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Von großen Denkern und kleinen Lichtern

Wenn Verlage Werke mit Titeln wie "Das Buch des Wissens. Gespräche mit den großen Geistern unserer Zeit" oder "Das Zeitalter des Undenkbaren. Warum unsere Weltordnung aus den Fugen gerät und wie wir damit umgehen können" ankündigen, ist man eher distanziert. Können Bücher die so geweckten Erwartungen tatsächlich einlösen?

Von Hans-Jürgen Heinrichs | 05.05.2010
    Die Sorge um die globale Zukunft und der Wunsch, Strategien zur Lösung der dringlichsten politischen und ökologischen Probleme aufzuzeigen, vereint zunehmend Wissenschaftler der verschiedenen Disziplinen: Politik- und Wirtschaftswissenschaftler, Anthropologen, Soziologen und Klimaforscher. Bei der Fülle der gegenwärtigen Publikationen fallen zwei Veröffentlichungen besonders auf: "Das Buch des Wissens", ein Band mit Gesprächen, geführt von dem Anthropologen Constantin von Barloewen, und eine Studie über "Das Zeitalter des Undenkbaren" des Wirtschaftswissenschaftlers Joshua Cooper Ramo.

    Auf die im Untertitel gestellte Frage, warum unsere Weltordnung aus den Fugen gerät und wie wir damit umgehen können, versucht er möglichst fassbare theoretische und praktisch umsetzbare Antworten aus der Perspektive eines am politischen Weltgeschehen teilnehmenden Beobachters und Reporters zu geben.

    "Ich wollte die Veränderung unserer Welt miterleben ... Wir stehen heute am Beginn von etwas, das sich zur dramatischsten Veränderung der Weltordnung seit Jahrhunderten entwickeln könnte. Die Veränderung ist unaufhaltsam. Sie ist infektiös."

    Worin sieht Ramo die treibenden Faktoren dieser dramatischen Entwicklung? Zum Beispiel darin, dass die Menschen ihren Instinkt und die Aufmerksamkeit für drohende Abstürze und Katastrophen - sei es in der Wirtschaft oder in Fragen der Ökologie - weitgehend eingebüßt haben. Während die Tiere in ganz Indonesien, Thailand und Malaysia vor dem Tsunami in die Berge flüchteten, erkennen die Menschen die Gefahren, trotz ihrer Hightech-Ausrüstung, zumeist erst, wenn es zu spät ist. Ramo fordert mit Nachdruck - im Grunde wie alle heute ernst zu nehmenden Publikationen zu den weltbewegenden Problemen - eine neue Art des Denkens.

    "Wir müssen uns davon befreien, Dinge so zu sehen, wie sie sind. Das heißt, sie so zu betrachten, dass ihre künftige Gestalt erkennbar wird."

    Es zeichnet Ramos Buch unter anderem aus, dass alle globalen Gefahren benannt werden und zugleich doch immer deutlich gemacht wird: zum einen gibt es Gefahren, von denen wir noch gar nichts wissen, und zum anderen können wir eher erstaunt darüber sein, dass wir von Kriegen mit chemischen Waffen oder bewusst herbeigeführten epidemielogischen Verseuchungen mit Viren global noch verschont geblieben sind.

    Wir leben, so Ramos Fazit, im "Zeitalter des Undenkbaren", umgeben von Unberechenbarem. Neue, zukunftsbestimmende Maßstäbe zu entwickeln, heißt vor allem, das Selbstbild des Menschen an dem zu messen, was er tun kann und will, welchem Raum er neuen Ideen gibt.
    Das ist auch der Tenor in dem Band "Das Buch des Wissens. Gespräche mit den großen Geistern unserer Zeit."

    "Haben Sie einen Wunsch für das neue Jahrtausend?

    Ich wünschte, dass die Gemetzel und Blutbäder aufhören."

    Die Frage des Kulturanthropologen Constantin von Barloewen und die Antwort Arthur Schlesingers, Historiker und Sonderberater Präsident Kennedys, umschreiben die intellektuelle Atmosphäre, in der die Gespräche dieses Bandes geführt wurden. Es geht um die zum Teil sehr allgemeinen Erwartungen, die (wie der Titel des Bandes ankündigt) "die großen Geister unserer Zeit” an das neue Jahrtausend hatten. Zeitpunkt also waren die Jahre 1998/1999.

    Unbeeindruckt vom alltäglichen Informationsstrom, der weitergehende Gedanken und Entwürfe zu ersticken droht, wagen sich hier Historiker und Politiker, Philosophen, Anthropologen und Naturwissenschaftler, Schriftsteller und Künstler sehr direkt in die Zone des Wünschbaren und Visionären. Welchen Weg also sollten die Gesellschaften einschlagen, welchen Idealen folgen und welche Zukunft anstreben: die von einem Weltethos, von Verantwortlichkeit und gemeinsamen Strategien geprägte gemeinsame Politik im Sinne einer Weltzivilisation? Eine Grundvoraussetzung dafür bestünde in einer "Abrüstung” der Geschichtsschreibung, wie dies Federico Mayor, von 1987 bis 1999 Generaldirektor der Unesco, fordert. Er meint damit, Geschichte nicht immer nur unter dem Aspekt der Gewalt und des Krieges zu betrachten.

    "Gewisse entscheidende Wendepunkte der Geschichte sind nicht durch die Macht, durch militärische Gewalt entschieden worden, sondern durch den Intellekt, durch die Denker, die Philosophen. Letzten Endes sind es also die Menschen von Geist, die die Geschichte machen. Und so würde ich heute den Mächtigen gerne sagen: Ihr habt genug Unglück angerichtet in den letzten Jahrzehnten. Räumt euren Platz also lieber den Denkenden, damit Maßnahmen getroffen werden, die wirklich auf die für die Menschen zählenden Werte gegründet sind."

    Der vorliegende Band ist ein Buch der Schwerpunktverlagerungen auf zeitunabhängige Werte, ein Manifest der Stärke des Denkens, Schaffens und Fühlens. Aber natürlich auch ein Buch der Enttäuschungen, zum Beispiel angesichts der fortschreitenden Globalisierung, die in vielen Fällen weniger statt mehr Demokratie zur Folge hat.

    Der Herausgeber Constantin von Barloewen:

    "Ich meine einfach, dass in der Weltpolitik, in der Entwicklungspolitik, sei es bei europäischen Kommissionen, in den Entwicklungsministerien der Industriestaaten, bei der Weltbank, beim Währungsfonds viel zu wenig, nennen wir es mal: der anthropologische Kulturbegriff überhaupt bedacht, und schon gar nicht zur Anwendung kommt. Der Mensch wird überhaupt nicht qualifiziert entsprechend der Kultur und Tradition. Der Mensch wird quantifiziert, rückhaltlos nur noch Homo Ökonomicus. Es ist erschreckend, und nicht qualifiziert entsprechend der Kultur und Religionstradition. Und damit ist das wieder ein Verlust der besagten Human-Identität."

    Welche Beiträge drücken auf exemplarische Weise die Intentionen des Herausgebers aus? Es ist zum Beispiel die Würdigung der Dichtung als
    "der einzigen Form der Erkenntnis, die wesentlich und zutiefst menschlich ist" (wie es bei Adonis heißt), der Poesie, die den Menschen erlösen könne (wie es der polnische Schriftsteller Czeslaw Milosz formuliert); es ist auch die Hymne an die Liebe, die in diesem Band Dichter und auch Politiker und Wissenschaftler anstimmen; es ist weiterhin die Warnung von Boutros Boutros-Ghali, dem ehemaligen Generalsekretär der Vereinten Nationen, vor der kulturell zerstörerischen Kraft der Globalisierung und seine Aufforderung, allen Menschen erst einmal das Recht auf Nahrung zu gewähren, bevor man überhaupt von Menschenwürde spricht.

    Zu den berührendsten Antworten dieses Bandes zählen die von gnadenlosem Pessimismus geprägten Aussagen des damals 100-jährigen Ethnologen Claude Lévi-Strauss, der die Menschheit nur als eine letztlich sinnlose Episode im kosmischen Maßstab sieht. Das in seiner intellektuellen Schärfe, seiner Zuspitzung und Weitsicht vielleicht beeindruckendste Gespräch ist das mit dem Philosophen und Wissenschaftshistoriker Michel Serres geführte. Mit der Souveränität eines Universalgelehrten nimmt er sich zugleich die Freiheit, sich sogar im streng gefassten Diskurs auf das Staunen über die Wunder der Schöpfung und auf die Liebe hin zu öffnen.

    "Ohne Verständnis für Schönheit versteht der Mensch überhaupt nichts. Sie allein rettet uns und darf von der Wahrheit niemals abgetrennt werden. Die Liebe ist die einzige Lösung. Aber sie existiert nur selten."

    Man mag einen Mangel des Buches darin sehen, dass der Fragende ein sehr überschaubares, sich in vielen Gesprächen wiederholendes Repertoire hat. Am Ende der Lektüre aber überwiegt der Eindruck, gerade dadurch Zeuge der Erkundung und Auslotung elementarer Fragen und Antworten gewesen zu sein. Mit nie nachlassender Dringlichkeit insistiert Barloewen auf der Bedeutung eines humanen, nicht rational eingeengten Weltbildes und auf der Fortsetzung des Dialogs zwischen den Kulturen. Daher die Fragen nach den metaphysischen Werten, nach der Spiritualität und dem Heiligen im 21. Jahrhundert.

    "Kann der Mensch in den hochtechnisierten Systemen an der Menschenwürde und einer allgemeinverbindlichen Ethik festhalten? Zerstört die technische Homogenisierung (der totalitäre Universalismus) die Diversität und den geistigen Reichtum der Welt?”

    Die Frage ist, ob die von Barloewen vorgegebene Gegenüberstellung der westlichen Gesellschaften (als einer von Technik-, Konsum- und Wachstumswahn dominierten Welt) und der Länder Südamerikas und Afrikas an der Peripherie (als einer vom Mythos, von kultureller, religiöser und spiritueller Identität geprägten Welt) wirklich so kategorisch zutrifft und für neue zukunftsweisende Konzepte in dieser Polarisierung tragfähig ist.

    Der Band kann Anspruch darauf erheben, in eine Bibliothek maßgeblicher Repräsentanten des ausgehenden 20. Jahrhunderts und unkonventioneller Vordenker des 21. Jahrhunderts aufgenommen zu werden. (Allerdings sollte man bei weiteren, wünschenswerten, Auflagen die holperige Übersetzung korrigieren, die zu sehr im lexikalischen Stil verfassten biografisch-bibliografischen Vorbemerkungen zu den Gesprächspartnern neu schreiben und sie auf den aktuellen Stand bringen.) Die Tradition der platonisch-sokratischen Dialoge und der Wunsch, sich gemeinsam auf die Suche nach Wahrheit zu machen und sich dabei einem hohen moralischen Ideal verpflichtet zu fühlen, werden in diesem Buch wieder verlebendigt. Die Mitherausgeberin Gala Naoumova beschreibt die Atmosphäre und die Bedeutung der Gespräche für sie so:

    "Ich glaube, das war das größte Abenteuer meines Lebens gewesen. Das gab natürlich eine unglaubliche Perspektive für das ganze Leben. In diesem Sinne glaube ich, dass dieses Buch, das kann auch vielen Menschen helfen, einfach diese Vision zu bekommen, die - ich kann nicht vergleichen, was für eine Freude das wäre, das ist einfach ein Feuerwerk von Gedanken, Emotionen, auch Poesie, auch gelebten Poesie, weil das waren nicht nur Gelehrte, sondern auch Menschen, die ein absolut unglaubliches Leben gelebt haben."

    Joshua Cooper Ramo: "Das Zeitalter des Undenkbaren. Warum unsere Weltordnung aus den Fugen gerät und wie wir damit umgehen können." Aus dem Englischen von Henning Dedekind. Riemann Verlag, München 2009, 320 Seiten, 19 Euro.