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Von Juni zu Juni

Mitten hinein in die Romanhandlung fahrt der erste Satz von Irina Korschunows "Von Juni zu Juni": "Esther ist wieder da, verzeih mir, hat sie gesagt, beiläufig, als wäre nur ein Stück Porzellan zerbrochen."

Sylvia Schwab |
    Und schon ist der Leser über Wesentliches informiert: Nicht nur über Esthers Rückkehr und ihre karge Entschuldigung, sondern auch aber etwas, was dieser Satz nur indirekt mitteilt: Während Esthers Abwenheit ist nämlich weitaus mehr zerbrochen als nur ein Stuck des edlen Nymphenburger Porzellans aus der ebenso edlen Vitrine des Ehepaars Matrei.

    Die Fluchtgeschichte der sechzehnjärigen Esther und ihre furchtbaren Folgen für die ganze Familie hätten auch einen spannenden Krimi abgeben können. Doch den wollte Irina Korschunow nicht schreiben. Bewußt rollt sie das Geschehen von hinten her auf. Nicht der Action-Antel am Handlungsablauf interessiert sie: der mögliche Mord und die monatelange Suche nach der verschwundenen Tochter. Sie konzentriert sich vielmehr auf das, was sich vor und während Esthers Flucht hinter den Kulissen der eleganten Villa ihrer Eltern und zwischen diesen beiden abspielt. Dazu Korschunow:

    "Eigentlich ist diese Katastrophe, die da einbricht durch das Verschwinden der Tochter, der Anlaß für die Katastrophe zwischen diesem Ehepaar. Ich würde sagen, wenn ich ganz aufs letzte gehe, ist es eine Liebesgeschichte."

    Eine Liebesgeschichte, die sich zu einer Haßgeschichte entwickelt, erzählt von Linda Matrei, der Frau des Stararchitekten Philipp Matrei. Nachdem Esther, einzige Tochter und Augapfel ihres Vaters, wieder aufgetaucht ist nach sechs Monaten Aus-Zeit auf Ibiza, nachdem ihre Ehe endgültig zerstört und die Firma ihres Mannes in Konkurs gegangen ist, jetzt - viel zu spät - versucht Linda Matrei zu begreifen, was passiert ist und erinnert sich. Erinnert sich an ihre Kindheit in einem Elternhaus, das geprägt war durch eine depressive Mutter, die im Büßergewand meinte, die Nazi-Verbrechen des Vaters sühnen zu können. An ihre junge Liebe zu Philipp, dem idealistischen Architekturstudenten und ihre Bereitschaft, seine Ziele und Träume ganz zu ihren eigenen zu machen. An das schrittweise Auseinanderleben, die schleichende Zerstörung ihrer Beziehung durch Geld und Erfblg, seine Liebschaften und ihre Langeweile. Und schließlich an Esthers Flucht, die sich vom angepaßten Töchterchen aus gutem Hause in eine renitente Fremde verwandelt hatte.

    Eine Liebesgeshichte. Aber auch eine Vater-Tochter-Geschichte, in deren Verlauf Papas reizender Liebling sich aus den einengenden Umarmungen befreit, der strahlend stolze Vater aber als Schürzenjäger enttarnt und als Vergewaltiger verdächtigt wird. Dazu Korschunow:

    "Es ist aber auch, glaube ich, eine Mutter-Tochter-Geschichte, wobei es mehr um die Gefühle der Mutter als die der Tochter geht, weil die Tochter ja eben nicht da ist. Sie kann nur immer rekapitulieren, ich habe so furchtbare Angst gehabt, was sollte ich tun in dieser Angst, wie konnte ich überhaupt damit leben. Während sie erzählt, hat sie die ja schon nicht nwhr, weil Esther wieder da ist, und darum kann sie auch auf andere Punkte kommen. Kann fragen, warum hat Esther mir das angetan, was ist zwschen uns passiert, kann ich ihr das überhaupt jemals verzeihen, daß sie uns so zerstört hat durch ihr verschwinden."

    Vieles, von dem was Irina Korschunow in "Von Juni zu Juni" erzählt, kommt dem Leser irgendwie bekannt vor: Der skrupellose Stararchitekt mit seinen wechselnden Liebschaften, die frustrierte Gattin mit ihren diversen Sprachkursen und sozialen Veranstaltungen, die rebellische Tochter und die Seele von Haushälterin, der Psychologe mit den zarten Händen und der verständnisvolle Arzt. Nicht zuletzt die alternativen Künstlerfeste und die elegante Architektenvilla in der Nähe des Nytmphenburger Parks. Bekannt aber nicht aus dem wirklichen Leben, sondern aus dem Fernsehfilm vom Sonntagabend, ob er nun "Tatort" heißt oder "Die zwei". Doch Irim KorschunOw ist eine viel zu versierte Erzählerin, um diese Verwandtschaft unkomentiert zu lassen. Vielmehr betont sie noch den Seriencharakter von Figuren und Handlung, wenn sie Linda feststellen läßt, ihre Beziehung zu Philipp habe sich entwickelt wie in einer "Seifenoper" und Esthers Fluchtgeschichte sei "ganz wie im Krimi" verlaufen. Die Autorin entlarvt das Leben und Scheitern des Vorzeigehepaars Matrei als eine Ansammlung von Klischees, macht jedoch den Fehler, diese nur zu kopieren, statt sie kritisch unter die Lupe zu nehmen.

    Das hängt auch damit zusammen, dass Linda, die Erzählerin, selbst ein Mitglied dieser Schicki-Micki-Klischee-Welt ist und erst schrittweise lernt, gedanklich - und übrigens auch beruflich - selbständig zu werden. Dazu Korschunow:

    "Ich habe gewußt, dass ich diese Geschichte von der Frau aus erzählen wollte. Ich wollte eigentlich die Eindeutigkeit dieser Katastrophe, dieses Unausweichliche, es kornmt dadurch auch diese Atemlosigkeit rein."

    Als doppelter Kunstgriff erscheint dagegen die Aufsplitterung der Handlung: Vergangenheit und Gegenwart bzw. die Ehegeschichte und das rasant verlaufende halbe Jahr während Esthers Abwesenheit werden abwechselnd erzählt, stehen unvereinbar nebeneinander oder greifen ineinander. Dazu kommen, als dritte Handlungsebene, Esthers Erlebnisse auf der Flucht und auf Ibiza bis zu ihrer spontanen Rückkehr, beschrieben in den wenigen dürren Sätzen, die sie ihrer Mutter gönnt.

    Auch stilistisch ist Irina Korschunow - wie in ihren anderen Romanen - außerordentlich beweglich. Mal leise ironisch, dann wieder bitter-sarkastisch, aber mit einem wachen Blick für zwischenmenschliche Stimmungen und Konflikte schildert Linda ihre Erlebnisse und Erinnerungen. Dabei entschlüpft ihr manche nachdenkliche Lebensweisheit:

    "Es gibt Fragen die sind nur erlaubt, wenn man der Antwort sicher ist"

    ist solch eine Einsicht. Sie kommt Linda allerdings zu spät- nachdem sie durch ihr Mißtrauen Philipp gegenüber dazu beigetragen hat, die letzte Bindung zwischen ihnen zu zerstören. Rückwirkcnd betrachtet wird nun auch klar, warum Irina Korschunow die eingeschränkte Perspektive der Ich-Erzählerin gewählt hat: Im Erzählen selbst begreift Linda erst das Muster, nach dem ihr Leben ablief. Schreibend bzw. mit sich selbst sprechend macht sie Erfahrungen, die Veränderungen in ihr auslösen. Erzählen als Entwicklungs- und Erkenntnisprozeß, Erzählen als Weg zu sich selbst - auch das ist kein unbedingt neues Motiv. Aber Irina Korschunow hat es glaubhaft gestaltet. So ist es konsequent, wenn ihr Roman offen endet:

    "...kann sein, daß jetzt alles anders werden könnte mit Philipp und mir. Ein neuer Film. Aber vielleicht ist auch das nur wieder eine Illusion. Ich möchte es wissen." Als Leser allerdings muß man den Fortsetzungsfilm dann doch nicht mehr sehen.