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Von Kamera zu Kamera

Bislang basiert Videoüberwachung noch immer auf Kamera, Bildschirm und menschlichem Auswerter. Mit "NEST" läuten Fraunhofer-Wissenschaftler jetzt einen Paradigmenwechsel in der Videoüberwachung ein.

Von Mirko Smiljanic | 17.01.2009
    Großbritannien ist das best überwachte Land der Welt, mehr als vier Millionen Kameras beobachten Straßen und Plätze, U-Bahntunnel und Gebäude. Trotz anfänglicher Euphorie über angeblich mehr Sicherheit im öffentlichen Raum macht sich jetzt allerdings Ernüchterung breit. Die milliardenschweren Investitionen – sagt Mike Neville, Chef der Scotland-Yard-Abteilung für Videoüberwachung – haben die Kriminalität nur unwesentlich eingedämmt. Grund für das Fiasko ist nicht die Methode, der Grund liegt schlicht im Personalmangel. Es gibt einfach kaum qualifiziertes Personal, um die endlose Bilderflut auszuwerten. Damit, sagt Professor Jürgen Beyerer, Leiter des Fraunhofer Instituts Informations- und Datenverarbeitung in Karlsruhe, ist das alte Paradigma der Videoüberwachung tot.

    "Das neue Paradigma wird sein, dass man sich nicht mehr an der Zahl der Kameras orientiert, sondern an den Überwachungsaufgaben. Und diese Überwachungsaufgaben, die werden zum Beispiel durch einen Softwareagenten verfolgt, der schaut auf diese Aufgabe, und nur wenn die Aufgabe aus ihrer Toleranz herausläuft, wird menschliches Personal involviert. Dabei ist es vollkommen irrelevant, ob 100 oder 1.000 Kameras beteiligt sind, über die hinweg diese Aufgabe verfolgt wird."

    Das neue Überwachungssystem heißt NEST beziehungsweise Network Enabled Surveillance and Tracking und verfolgt Personen. Ein Beispiel: Jemand betritt in roter Jacke und einen Koffer hinter sich herziehend den Flughafen. Der Softwareagent registriert "Koffer" und "rote Jacke". Gerät der Besucher in den Bereich der zweiten Kamera, fahndet der Agent nur noch nach "Koffer" und "rote Jacke". Ist eine entsprechende Person gefunden, verfolgt NEST sie weiter, sucht gleichzeitig aber weitere charakteristische Merkmale.


    "Wenn Sie eine Person wiedererkennen wollen, dann müssen Sie das anhand von Merkmalen tun. Merkmalen wie Größe, wie Farbe der Kleidung, hat er eine Tasche dabei und so weiter, und diese Merkmale, die sammeln wir und machen ein immer schärferes Profil dieser Person, die uns erlaubt, wenn die Person, den Bereich einer Kamera verlässt, sie im Bereich einer anderen Kamera sicher wieder zu erkennen,..."

    …wobei NEST übrigens die gesamte Bandbreite aller nur denkbaren Informationen nutzt,...

    "…das sind eben alle optischen Sensoren, ob das jetzt im Infrarot ist oder im Terahertzbereich oder im sichtbaren Bereich, das sind aber auch Sensoren, die schnüffeln, Sensoren, die wiegen, Sensoren, die horchen."

    Überwachung total – von der metrischen Vermessung, über Wärmebilder und Stimmproben, bis hin zur Analyse des Parfüms – NEST erfasst alles, vor allem aber: NEST verfolgt Personen! Damit, sagt Thilo Weichert, Leiter des Unabhängigen Landeszentrum für Datenschutz Schleswig-Holstein, bewegt es sich juristisch auf sehr dünnem Eis,...

    "…weil es jetzt massenhaft möglich ist, Menschen zu überwachen, sie zu tracken, das heißt nachzuvollziehen, wo sie hinlaufen, wie sie sich bewegen, wie sie sich verhalten, für was sie sich interessieren, mit wem sie sich treffen. Das ist das Horrorszenario für uns Datenschützer, wenn es selbst im öffentlichen Raum keine Bereiche mehr gibt, wo man sich unkontrolliert verhalten kann."

    Das Erstellen von Bewegungsprofilen im öffentlichen Raum engt nach Meinung des Kieler Datenschützers die in der Verfassung garantierten Rechte eines jeden Bürgers drastisch ein. Und hinzu kommt: Das Videotracking schafft keineswegs mehr Sicherheit,…

    "…weil nämlich die soziale Kontrolle in der Bevölkerung reduziert wird, die Menschen achten nicht mehr so darauf, wie sich ihre Mitmenschen verhalten, weil sie davon ausgehen, dass Videokameras im Hintergrund schon das Notwendige verrichten werden,…"

    …eine Erfahrung, die ja gerade erst das mit Überwachungskameras übersäte Großbritannien machen musste. Trotzdem arbeiten die Karlsruher Fraunhoferforschern weiter an NEST. Noch ist das System allerdings nicht einsatzbereit, noch müssen technische Probleme gelöst werden.

    "Das eine sind natürlich die Auswertealgorithmen für die Daten, die relevanten Informationen zu trennen von den Irrelevanten in den Daten, aber auch unabhängig zu werden von Störeinflüssen und dann die verschiedenen Datenströme aus verschiedenen Sensoren zu bündeln, diese Fusionsproblematik, die bietet noch einige Schwierigkeiten, die wirklich verlässlich und schnell lösen zu können."

    In einigen Monaten soll es aber so weit sein, dann möchte Jürgen Beyerer ein videobasiertes IP-Multi-Kamera-System vorstellen, das Personen detektieren und kameraübergreifend verfolgt. Den großen technischen Bruder sieht er aber nicht. NEST, sagt Beyerer, macht die Drecksarbeit, die Entscheidung, ob jemand überprüft oder gar verhaftet wird, fällt in jedem Fall ein Mensch. Für Thilo Weichert reicht das nicht. Überhaupt wäre ihm wohler, wenn Datenschutzexperten schon im Vorfeld der Entwicklung um Rat gefragt worden wären.

    "Dass Fraunhofer die Datenschützer nicht früher ins Boot geholt hat, ist ein Fehler. Wir sehen, dass dann oft gewaltige Falschfinanzierungen und Fehlinvestitionen vorgenommen worden sind, weil man eben den Datenschutz nicht mit bedacht hat."