorisch geführt von kleinen Cliquen; die Mittel der politischen Auseinandersetzung sind Populismus und Gewalt." Politik in Pakistan: das ist in der Tat kein Kampf für Ideologien oder Programme, sondern Loyalität gegenüber einer Region, einer Religion oder einem Führer.
Die "Peoples Party" PPP der Bhuttos wird beherrscht von superreichen Feudalherren der Provinz Sindh und gewählt vor allem von der ländlichen Bevölkerung. In der "Muslim-Liga" des Nawaz Sharif haben Großindustrielle aus dem Punjab das Sagen; die Partei hat ihre Basis denn auch in den Städten des Ostens - derweil in Pakistans größter Stadt Karachi eine Partei der zugewanderten Inder regiert. Mehrere islamistische Parteien teilen sich die Provinzen des Nordwestens; im rohstoffreichen Baluchistan kämpft eine weltlich orientierte Autonomiebewegung gegen die Zentralregierung. Gegensätze, verschärft und überlagert durch ethnische Konflikte und religiöse Rivalität zwischen Sunniten und Shiiten.
Gewalt hat schon immer die Politik Pakistans bestimmt, sagt in Islamabad der Journalist Imtiaz Gul - vor allem in den kurzen Phasen so genannter Demokratie: In den 90er Jahren gab es fast jede Woche Straßenschlachten zwischen PPP und Muslim-Liga; in Karachi starben allein 1995 über 2.000 Menschen durch politisch bedingte Gewalt - Ein Niveau , dem sich das Land jetzt wieder nähert. Die Pakistaner sind frustriert nach einem Jahrzehnt Militärherrschaft, in dem Soldaten fromme Muslime töteten und dafür von den USA mit Dollarmilliarden überhäuft wurden; ein Jahrzehnt des ordentlichen Wirtschaftswachstums, in dem die Reichen immer reicher wurden, die Armen jedoch bitterarm blieben. 60 Prozent der Pakistaner leben unter der Armutsgrenze; eine Zukunft für ihre Kinder sehen viele nur in der Madrassa und einem Leben für den wahren Islam - notfalls mit den Mitteln des Jihad, des Heiligen Krieges.
"Wir erleben heute eine völlig neue Generation von Jihadis. Es handelt sich zwar, zugegeben, um nicht mehr als ein halbes Prozent unserer Bevölkerung. Ein halbes Prozent von 160 Millionen jedoch, das sind über 500.000 lebende Zeitbomben - hirngewaschen, indoktriniert, fixiert auf das einzige Ziel, die zu vernichten, die den Jihad im Stich gelassen haben; den Jihad gegen Inder, Amerikaner und Russen."
Die Ideologie des Jihad hat tiefe Wurzeln seit jeher auch in Pakistans Armee, die sich seit der blutigen Gründung des Landes als Verteidiger seiner islamischen Identität versteht. Dieses Selbstverständnis radikalisierte Militärdiktator Zia ul Haq, der Pakistan von 1977 bis 88 regierte. Der tiefgläubige Muslim Zia sah in den Freiheitskämpfern Afghanistans ein Vorbild für Pakistan; er brachte Offiziere wie Musharraf und dessen Nachfolger als Armeechef, Ashfaq Kayani, in Führungspositionen; Zia machte den militärischen Geheimdienst ISI zu dem, was er heute ist: eine Art Geheimbund, der muslimische Identität auch an den Grenzen Pakistans sichern will: im Kaschmir und in Afghanistan.
"Daran haben die Dollarmilliarden der USA wenig geändert", meint Tehseen Ullah, Leiter einer islamismuskritischen Bürgerinitiative in Peshawar. "Pakistans Armee kämpft mit angezogener Handbremse gegen die Islamisten", sagt Ullah und verweist auf immer neue islamistische Kampforganisationen, die im Westen und Nordwesten aus dem Boden schießen.
Es liegt nahe, dass Benazir Bhutto, die von einer Unterstützerin der Jihadisten zu deren scharfer Kritikerin mutiert war, von eben solchen Gotteskriegern ermordet wurde. - Ob dieser Mord Präsident Musharraf nutzt oder schadet, bleibt abzuwarten. Vielleicht schließen sich jetzt erst recht PPP und Muslim-Liga zu einer machtvollen demokratischen Opposition gegen den Präsidenten zusammen; vielleicht aber auch - und das erscheint wahrscheinlicher - verschleißt man sich in Diadochenkämpfen.
Dessen ungeachtet sehen sich Musharraf und die bislang hinter ihm stehende Armee heute dermaßen zwischen allen Stühlen, dass ihnen ihr Land aus den Händen zu gleiten droht. Aus Sicht frommer Muslime haben sie sich, korrumpiert von den USA, befleckt mit dem Blut der Glaubensbrüder an der afghanischen Grenze. Aus Sicht derer, die von Demokratie träumen, hat sich Musharraf als machtgieriger Diktator erwiesen, der den Rechtsstaat demontiert, der Presse Maulkörbe verpasst und hunderte Demokraten ins Gefängnis geworfen hat.
Davon abgesehen wächst die Empörung über den sagenhaften Reichtum des Militärs in einem bitterarmen Land: Die Armee besitzt Banken, Textilfabriken und Speditionen; sie ist größter Landeigentümer Pakistans und verhält sich wie ein Feudalherr.
Bitterkeit und Enttäuschung der Pakistaner spiegeln sich in Umfragen, nach denen gerade noch 20 Prozent der Bevölkerung hinter Präsident Musharraf stehen. Als größte Gefahr erscheint jetzt nicht eine noch so blutige Militärdiktatur, sondern ein Machtvakuum in Pakistan.
Ein Vakuum, dass nicht nur in Rawalpindi, Karachi und Islamabad für Chaos sorgt sondern auch die Pläne Washingtons durchkreuzt. Die Regierung Bush steht vor einem milliardenschweren Scherbenhaufen ihrer Pakistan-Politik. Die Rückkehr Benazir Bhuttos im Oktober war das Ergebnis eines langen Tauziehens hinter den Kulissen. Über ein Jahr lang hatte Washington versucht, Musharraf und Bhutto zur Machtteilung zu bewegen. Bhutto schien angesichts vieler schlechter Optionen noch immer die verlässlichste Partnerin auf dem Weg zur Stabilisierung des Landes. Eine Stabilisierung, die durch massive Finanzhilfen offenbar nicht erreicht wurde. Erst in den vergangenen Tagen hatte die "New York Times" ein Schlaglicht auf die elf Milliarden Dollar geworfen, die in den vergangenen sieben Jahren nach Pakistan geflossen sind. Elf Milliarden für den Krieg gegen den Terror - ohne sichtbare Erfolge.
Inzwischen scheint klar, dass ein großer Teil des Geldes nicht im Sinne der Amerikaner verwendet wurde, sondern zum Beispiel in Waffensysteme ging, die sich gegen den Erzfeind Indien richten. So kann es nicht weitergehen, meint der demokratische Präsidentschaftskandidat John Edwards. Es war Geld, das vor allem in Musharraf investiert wurde und nicht so sehr in Pakistan. Wir haben viel zu wenig Bedingungen an diese Gelder geknüpft.
Das Verhältnis zwischen Washington und Islamabad hat sich im vergangenen Jahr zunehmend verschlechtert, nicht zuletzt wegen mangelnder Erfolge im Kampf gegen den Terror. Das Grenzgebiet zu Afghanistan ist zum Rückzugsraum für Taliban und El Kaida geworden. Osama Bin Laden ist noch immer auf freiem Fuß. Die Demokratisierung des Landes macht keine Fortschritte. Nur nach massivem Druck aus Washington hob General Musharraf den Ausnahmezustand vor einigen Wochen wieder auf. Die Amerikaner setzten auch den Wahltermin 8. Januar durch und selbst nach dem Attentat drängen sie auf möglichst schnelle Wahlen. Die Verschiebung wäre ein Sieg für die Extremisten, die für diese Tat verantwortlich sind, so Tom Casey, Sprecher des Außenministeriums gestern.
Während die Regierung Bush also nach wie vor auf den vorgesehenen Fahrplan hofft, kommen unterschiedliche Ratschläge von denen, die Bush beerben wollen. Der Anschlag hat den Wahlkampf verändert. Plötzlich geht es nicht mehr um die Wirtschaft, sondern um Weltpolitik. Bill Richardson, Gouverneur von New Mexiko und einst US-Botschafter bei den Vereinten Nationen fordert den Rücktritt Musharrafs:
"Wenn ich Präsident wäre, würde ich ihn bitten, zurückzutreten und eine Übergangsregierung zu bilden, bis zu freien und demokratischen Wahlen."
Barack Obama von den Demokraten rückt die Situation in Pakistan in einen größeren geographischen Zusammenhang. Obama war von Beginn an gegen den Irak-Krieg und sieht sich nun einmal mehr bestätigt:
"Wir haben eine Reihe schlechter Entscheidungen getroffen, wir haben den Fehler gemacht, in den Irak zu gehen, wir haben Afghanistan aus den Auge verloren und wir haben Anti-Amerikanismus in Pakistan gefördert. Mit diesen Themen werden wir uns auseinandersetzen müssen, und das werde ich als Präsident tun."
Aus Sicht des Weißen Hauses sind diese Kandidaten noch in beneidenswerter Lage. Sie können Rezepte ausstellen ohne handeln zu müssen. Für die Regierung Bush jedoch gibt es derzeit keine aussichtsreichen Optionen, mit Blick auf Pakistan bleibt zur Zeit vor allem das Prinzip Hoffnung.