Dienstag, 21. Mai 2024

Archiv


Von Königsberg nach Kaliningrad - 300 Jahre Preußen

Die offiziellen Feiern dauerten vier Tage. Aus zwei Brunnen vor dem Schloss floss für jedermann Rot- und Weißwein, und man kann sich denken, wie der Pegel der Sympathie für das erste preußische Königspaar in der Bevölkerung stieg. Drinnen aber, im Schloss, ging am 18. Januar 1701 eine ungewöhnliche Zeremonie vor sich. Der König setzte sich im Audienzsaal des Schlosses eigenhändig die Krone auf sein Haupt und ergriff das königliche Zepter selbst, er ließ es sich nicht geben, wie es sonst üblich war. Danach ging er in die Gemächer der Königin und setzte ihr die Krone aufs Haupt. Sein Vater hatte noch streng darauf geachtet, dass er von Gottes Gnaden als Fürst regierte und leitete seine Macht von Gottes Willen her. Sein Sohn aber krönte sich und seine Gemahlin aus eigenem Vermögen, ohne auf das Gottesgnadentum zu pochen. Der Hof hielt sich bis Mai in Königsberg auf, und die Rückfahrt der nicht enden wollenden Wagenkolonne geriet nicht weniger prachtvoll als die Hinreise. Nun standen viele Menschen an der Route, jede Kanone schoss Salut, jeder Gaul wieherte, jeder Soldat schrie "Hurra!". Die Königsberger Feste wurden gleichsam fortgesetzt. Die Stadt Berlin erstrahlte von "Lichtern, Lampen, Fackeln und Freudenfeuern", wie der Hofdichter und Zeremonienmeister Johann von Besser den Einzug beschreibt. "Und diejenigen, die den Salut von der Brandenburgischen Artillerie gehöret, konnten allhier deren Macht und Gewalt empfinden.

Diverse | 14.05.2001
    Königsberg 1701 - Geburtsstunde des Königreiches Preußen, beschrieben von Hans Bentzien in seinem Buch "Das ungleiche Königspaar. Der schiefe Fritz und die allerschönste Prinzessin", Westkreuz Verlag, Berlin/ Bonn 2001.

    Als Kurfürst Friedrich III. sich in Königsberg die Krone aufs Haupt setzte, war die Hansestadt am Pregel mit 40.000 Einwohnern doppelt so groß wie Berlin. 300 Jahre später weht über Königsberg die russische Flagge, ist Preußen längst untergegangen, liegt das, was von Deutschland übrig blieb, westlich der Oder. Wir schreiben das Jahr 2001. Preußen ist tot - und so lebendig wie nie. Alle reden von Preußen, schreiben über Preußen, erinnern an Preußen. Politiker und Publizisten reiten auf der Preußen-Welle, eine Flut von Preußen-Literatur ergießt sich über das Land. Und manchen Werken gelingt sogar der Sprung in die Bestseller-Listen. Da fällt es nicht leicht, den Überblick zu behalten, die Spreu vom Weizen zu trennen. Hans-Jürgen Fink hat die umfangreiche Preußen-Literatur gesichtet und ein halbes Dutzend Bücher für Sie und für uns gelesen.

    Was soll uns Preußen heute? Warum sollten wir uns eines Staates erinnern, der definitiv von der europäischen Landkarte verschwunden ist und wohl ebenso definitiv keine Chance hat, je wieder dort in Erscheinung zu treten? Hat nicht der Alliierte Kontrollrat mit seinem Gesetz vom 25. Februar 1947, zwei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, unmissverständlich erklärt, der Staat Preußen, seit jeher Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland, habe in der Wirklichkeit zu bestehen aufgehört? Und wurde dieses Kunstgebilde Preußen, das einem Meteor gleich am europäischen Staatenhimmel auf- und niederging, nicht längst seiner Mythen entkleidet: des Mythos von Ordnung, Redlichkeit und Liberalität auf der einen, von Militarismus und Reaktion auf der anderen Seite? - Sorge und Hoffnung, so schrieb bereits vor zehn Jahren der Publizist und Verleger Jobst Siedler, ein Preuße, wie er - im wahrsten Sinne des Wortes - im Buche steht, in seinem nach wie vor gültigen Essay "Abschied von Preußen", Sorge und Hoffnung, also, beziehen sich auf Illusionen. Zumal dieses Preußen schon weit vor diesem behördlich verfügten Ende gestorben war, 1871, so Marion Gräfin Dönhoff, die zutiefst in diesem untergegangenen Land verwurzelte "Zeit"-Herausgeberin in ihrem schon ausgangs der achtziger Jahre erschienenen Preußen-Bändchen "Maß und Maßlosigkeit", 1871 also, als Preußen in Deutschland aufging und der Goldrausch der Gründerzeit über die Menschen kam, damals, als das Geld an die Stelle von Pflicht und Ehre trat und zum Maßstab aller Dinge wurde. Damals, 1871, so Sebastian Haffner in seinem fesselnden Bilder-, Lese- und Lehrbuch "Preußen ohne Legende" aus den siebziger Jahren, als Preußen zur stärksten Macht und der König von Preußen zum Deutschen Kaiser geworden war.

    Und in diesem Augenblick des größten Triumphs... beginnt Preußen abzusterben. Es hat Deutschland erobert. Nun wird es von Deutschland erobert. Die Reichsgründung erweist sich, von Preußen aus gesehen, trotz aller Bismarckschen Vorsichtsmaßregeln, als eine gloriose Form der Abdankung.

    Und deshalb, so fügt Haffner am Ende hinzu, war die von den Siegermächten 1947 verfügte Auflösung des preußischen Staates nur noch Leichenschändung. Und doch - erinnern wir uns: Wie war das vor nun schon mehr als zehn Jahren, als die Wiederherstellung der deutschen Einheit unverhofft auf der Tagesordnung der europäischen, ja der Weltpolitik stand, und als dann, wenig später, der Bundestag über den Umzug von Regierung und Parlament von Bonn nach Berlin debattierte? Urplötzlich war sie wieder da - die Sorge, ja die Angst, vorgeschoben oder tiefverwurzelt, über die Wiedergeburt Preußens in einem nach Osten erweiterten mächtigen Deutschland in der Mitte Europas. Und dies nicht nur bei unseren französischen und britischen Nachbarn, nein, auch bei vielen Deutschen in der alten Bundesrepublik, die auf Mauerfall und Vereinigung emotional nicht vorbereitet waren. Der renommierte amerikanische Historiker Gordon Craig erinnert in einem aktuellen Nachwort zu seinem jetzt neuaufgelegten Bändchen über "Das Ende Preußens" an diese, wie er formuliert, kuriose Episode in der jüngsten deutschen Geschichte, die dennoch zeige, dass für viele Deutsche Preußen zwar nicht quicklebendig, so doch mit einer gefährlichen Fähigkeit zur Wiederauferstehung ausgestattet sei. Wer davon im 21. Jahrhundert spreche, huldige einem geschichtlichen Illusionismus schlimmster Art, warnt der Stanford-Professor, kommt jedoch abschließend zu dem beruhigenden Urteil:

    Zum Glück lockt diese Fata Morgana allem Anschein nach kaum noch jemanden hinter dem Ofen hervor. Indem die Bundesrepublik sich davor gehütet hat, sich in ihrer Politik oder ihrer Philosophie auf einen historischen Popanz zu berufen, der für ihre heutigen Bestrebungen keine nennenswerte Relevanz besitzt, hat sie die Befürchtungen, die in der Debatte um die Verlegung des Regierungssitzes hochkamen, gegenstandslos gemacht. Und nichts deutet darauf hin, dass sie in absehbarer Zeit von diesem vernünftigen Kurs abweichen wird.

    Wenn dem so ist - oder sein sollte, wenn also kein Weg aus Preußen in das Deutschland von heute führt, warum sollten wir uns heute erinnern an Preußen, abgesehen von der runden Jahreszahl, die uns an Jahr und Tag erinnert, da sich Friedrich in Königsberg die Königskrone aufs Hohenzollern- Haupt setzte? Gewiss - für die Kernlande Berlin und vielleicht mehr noch für Brandenburg ist dies ein auch politisch wichtiges Jubiläum, hilft es doch bei der Suche nach Identität und Selbstvergewisserung in dieser schwierigen Umbruchszeit. Schließlich ist die alte Mark Brandenburg alles, was von Preußen "in seiner grandiosen Kurzlebigkeit" vom verrufenen Raubritterparadies zur modernen Großmacht mit ihrem allmählichen Erlöschen blieb. Wohl niemand hat den Bogen so trefflich gespannt von der alten Mark zum heutigen Brandenburg wie Jobst Siedler, weshalb es denn lohnt, in seinem schon erwähnten "Abschied von Preußen" diese Sätze noch einmal zu lesen:

    Eine lange Geschichte und ein kurzer Glanz. Wieder einmal muss man sich am eigenen Schopfe aus der Kargheit seiner Rüben- und Kartoffelwelt ziehen. Hat man das aber nicht immer tun müssen? Erst machte man sich die brandenburgische Aristokratie dienstbar, domestizierte sie zu preußischem Adel, dann führte man in Theologie, Philosophie, Kunst und Poesie eine neue Epoche herauf, und ganz zum Schluss schufen die Borsigs, die Siemens' und Rathenaus aus dem Nichts das größte Industriezentrum zwischen Atlantik und Ural, auf einem Boden, den nichts dazu prädestinierte, weder Kohle noch Erz noch Wasserkraft. Das Ingenium des Ortes und seiner Menschen musste ersetzen, was die Natur verweigerte. Die Lage ist so neu nicht, vor der sich Brandenburg heute sieht.

    Mancherorts aber wird vergessen oder verdrängt, wie groß dieses Preußen einmal war und wie weit es reichte: von Tilsit bis Trier, von Fulda bis Flensburg umfasste es zu Beginn des 20. Jahrhunderts drei Fünftel des Deutschen Reiches mit fünf Achteln der deutschen Bevölkerung. Bundespräsident Johannes Rau erinnert in dem jetzt erschienenen Sammelband "Preußen 1701/2001" in der Herausgeberschaft von Günther von Hase und Reinhard Appel daran, dass er 1931 in Wuppertal gewissermaßen als Preuße zur Welt kam. Ohne preußische Vorarbeit, meint auch der Historiker Eberhard Straub in seiner bei Siedler erschienenen "Kleinen Geschichte Preußens", gäbe es das Land Nordrhein-Westfalen nicht. Auch die meisten anderen Bundesländer bestünden aus Fragmenten Preußens. Und manch einer - westlich der Elbe - würde sich vermutlich verwundert die Augen reiben, wäre ihm nur bewusst, wie weit Preußens Spuren in die Gegenwart reichen.

    Wenn man hier in Köln ist, auf der Hohenzollern-Brücke, da stehen ja nun immerhin vier preußische Könige doch immer noch sehr majestätisch auf ihren Rössern. Wenn man mit der Eisenbahn fährt, oder wenn man an den Kölner Dom denkt, der ist auf Initiative des Preußischen Königs, Friedrich Wilhelm IV., seit 1841 wieder aufgebaut worden als ein nationales Denkmal, auch als ein Denkmal der religiösen Versöhnung zwischen Katholiken und Protestanten, weil es ja hier gerade auch in Köln gelegentlich unter Friedrich Wilhelm III. auch wiederum Schwierigkeiten gab. Oder dann die Fußballvereine wie Borussia Dortmund, (das) ist eben ein "Preußen-Dortmund" und Preußen-Münster dann wieder. Da gibt es also auch genug Erinnerungen. Oder wenn man auch wieder mal auf Bonn zurückgreifen will: Die Königshusaren in Bonn, die waren doch mindestens einmal so berühmt wie die Stolper Husaren. Sie gehörten mit zu den besten, soziologisch angesehensten Regimentern, die es im alten Preußen gegeben hat.

    Nur zu gerne, meint Straub, seien die Deutschen nach dem Kriege dem Alliierten Preußen-Verdikt gefolgt, in der Hoffnung auf Absolution von den Verbrechen der Nationalsozialisten, die sich auf Preußen beriefen, es gleichzeitig aber vernichteten. Doch es war nicht ein aggressives Preußen, betont Straub, das nach einem Großreich strebte, vielmehr empfing der deutsche Nationalismus erhebliche Energie aus dem deutschen Südwesten:

    Das hat uns natürlich das Überleben nach 1945 sehr erleichtert, dass eben die Preußen die Schuldigen an allem sind, was unerquicklich oder unfriedlich oder wie man es auch immer sonst umschreiben mag, an der deutschen Geschichte ist. Das sind aber natürlich auch Ausflüchte, denn selbstverständlich war Preußen im Dritten Reich ja gar kein selbständiger Staat mehr. Was im Dritten Reich passierte, das war eine gesamtdeutsche Angelegenheit. Da können sich die Deutschen nicht hinausmogeln, indem sie sagen, ja das sind alles nur preußische Traditionen gewesen.

    Vor diesem Hintergrund trifft sicherlich zu, was Bundespräsident Rau in dem eben erwähnten Sammelband feststellt:

    Preußen - zu oft und zu lange galt nur schwarz oder weiß. Geist und Geschichte Preußens wurden entweder verklärt oder verurteilt... Darunter hat auch noch das Preußenbild im geteilten Deutschland gelitten. 2001 ist das erste "Preußenjahr" im geeinten Deutschland. Die zeitliche Distanz gibt uns die Chance, Preußen gelassener und ruhiger zu verstehen zu suchen. Wir sollten diese Gelegenheit nutzen.

    Wer diese Gelegenheit nutzen will, sollte zu den beiden Neuerscheinungen greifen, die sich mit der Hohenzollern-Dynastie, genauer: mit den Männern und Frauen beschäftigen, die den preußischen Staat über die Jahrhunderte hinweg führten und repräsentierten. Frank-Lothar Kroll, Professor für Neuere und Neueste Geschichte in Erlangen und jetzt in Chemnitz, zeichnet als Herausgeber für einen Sammelband über "Preußens Herrscher - Von den ersten Hohenzollern bis Wilhelm II." Die 13 Porträtskizzen spiegeln, eingebettet in den gesamteuropäischen Kontext, Lebensweg und Leistung der Kurfürsten, Könige und Kaiser und bieten auf diese Weise eine profunde Gesamtschau preußisch-deutscher Geschichte vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Sie lesen sich mitunter wie eine Vorlage zu immer noch ausstehenden Einzelbiografien der Hohenzollern, rücken manches historische Vor- und Fehlurteil zurecht. Beispielsweise Friedrich, der letzte Kurfürst und erste König, geschmäht von seinem Enkel, dem großen Friedrich, als "groß im Kleinen und klein im Großen" und gegeißelt wegen seines "Hangs für das Zeremonienwesen und seines verschwenderischen Prunks". Dass dieser Prunk der Königskrönung und höfischer Glanz eine eminent politische Funktion hatten und Brandenburgs neuen Rang im Reich und im Reigen der Großmächte mitbegründeten, darauf macht Wolfgang Neugebauer in dem Kroll-Sammelband aufmerksam, wenn er schreibt:

    Brandenburg-Preußens Weg im Europa des 17. Jahrhunderts machte es schlechterdings erforderlich, nun ostentative Pracht und höfische Ausstattung nicht (mehr) zu vernachlässigen, sondern als politisches Ausdrucksmittel stärker zu gewichten. Sie waren nicht primär Ausfluss individueller Herrscherneigung, sondern Resultat von Macht- und Statuskonkurrenz in der rangmäßig, gleichsam staatenständisch gestuften politischen Welt des entwickelten Völkerrechts im 17. Jahrhundert. Pracht war -ganz entgegen bürgerlicher Maßstäbe - nicht unnutzer Aufwand, sondern politische Funktion, und dies ganz besonders in den Jahrzehnten um 1700.

    Kaum beachtet bleibt bei Neugebauer der politische Schachzug, mit dem Friedrich die Zustimmung des Kaisers in Wien zur Königskrönung gewann und den Widerstand der Reichsfürsten auf elegante Weise umging. Sicher hatte er dem Kaiser hernach 8000 brandenburgische Soldaten zu stellen, doch bleibt es eine geniale Idee, die neue Krone an das frühere Ordensland Preußen, also außerhalb des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation zu binden. Nachzulesen sowohl in dem ebenso schön wie informativ bebilderten Begleitbuch zur ARD-Fernsehreihe "Preußen - Chronik eines deutschen Staates" als auch im Katalog zur weitsichtig bereits vor drei Jahren veranstalteten Ausstellung des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz unter dem Titel: "Via Regia - Preußens Weg zur Krone". Auch der Beitrag von Frank-Lothar Kroll zum letzten der Hohenzollern-Herrscher, Wilhelm II., liest sich wie ein Appell zu einem fairen und gelassenen Umgang mit dieser schillernden Figur eines, wie Kroll meint, zeitlebens überforderten Menschen in einer Epoche der Brüche und Widersprüche: Hinter der Fassade eines kraftstrotzenden Imperators ein entscheidungs- und durchsetzungsschwacher Charakter, der Glaube an ein Königtum von Gottes Gnaden und die Begeisterung für die neue technisch-wissenschaftliche Welt, die Moderne:

    Immerhin, er war der Gründer der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft für die Förderung der Wissenschaften, der heutigen Max-Planck-Gesellschaft. Das war seine Initiative. Er hat wie kaum ein anderer zeitgenössischer Herrscher die technischen Hochschulen nach vorne gebracht. Er hatte reges Interesse an Altertumskunde, an Alt-Orientalistik, an Ägyptologie, hat erhebliche Privatmittel da auch versucht lockerzumachen. Das ist ihm auch geglückt. Selbst Wilhelm II., von dem man das, wie gesagt, nicht unbedingt annimmt, hat zur Kultur und zum Bildungsideal einen ziemlich regen Bezug gehabt.

    Wenn mit diesem Sammelband die Türe zu weiteren Forschungen aufgestoßen wird, so hat Karin Feuerstein-Praßer mit ihrem Buch über "Die preußischen Königinnen" eine Lücke geschlossen. Vor vier Jahren schon hatte sie die deutschen Kaiserinnen portraitiert. Jetzt stellt sie die sieben preußischen Königinnen vor, von Sophie Charlotte an der Seite Friedrichs, des ersten Königs, bis zu Elisabeth von Bayern, Gemahlin von Friedrich-Wilhelm IV., dessen Bruder Wilhelm erster deutscher Kaiser wurde. Im reinen Männerstaat Preußen hatten Frauen einen schweren Stand. Eine Maria Theresia, schreibt Feuerstein-Praßer, war an der Spree ebenso wenig denkbar wie eine Pompadour. Nur wenige konnten sich einen eigenen Freiraum schaffen wie Sophie Charlotte, die "Philosophin auf dem Thron" im Schloss Charlottenburg. Eine aber ist bis zum heutigen Tage an Popularität unübertroffen: Luise von Mecklenburg-Strelitz. Schon zu Lebzeiten verehrt, so Feuerstein-Praßer, wurde sie durch ihren frühen Tode endgültig zum preußischen Mythos. So trifft denn das Dichterwort auf Luise in besonderem Maße zu, was allgemein für Preußen gilt: Was einmal war, das lebt auf ewig fort.

    Hans-Jürgen Fink rezensierte die folgenden Bücher: Eberhard Straub: Kleine Geschichte Preußens, Siedler Verlag, Berlin 2001; Preußens Herrscher, herausgegeben von Frank-Lothar Kroll, Verlag C.H. Beck, München 2000; Karin Feuerstein-Praßer: Die preußischen Königinnen, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2000; Preußen - Chronik eines deutschen Staates, herausgegeben von Wolfgang Ribbe und Hansjürgen Rosenbauer, Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 2000 und Preußen 1701/2001, herausgegeben von Karl-Günther von Hase und Reinhard Appel, ECO Verlag, Köln 2001.

    Preußen hat viele Köpfe hervorgebracht: Denker und Lenker, die etwas bewegten, die die Geschichte voranbrachten. Zu den großen Preußen, die im russischen Ostpreußen besonders verehrt werden, gehört Albrecht von Brandenburg-Ansbach, Hochmeister des Deutschen Ordens und Gründer der Königsberger Albertina. Er habe es verstanden, die Starrheit der politischen Mentalität seiner Zeit zu überwinden. Er habe sich als hervorragender Staatsmann bewährt, so das jüngst im Verlag "Jantarnyi Skaz" in Kaliningrad veröffentlichte Buch "Albrecht I. von Preußen" aus der Feder von Walentin Zorin. Rückblende. 20. Juli 1544. Herzog Albrecht erlässt eine Proklamation, die seine Herolde überall im Preußenland verkünden:

    Die Bestimmungen Gottes und der Menschen sowie die Geschichte des menschlichen Geschlechtes selbst haben mehrfach bestätigt, dass ohne die Wissenschaften keine Gesetze verabschiedet werden, keine Gerichte und sonstige öffentliche Einrichtungen bestehen können. Aus diesem Grund haben wir mit Gottes Hilfe dafür gesorgt, dass überall in den Städten, wo wir wohnen, Kinderschulen gegründet werden, damit dort die Anfänge der lateinischen Sprache und der christlichen Glaubenslehre unterrichtet werden. Und schließlich eröffnen wir in unserer Stadt Königsberg die Universität, damit dort konsequent und in vollem Umfange alle edlen Künste unterrichtet und Sprachen gelernt werden, deren Kenntnis die Kirche benötigt. Mögen auch manche, die die religiöse Lehre leichtsinnig auffassen, bzw. glauben, man könne den Staat durch Gewalt oder Waffen, und nicht mit Hilfe der Religion, der Gesetze und der Disziplin regieren, unseren Beschluss missbilligen, nichtsdestoweniger ist der Sinn unserer Festlegung völlig klar. Wir hoffen, dass unsre Akademie auch den zahlreichen großen Völkern, die in Ost und West an Preußen grenzen, Nutzen bringen wird. Durch die Wissenschaften, die sich in diesem Lande entwickeln werden, können viele gutausgebildete Seelenhirten herangezogen werden. Mögen auch in Zukunft Priester, Redner, Schullehrer und Schreiber in unsere Städte eingeladen werden, aber nicht von außerhalb, sondern nur aus der Königsberger Universität!

    Die populärste Preußin wurde nur 34 Jahre alt. Und doch hat sie wie keine andere Frau die preußische Geschichte geprägt. Als Gegenspielerin Napoleons betrat Königin Luise die Bühne der Weltpolitik. Die Brücke über die Memel, die das russische mit dem litauischen Ostpreußen verbindet, trägt noch heute ihren Namen. Und am Rathaus von Memel wurde erst unlängst eine Gedenktafel für Königin Luise angebracht. Die "schöne Königin", sie ziert auch den Titel eines der jüngsten Bestseller in Deutschland: "Preußens Luise. Vom Entstehen und Vergehen einer Legende". Günter de Bruyn hat das Buch geschrieben - Dietrich Möller hat es gelesen.

    Es war fürwahr ein spartanisches, ein ebenso herbes wie maskulin geprägtes Staatswesen, dieses Preußen bis zur sogenannten Reichsgründung anno 1871: Nichts schien ihm fremder zu sein und ferner zu liegen als Gelassenheit und heitere Lebenslust, ganz zu schweigen von fröhlicher Frivolität. Was - beispielsweise - weiß uns denn seine Geschichte über amüsante Affären bei Hofe und um ihn herum zu berichten, über Skandale gar oder auch nur Skandälchen, die der preußischen Politik wenigstens einen Hauch von Leichtigkeit verliehen hätten, wenn es denn schon keine Liederlichkeit geben durfte? Was ist uns überhaupt an weiblichem Einfluss überliefert, wenn das Land solcher Frauen von Format entraten musste, wie es etwa Maria Theresia für Österreich und zwei Katharinen sowie Elisabeth für Russland welche waren? In dieser Hinsicht erweist sich die preußische Historie so faszinierend wie eine Handvoll märkischen Sandes. Elf preußische Königinnen sind in den Annalen verzeichnet, doch nur eine von ihnen ausführlicher denn lediglich als Gemahlin und Mutter eines Thronfolgers. Aber liest man heute nach, was ehedem über diese eine geschrieben wurde, erhält man ein eher kitschiges Bild anmutiger Schönheit und hingebungsvoller Gatten- und Mutterliebe, der Opferbereitschaft und Leidensfähigkeit, fast ein Heiligenbild. Die Rede ist von Königin Luise. Vielmals beschrieben und besungen, aus Gips geformt, aus Marmor geschlagen und Porzellan gebrannt, natürlich auch gemalt und gezeichnet, auf die Bühne gestellt und schließlich noch fürs Kino entdeckt, widerfuhr ihr das Schicksal jeder Heiligen: Sie wurde zur Legende, während sie als historische Figur verblasste. Und als Legende bediente man sich ihrer wie es beliebte und von Nutzen schien, als Lichtgestalt im Kampf gegen Frankreich, als Idealtyp der deutschen Frau, als Patronin von Weltkrieg-I.-Veteranen und als Traditionsmutter nationalistischer Wahlkämpfer. Das hielt so um die 200 Jahre, bis auch das an Wirkung verlor - insofern doch ganz anders als manch viel ältere Heiligenlegende.

    Wie war das möglich? Vor allem, wie war es überhaupt zu dem Mythos "Luise" gekommen? Günter de Bruyn, der in der Tradition Fontanes so wunderbar Beschreibende und Erzählende hat sich jener beiden Fragen angenommen und sie in einem Essay "Preußens Luise. Vom Entstehen und Vergehen einer Legende" überaus einfühlsam und mit der ihm eigenen Klarheit beantwortet. Dabei macht er aus seiner Sympathie für die aus dem Hause Mecklenburg-Strelitz hervorgegangene Königin keinen Hehl, so wenig, wie aus der zu Preußen, freilich ohne ihr blindlings zu verfallen. Diese Einstellung lässt an seine Erinnerungen, an die "Zwischenbilanz" und eine Passage darin über seine Mutter denken: Da schrieb er von Pflichtbewusstsein, das er wohl in erster Linie seiner preußischen Mutter zu verdanken habe,

    ... die ihre Grundsätze zwar nie klar formulierte, uns aber ein Beispiel gab. Was sein muss, muss sein! Jammern nützt nichts! - oder: Hilft ja nichts! Mehr als diese Redensarten bekamen wir von ihr darüber kaum zu hören, aber täglich lebte sie uns Klag- und Selbstlosigkeit vor. Pflichterfüllung, gleichgültig wo, wofür und warum, hatte ihren Wert in sich selbst; jedes Aufgeben war Niederlage, das die Selbstachtung kostete. Und deren Verlust war schlimmer als die Verachtung, die von anderen kam.

    Seiner - ja: Heldin nähert sich de Bruyn erst einmal mit dem Bildhauer Schadow als einem Zeitgenossen Luises, er zitiert ihn und beschreibt die von ihm geschaffenen Büsten Luises und ihrer Schwester Friederike, aus denen dann ein doppeltes Standbild hervorging. Beides sowie eine Zeichnung Schadows sind ihm Vorwürfe, die 1793 als Siebzehnjährige nach Berlin gekommene Prinzessin und das sie dort erwartende Umfeld zu schildern.

    Zu den Vorzügen der Legendengestalt Luise zählte neben ihrer Anmut und Schönheit auch das, was man ihre Natürlichkeit nannte, dem Hofzeremoniell entgegengesetzte und als Ausdruck von Güte und Menschlichkeit sah.

    Beispiele dafür bietet die Hochzeit mit dem späteren König Friedrich Wilhelm III. am Heiligabend 1793:

    Obwohl es nicht schicklich ist, küsst und umarmt sie das weißgekleidete Bürgermädchen, das sie bei ihrer Ankunft als Braut vor der Ehrenpforte Unter den Linden mit einem Gedicht bewillkommnet, so dass die Oberhofmeisterin ausrufen muss: 'Mein Himmel! Das ist ja gegen alle Etikette. Zum Entsetzen von Friedrichs Witwe.

    ... Friedrichs des Großen Witwe Elisabeth Christine ...

    ... grüßt sie, statt sich grüßen zu lassen, die ankommenden Hochzeitsgäste. Die Konventionen missachtend, modernisiert sie den Hof durch zeitgemäßes Walzertanzen, und leicht ist sie, auch in der Öffentlichkeit, zu Tränen gerührt.

    Und über die Ehe Luises mit Friedrich Wilhelm schreibt de Bruyn:

    Sie war mustergültig im bürgerlichen Sinne. Man liebte nicht nur einander, sondern sagte auch du zueinander, was allen bisherigen Gepflogenheiten widersprach.

    Gemessen am höfisch Üblichen, lebte das Paar auch eher bescheiden und zurückgezogen, und damit konnte ...

    ... den an Luise gerühmten Eigenschaften auch die der Genügsamkeit hinzugefügt werden, die seit den Zeiten des Soldatenkönigs in Preußen viel galt.

    Schönheit und Zugänglichkeit, Bescheidenheit und Sittsamkeit ließen Luise schon populär sein, bevor sie im November 1797 Königin wurde; und Maler wie Dichter waren nur allzu bereit, diese gegenüber all ihren Vorgängerinnen auf dem Thron so ganz andersgeartete Frau noch populärer zu machen. Zur Legendenbildung fehlten nur noch zwei Elemente: der Sieg Napoleons über Preußen im Oktober 1806 mit der Flucht Luises nach Ostpreußen und der Demütigung durch den französischen Kaiser zum einen, zum anderen der frühe Tod der Königin am 19. Juli 1810 mit gerade 34 Jahren. Es entsprach durchaus Geist und Stimmung der Zeit, dass Achim von Arnim in einer Kantate zum Tode Luises die Verstorbene nun als "Schutzgeist" Preußens sah; und das trauernde Volk tröstete er mit der Verheißung:

    Uns umstrahlet die Entfernte, Frisch zur Arbeit, frisch zur Ernte, Wie die Sonne kehret wieder, Blickt die Herrscherin hernieder, Triumph, Triumph! Sie bleibt uns nah! Singt dem Herrn Halleluja.

    Und ein Unbekannter reimte zur Zeichnung einer von Engeln gen Himmel Getragenen:

    Mit Blumen ist der Pfad des Lichts bekränzet, Der IHR der Engel der Vergeltung beut Und über der Verklärten Haupte glänzet Die Sternenkrone der Unsterblichkeit; Im heil'gen Kampf verhängnisvoller Tage Ertönt um SIE des treusten Volkes Klage.

    Geradezu zahllos waren Huldigungen dieser Art, aber zu einer Sache des Staates wurde die Würdigung, als der königliche Witwer Friedrich Wilhelm III. die Stiftung des Eisernen Kreuzes nachträglich auf Luises Geburtstag legte. Das passte so recht zu Theodor Körners Vorstellung, Luises Bildnis als "Heiligenbild für den gerechten Krieg" gegen die Franzosen auf die Fahnen zu heften, und:

    Luise sei der Schutzgeist deutscher Sache. Luise sei das Losungswort der Rache.

    Günter de Bruyn nennt Napoleon den "Geburtshelfer eines deutschen Nationalismus", und er schreibt dann:

    Die mit Sieg endende Bekämpfung Napoleons vor allem durch Preußen konnte später die Legende von der sogenannten 'Deutschen Sendung' Preußens bestätigen. Und da auch der kleindeutsche Nationalstaat sich wieder im Kampf gegen Frankreich verwirklichte, konnten alle Mythen, die sich direkt oder im übertragenen Sinne (wie im Germanenkampf gegen die Römer) auf den 'Erbfeind’ bezogen, im Bismarck-Reich weiter ihre Zwecke erfüllen - so auch die Lichtgestalt einer Luise, die ihren Glanz erst einbüßen musste, als in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Feind keiner mehr war. Denn Mythen verblassen, wenn ihre Zwecke den Notwendigkeiten der Zeit nicht mehr entsprechen.

    Zu dem längst verblassten Bild gehörte auch das süßlich-kitschige der hingebungsvoll liebenden Gattin und Mutter. Luise war gewiss beides, doch ob man ihr mit Darstellungen nach Art der Madonnenmalerei gerecht wurde, ist höchst fraglich. Sie wurde benutzt, verwertet: von einer Männergesellschaft als Vorwurf für deren Idealtypus einer Frau, von einem Kaiser - Luises Sohn Wilhelm - zu dessen Reputation. Ja, die 1871 begonnene Kaiserzeit wurde zur Hoch-Zeit der Luisenverehrung, schreibt de Bruyn, ...

    ... immer sagenhafter und pseudosakraler.

    Freilich, es gab auch Zeitgenossen, die der Wirklichkeit der Person Luises verpflichtet blieben, und solche, die sich von der unmäßigen Verehrung abgestoßen fühlten. Der Freiherr vom Stein gehörte zu ihnen, Theodor Fontane und Alexander von Humboldt, mit gehörigen Abstrichen die Historiker Mommsen, Treitschke und Hintze. Günter de Bruyn zitiert sie, um seinerseits ebenso unaufdringlich wie sensibel das Legendäre vom Tatsächlichen zu scheiden. Das Fazit seines Essays lautet:

    Auf unsere Gemüter können Mythen nur so lange wirken, wie sie uns als Wahrheiten gelten; wenn wir wissen, warum sie entstanden, und welchen Zwecken sie dienten, sind wir ihrer Macht schon entflohen. Mit überlegenem Lächeln können wir auf jene zurückblicken, die ihnen, ohne es zu wissen, verfallen waren. Wir können uns für aufgeklärt und immunisiert halten - dabei aber genauso wenig wie jene, die wir belächeln, wissen, dass die Entlarvung von Mythen nicht deren Ende, sondern nur ihren Wechsel bringt.

    Dietrich Möller über Günter de Bruyn: Preußens Luise. Vom Entstehen und Vergehen einer Legende, Siedler Verlag, Berlin 2001. Was wäre Preußen gewesen ohne seinen Osten - ohne Ostpreußen. Das "Land der dunklen Wälder und kristallnen Seen", Kernland des Ordensstaates, Vorposten und Bollwerk des Reiches, bedrängt und umkämpft, von Seuchen geplagt und von fremden Eroberern verwüstet, es ist stets wiederaufgestanden, hat trotz eigener Schwäche Kraft zu spenden vermocht. So ging die Wiederaufrichtung des preußischen Staates im Jahre 1813 von Ostpreußen aus. In der Endphase des Zweiten Weltkrieges musste Ostpreußen die größten Opfer bringen - bis es selbst zur Kriegsbeute wurde. Ostpreußens Schicksalsjahre - die Jahre 1944 bis 1948 - setzten den Schlusspunkt unter die Geschichte der deutschen Provinz Ostpreußen. Fortan gab es ein russisches, ein polnisches und ein litauisches Ostpreußen. Die Deutschen mussten gehen - wurden von den neuen Herren des Landes vertrieben. Ostpreußens Schicksalsjahre gehören zu den besonders dunklen Kapiteln des 20. Jahrhunderts. Ruth Kibelka bemüht sich seit Jahren, in diese finstere Zeit - zumindest wissenschaftlich - ein wenig Licht zu bringen. Ihr jüngstes Buch trägt den Titel "Ostpreußens Schicksalsjahre 1944 -1948". Eine Rezension von Klaus Bednarz.

    Es ist eine zweifellos erfreuliche Entwicklung, dass die Beschäftigung mit Ostpreußen und vor allem Königsberg und dem Königsberger Gebiet zunehmend auch für jüngere Autoren und Historiker von Interesse wird. Jahrzehntelang galt die Beschäftigung mit Ostpreußen in den Augen vieler hierzulande als eine Domäne der Ewiggestrigen, schlimmer noch, der Unbelehrbaren und Revanchisten. Die Generation der Nachgeborenen nun steht jenseits dieser Verdächtigungen und nähert sich dem Thema weitgehend emotionslos, oft sogar ohne eigenen biographischen oder sonstigen persönlichen Bezug. Die Beschäftigung mit Ostpreußen, vor allem mit der Periode seines Versinkens in der Geschichte, hat für die jüngere Historiker-Generation auch dadurch an Attraktivität gewonnen, dass nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der politischen Neuorientierung Ost- und Mittelosteuropas auch der Zugang zu Archiven möglich wurde, die bis dahin der westlichen Forschung - und nicht nur ihr - hermetisch verschlossen waren. Von dieser Öffnung der Archive profitiert auch Ruth Kibelkas unlängst erschienenes Buch "Ostpreußens Schicksalsjahre 1944 - 1948", wobei der Titel etwas irreführend ist, denn es geht nicht um das ganze ehemalige Ostpreußen, sondern fast ausschließlich um den nördlichen Teil, um Königsberg und das Königsberger Gebiet, heute zu Russland gehörend, sowie das angrenzende, heute zu Litauen gehörende Memelland. Die Aufgabe, die sich die Autorin nach eigener Aussage gestellt hat, ist die Darstellung der dramatischen Umbrüche jener Jahre aus der Perspektive der Betroffenen und auf der Basis neu erschlossener Archivmaterialien. In der Tat liegt die Stärke des Buches in den Teilen, in denen zumeist lokale Statistiken und Dokumente Aufschluss geben, wie in einzelnen Regionen und Ortschaften des nördlichen Ostpreußens die Sowjetisierung der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen sowie des gesamten Alltagslebens vonstatten gingen. In nüchternen Zahlen und im Wortlaut amtlicher Verfügungen spiegelt sich die ganze Tragödie des untergehenden Ostpreußens, die durch Willkür, aber auch weitgehende Konzeptionslosigkeit und administrative Unfähigkeit gekennzeichnete Herrschaft des sowjetischen Besatzungsregimes, das Verwahrlosen der Äcker und Dörfer, die Hungersnöte, Deportationen, Zwangsumsiedlungen, Vertreibungen. Dokumente aus dem litauischen Staatsarchiv, dem Archiv des litauischen Innenministeriums, dem Archiv der Kaliningrader Gebietsbehörde für Volksbildung und dem Kaliningrader Staatsarchiv, aber auch aus dem Sonderbestand des Russischen Staatsarchivs in Moskau, fördern nicht selten überraschende Erkenntnisse zutage, sowohl was die konkreten Verhältnisse in einzelnen Städten und Dörfern angeht als auch das Zusammenwirken innen- wie außenpolitischer und wirtschaftlicher Faktoren. So werden erstmals Zahlen über das Problem der Waisenkinder, die Kindersterblichkeit und die Schulsituation im sowjetisch-besetzten nördlichen Ostpreußen bekannt, aber auch neue Einzelheiten zum Zusammenspiel zwischen SED- und Kremlführung bei der Umsiedlung, sprich Vertreibung der nach dem Krieg noch in Königsberg und im Königsberger Gebiet verbliebenen Deutschen. Deutlich werden die Unterschiede im Status und in der Behandlung der im Memelland und im Königsberger Gebiet verbliebenen Deutschen. Während im Jahre 1947 die deutsche Bevölkerung aus Königsberg, das nun Kaliningrad hieß, ausgewiesen wurde, erklärte man die Memelländer per Gesetz zu Staatsbürgern der UdSSR. Dabei verfuhr man nach dem gleichen Argumentationsmuster wie die polnischen Behörden mit den nach dem Krieg in Masuren verbliebenen Deutschen. Während diese von der polnischen Regierung schlicht zu germanisierten Polen erklärt wurden, vertrat die sowjetische Regierung im nördlichen Ostpreußen die Auffassung, die deutschen Memelländer seien eigentlich germanisierte Litauer. Unterschiedlich waren auch die Formen und Verläufe der Sowjetisierung im Memelland und im Königsberger Gebiet. Dies belegt Ruth Kibelka mit einer Fülle von Dokumenten, vor allem am Beispiel der Landwirtschaft und der Entwicklung des Schulwesens und zieht Parallelen zur heutigen Situation im Kaliningrader Gebiet und im Memelland, wobei nicht überrascht, dass die Zukunft des jetzt russischen Teils Ostpreußens weit skeptischer gesehen wird, als die des heute zu Litauen gehörenden Memellandes. Trotz aller unbestreitbaren Verdienste der Arbeit von Ruth Kibelka enthält sie auch eine Fülle von Fragwürdigkeiten, Ärgernissen und schlicht falschen Tatsachenbehauptungen, bei denen man sich ein beherzteres Eingreifen des Sachbuch-Lektorats im Aufbau-Verlag gewünscht hätte. Das reicht von der ebenso vollmundigen wie nachweislich unrichtigen Behauptung, es habe vor Ruth Kibelka noch keine wissenschaftlichen Arbeiten gegeben, die sich auf behördliche Dokumente des Kaliningrader Gebiets beziehen, bis zur unkritischen Übernahme des polnischen Propaganda-Begriffs "Autochtone" für die nach dem Krieg in Masuren verbliebenen Deutschen. Eine geradezu makabre Stilblüte ist die Feststellung Ruth Kibelkas, dass wirtschaftlicher und sexueller Raubzug zu einer Methode gehörten, die sich beim weiteren Vormarsch der Roten Armee, so wörtlich, "bewähren" sollte, ohne etwa ironisierende Anführungsstriche. Und ob es wirklich so war, dass die Flucht der Deutschen aus Ostpreußen mehr befördert wurde durch die verantwortungslose und hektische Reaktion der deutschen Behörden als durch das Verhalten der russischen Militärs möge dahingestellt bleiben. Dennoch, Ruth Kibelkas Buch ist ein wichtiger Beitrag zur Aufklärung und zum Verständnis eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte: dem Ende Ostpreußens und dem Schicksal derer, die dieses Ende vor Ort überlebten, ausgeliefert den Siegern und deren Vorstellungen von einer neuen, vermeintlich besseren Welt.

    Klaus Bednarz über Ruth Kibelka: Ostpreußens Schicksalsjahre 1944 - 1948, Aufbau-Verlag, Berlin 2000. Als die Ostpreußen vertrieben wurden, da verlor auch "Mutter Ostpreußen" - die Dichterin Agnes Miegel - ihre Heimat. In unzähligen Versen hat Agnes Miegel ihre geliebte Vaterstadt Königsberg besungen. Und in einem jetzt erstmals veröffentlichten Brief beschreibt sie das von britischen Bombern im August 1944 in Schutt und Asche gelegte Königsberg. Der Brief - datiert vom 5. Oktober 1944 - findet sich in dem von René Nehring verfassten Buch "Namen, die man wieder nennt", Edition Truso, Berlin 2000. Agnes Miegel über das zerstörte Königsberg:

    Es ist wohl kaum eine Großstadt so rasch und gründlich zerstört wie unser armes Königsberg. Selbst wenn man es öfters sieht, wagt man nicht seinen Augen zu glauben, denkt immer wieder, dass es doch nicht wahr sein kann, oder hält sich selbst im noch stehenden Haus für ein fabelndes Gespenst! ... Wie wird Königsberg in 10 Jahren aussehen? Dann ist es genau 700 Jahre alt. Als der Turm der Neuroßgärter Kirche zusammenstürzte (über den gottlob, aushaltenden großen Tiefbunker) brach der Turmkopf ab. Ein Herr hat die Bleirolle drin gerettet - man hielt sie für einen Kanister - da kam in ganz erhaltenem Leinenstück die Urkunde vor vom Mai 1644 - also genau 300 Jahre und drei Monate wurde die schöne Kirche. Die mit ihr damals am gleichen Tag vom Blitz getroffene Löbenichtsche Kirche ist jetzt auch mit ihr in gleicher Stunde vernichtet. Die Tragheimer soll wie die Maraunenhofer nur sehr beschädigt sein. Es stehen noch die Haberberger Kirche, die kleine Steindammer - unsere älteste "Nikolaus"-kirche, die Luisen- und St. Adalbertskirche auf den Hufen — und es steht, wenn auch beschädigt noch der Schlossturm und unter ihm am sehr beschädigten Südturm - nur halb vorhanden- (die Schlossruine ist unsagbar traurig, der Hof gesperrt, —) der alte Kaiser Wilhelm mit aufgerecktem Schwert wie anklagend - und Bismarck, Herzog Albrecht und vor der verräucherten leer gebrannten Univ. Friedrich Wilhelm III. Auch Herzog Albrecht reitet noch im Giebel seiner Universität - bloß sein Ross hat einen Halsschuss. Im schaurig dunklen verräucherten ganz ausgebrannten Dom ist hinter der Altarwand eine Nische, da ist ein Teil Stuck fort - und es sieht vom Eingang genau aus wie ein riesiger Christus in weißem Kleid und rotem Überwurf, mit ausgestrecktem Arm! Ich habe fast alles durchwandert, nur nicht Sackheim und Löbenicht, sie waren immer gerade abgesperrt, wohl wegen Sprengungen, es dröhnte überall. Der Pregel ist noch wie Tinte, die mächtigen Pfähle wie verbrannte Streichhölzer, das Feuer ist immer hin und her drüber gebraust. Immer noch suchen die Menschen vermisste Angehörige! Aber von Vielen, Vielen, wird man nie wieder hören, - auch alle Ämter sind ja vernichtet. Ganz hell sieht's im Westen aus von den Brücken, alle, alle Speicher, alte Fachwerkspeicher und neue feste — sind ganz und gar fort! - Zuletzt ehe sie sanken, haben im Feuersturm noch alle Kirchenglocken geläutet, wirklich das Sterbelied. —" (...) "Ganz fremde Menschen und alte Soldaten haben geweint, - sogar die Hamburger und Kölner. Aber ich kann es immer noch nicht.

    Literaturliste


    Eberhard Straub: Eine kleine Geschichte Preußens Siedler Verlag, Berlin 2001, 174 S., DM 28.00, ISBN 3-88680-723-1

    Frank Lothar Kroll (Hrsg.): Preußens Herrscher. Von den ersten Hohenzollern bis Wilhelm II. Verlag C.H. Beck, München 2000, 364 S., DM 49.80, ISBN 3-406-46711-3

    Karin Feuerstein-Praßer: Die preußischen Königinnen Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2000, 324 S., DM 58.00, ISBN 3-7917-1681-6

    Wolfgang Ribbe / Hansjürgen Rosenbauer (Hrsg.): Preußen - Chronik eines deutschen Staates Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 2000, 288 S., DM 49.80, ISBN 3-87584-023-2

    Karl-Günther von Hase / Reinhard Appel (Hrsg.): Preußen 1701/2001, ECO Verlag, Köln 2001, 320 S., DM 49.95, ISBN 393451980-6 Rezensent: Hans-Jürgen Fink

    Günter de Bruyn: Preußens Luise. Vom Entstehen und Vergehen einer Legende Siedler Verlag, Berlin 2001, 144 S., DM 28.00, ISBN 3-88680-718-5 Rezensent: Dietrich Möller

    Ruth Kibelka: Ostpreußens Schicksalsjahre 1944 - 1948 Aufbau-Verlag, Berlin 2000, 358 S.,DM 39.90, ISBN 3-351-02505-X Rezensent: Klaus Bednarz