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Von Hitler bis zur DDR

Ohne Stalin hätte es vermutlich nie eine DDR gegeben. Interessanter die Frage: Was hatte Stalin mit der DDR vor? War sie für Stalin ein Staat mit Zukunft - oder lediglich eine Übergangserscheinung in der Nachkriegswelt? Über Stalin und die Deutschen ist unendlich viel geschrieben worden. "Stalin und die Deutschen" - diesen Titel trägt ein Forschungsband, den Jürgen Zarusky herausgegeben hat.

Von Dietrich Möller |
    Der Titel ist irreführend: Stalin und die Deutschen. Er lässt zunächst oder jedenfalls auch annehmen, dass wir so etwas wie des sowjetischen Diktators Bild von den Deutschen gezeichnet bekommen. Das aber ist nun keineswegs der Fall. Vielmehr handelt es sich um eine Sammlung von Aufsätzen zu Aspekten der sowjetisch-deutschen Beziehungen von den zwanziger Jahren bis zu Stalins Tod im Jahre 1953. Themen sind unter anderem: Stalin und die KPD in der Weimarer Republik, seine Kalküle und Fehlkalkulationen gegenüber Hitler bis zu dessen Angriff auf die Sowjetunion, seine Deutschlandpolitik ab 1941 und - ein weiterer Beitrag zu einer wohl nie endenden Diskussion - seine Note vom 10. März 1952, sein Verhältnis zur Führung der DDR anhand zweier Gespräche kurz darauf; ergänzend dazu beschäftigen sich vier Beiträge mit Problemen des Vergleichs der Diktaturen Stalins und Hitlers. Die Autoren sind durchweg ausgewiesene Fachleute aus Deutschland und Russland, die ihre Forschungsergebnisse zunächst auf einer Konferenz im Institut für Zeitgeschichte vor drei Jahren in München vorlegten und diskutierten.

    In seiner klugen Einleitung schreibt der Herausgeber Jürgen Zarusky:

    Die Beziehungen, Einflüsse und epochalen Ereignisse, die Stalin und sein Regime mit den Deutschen verbinden, sind so zahlreich und bedeutsam, dass die Stalinismusforschung, die seit Öffnung der russischen Archive eine rasante Dynamik entfaltet, geradezu zwangsläufig so etwas wie einen 'deutschen Zweig' hervorgebracht hat... Überdies ist ähnlich, wie in der russischen Diskussion über Stalin häufig der deutsche Diktator erscheint, in der deutschen Diskussion über Hitler oft sein sowjetisches Gegenüber implizit präsent, wobei es sich allerdings nicht um eine gleichsam 'spiegelbildliche' Analogie handelt.

    Es wäre ein schwieriges Unterfangen, neben der Einleitung auch alle 14 Beiträge zu würdigen. Und es ist zugegebenermaßen ein subjektives Beginnen, nun einzelne auszuwählen. Dennoch - die Sicht von Aleksej Filatow auf die Stalin-Note zur deutschen Frage ist ein guter Grund, auf sie hinzuweisen. Filatow, führender Mitarbeiter an der Russischen Akademie der Wissenschaften, kommt zu der doch überraschenden Ansicht, dass Stalins Außenminister Molotow eine geschmeidige Position gegenüber der deutschen Frage einnahm und aus ihr heraus eine wesentliche Rolle bei der Abfassung der Note gespielt habe - ja, dass er sich in bewusstem Gegensatz zu Stalin befand:

    Ist es nicht vielleicht überhaupt angebracht, auf den Begriff 'Stalin-Note' zu verzichten? ...Wäre es ... nicht logischer, von der 'Molotow-Note' zu sprechen. Dann würde sich die Initiative von 1952 gut in den Gesamtkontext der 'unorthodoxen' Ideen und Handlungen des sowjetischen Staatsmannes einfügen, die bis heute wenig verstanden worden sind.

    Zur inhaltlichen Bewertung der Note meint Filatow, mit ihr habe Moskau...

    ...die deutsche Frage als offen anerkannt, es wurde die Verantwortung der Großmächte für die Suche nach ihrer Lösung anerkannt und schließlich wurde die Bereitschaft zum Ausdruck gebracht, in Verhandlungen über alle ihre Aspekte einzutreten, inklusive der Wiedervereinigung... Unabhängig von den Motiven der damaligen sowjetischen Führung kann man sagen, dass die Note ... sich objektiv dem Rahmen eines vernünftigen Kompromisses am stärksten näherte.

    Im Gegensatz zu Filatows teils originellem, teils polemischem Beitrag ist der gemeinschaftlich von Bernd Bonwetsch und Sergej Kudrjaschow erarbeitete über die letzte Begegnung der DDR-Führung mit Stalin mustergültig in Darstellung und Analyse. Wilhelm Pieck, Otto Grotewohl und Walter Ulbricht weilten vom 31. März bis zum 8. April 1952 in Moskau, um dort die für Juli 1952 angesetzte Zweite Parteikonferenz der SED vorzubereiten. Mit Stalin fanden zwei Treffen statt, eines am 1. April, das andere - und übrigens letzte mit dem Diktator - am 7., jeweils spät abends, wie es Stalins Gewohnheit war. Natürlich müsste man annehmen, dass jene Note vom 10. März dabei ein herausgehobenes Thema gewesen wäre.

    Nach dem in dem Beitrag veröffentlichten Wortprotokoll beider Treffen sprach es Pieck zwar an, ohne aber von Stalin - oder auch von Molotow - eine direkte Antwort zu erhalten. Sie erfolgte indirekt, beim zweiten Treffen:

    Stalin eröffnete den deutschen Genossen zu ihrer Überraschung, dass die Einheitsperspektive hinfällig sei, da man nicht mit Kompromissbereitschaft der Westmächte ... rechne, welche Vorschläge man auch selber mache. Die DDR solle ihren eigenen Staat aufbauen und die Demarkationslinie zu Westdeutschland als 'gefährliche', stark zu sichernde Grenze betrachten. Einzig Otto Grotewohl, als ehemaliger Sozialdemokrat nicht ganz so bolschewistisch sozialisiert wie Pieck und Ulbricht, wagte am Ende nachzufragen, ob man dann nicht auch die 'offizielle Haltung der Regierung der DDR zur Frage der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands' ändern müsse. Doch Stalin erwiderte, dass die Einheitsargumentation zu Propagandazwecken fortzusetzen sei, und erklärte: 'Auch wir werden weiterhin Vorschläge zu Fragen der Einheit Deutschlands machen, um die Amerikaner zu entlarven.'

    Dazu passt die - auf entsprechende Fragen der SED-Repräsentanten - Anweisung Stalins, die Kasernierte Volkspolizei zu nationalen Streitkräften auszubauen:

    ... Stalin belehrte die 'Freunde' aus Berlin, die etwas verzagt auf die von ihnen selbst erzeugten pazifistischen Stimmungen in der Bevölkerung hinzuweisen suchten, dass die Westmächte nur Stärke respektierten und die DDR erst dann ernster nähmen, wenn dort eine Armee aufgestellt werde. Die Deutschen sollten aufhören, 'Vegetarier' zu sein und wieder Fleisch essen.

    Für das Verhältnis zwischen Stalin und der SED-Führung war es bezeichnend, dass die deutschen Genossen weder beim Entwurf der Note vom 10. März konsultiert oder auch nur informiert wurden, noch dass man sie über die zweite, am Tage nach ihrer Abreise aus Moskau an die Westmächte ergangene Note unterrichtete. Ganz anders war das Verfahren, als es um die Vorbereitung der SED-Parteikonferenz ging. Da gab es sogar detaillierte Anweisungen, einen Kurswechsel vorzunehmen. Stalin verlangte, den sozialistischen Charakter der DDR herauszustellen, ...

    ... ihn insbesondere in der Landwirtschaft durch die Gründung von Kolchosen zum Ausdruck zu bringen. Stalin erklärte der SED-Führung, dass die Volkseigenen Betriebe und die Kolchosen, die man aus propagandistischen Gründen
    'Produktionsgenossenschaften' nennen sollte, ein 'Stück Sozialismus' seien, zu denen man sich 'ohne Geschrei bekennen solle'.


    Und natürlich folgte die SED-Führung, ohne diese doch folgenschwere Kursänderung als solche mit Stalin zu diskutieren:

    Die Konsequenz ... war die Änderung des Programms für die II. Parteikonferenz der SED. Statt um Frieden, Einheit, demokratischen Aufbau und Erfüllung des Fünfjahresplans sollte es ... nun um 'Frieden, Einheit, Demokratie und Sozialismus' gehen... Entsprechend ... wurde auf der II. Parteikonferenz ... der 'Aufbau des Sozialismus' als 'grundlegende Aufgabe' ... beschlossen.

    Dies war letztlich das Ergebnis. Doch in dem zitierten Aufsatz wird auch auf allerhand Merkwürdigkeiten und Unklarheiten hingewiesen, die es in Moskau über den künftigen Kurs der SED bis zu deren Konferenz gab. Es ist fesselnd zu lesen, worin sie sich äußerten und wie sie von Ulbricht genutzt wurden, bei aller Hörigkeit gegenüber Stalin.

    Jürgen Zarusky (Hrsg.): Stalin und die Deutschen. Neue Beiträge zur Forschung
    Oldenbourg Verlag, München 2006
    290 S. Euro 44,80
    ISBN 3-486-57893-6