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Von Leichenbestattern und jovialen Kumpeln

Die zweite Oper des 1971 in Basel geborenen Komponisten Andrea Lorenzo Scartazzini stützt sich auf ein relativ bekanntes Stück Literatur, nämlich die Erzählung "Der Sandmann" E.T.A. Hoffmanns. Das jüngste Werk Scartazzinis, rund um Rache und Tod , hatte nun in Basel Premiere.

Von Frieder Reininghaus |
    Zunächst kommt kein Licht ins Dunkel. Schwarz wartet die Bühne und schweigt. Ein langes Orchester-Vorspiel – Exposition musikalischer Materialien – stimmt auf die Krankengeschichte des jungen Möchtegern-Schriftstellers Nathanael ein und auf seine Beziehungsprobleme mit der handfest-lebenspraktischen Clara. Zunächst nur schemenhaft werden die Konturen des geografisch unbestimmten Ortes der Handlung erkennbar: vor schmalen hohen Türen und einem Bücherregal ein Tischchen mit einer manuellen Reise-Schreibmaschine.

    Da heutzutage Romane in aller Regel auf Laptops hergestellt werden, dürfte – dies deuten auch die Anzüge an – der Regisseur Christof Loy die Handlung in den 1980er Jahren angesiedelt haben. Jedenfalls hat er sie vom frühen 19. Jahrhundert E.T.A. Hoffmanns gebührend weit weggerückt. Auch vom späten 19. Jahrhundert Jacques Offenbachs: Das Personal der neuen Kammer-Oper mit Chor und großem Orchester ist den Theatergängern zum Teil aus dem zweiten Akt der "Contes d’Hoffmann" geläufig. Doch in Basel nimmt der Plot erst einmal eine ziemlich andere Wendung, bis er – da in nicht unerheblichem Maß auch eine Beziehungsfarce sein will – am Ende wieder bei der literarischen Vorlage einkehrt.

    Der Titel "Sandmann" klingt nach Kindheit und Idylle. Und mit beidem hat die Novelle von 1816 wie das neue Fünf-Personen-Stück von Thomas Jonigk und Andrea Lorenzo Scartazzini zu tun. Mehr aber noch mit den Abgründen, die sich dahinter auftun. Der Sandmann – das ist der personifizierte "schwarze Wolkenschatten", die Quelle von Unbill und Unheil im für Nathanaels Familie. Der junge Mann, der sich die kindlichen Traumatisierungen, die Erziehung mit Kopfnüssen und der Kohlenschaufel von der Seele schreiben will, wird beständig vom toten Vater heimgesucht. Der kam, zusammen mit seinem sinisteren Compagnon Coppelius, bei einer mysteriösen Explosion in seinem Studierzimmer um.

    Thomas Piefka gibt den toten Vater, einen Leichenbestatter mit Leichenbittermiene, und Hans Schöpflin nicht minder überzeugend den jovialen Kumpel mit genialischem Haarschopf und einer Schussvorrichtung im Regenschirm: "Der Sandmann macht kurzen Prozess". Die beiden alten Kameraden setzen, Erziehungsgrundsätze dozierend, dem jungen zu. Der sieht dadurch seine beschränkte Lebenstauglichkeit noch verstärkt (es ist kein Zufall, dass schon Sigmund Freud die Hoffmannsche Novelle als Anlass für seine Studie "Das Unheimliche" nahm). Sie schießen ihn erst einmal über den Haufen – und dann noch einmal. Und auch des Weiteren glaubt er sich immer wieder tot. Aber er hat, wie eine Katze, irgendwie sieben Leben (Ryan McKinny zeichnet das mit seinem geschmeidigen Bariton vorzüglich nach). Bis er dann, zur Erleichterung von Clara, dann doch im Kühlen Grab liegt.

    Die Lebenspartnerin war keineswegs davon erbaut, was Nathanael in den Roman seines Lebens schreiben wollte oder schrieb (unklar bleibt, was er überhaupt "real" auf die Reihe bekam und was alles er nur träumte): Empört trägt sie vor, wie er von seinen Selbsttherapieversuchen berichtet, in deren Zug er sich heillos in die rassige Italienerin verliebt. Die aber entpuppt sich mit ihrer willkommenen permanenten Ja-Sagerei und überzogenen Willigkeit als chipgesteuertes Kunstprodukt.

    Christof Loy lässt, indem Nathanael sie "ermordet", eine größere Menge Kabelsalat aus ihrem Bauch quellen. Den "besten Sex des Lebens" will der Ich-Erzähler des Romans dann aber mit der auf unerklärliche Weise rasch gestorbenen Geliebten Clara gehabt haben – da sie ihm endlich nach seinen Wünschen, ohne Widerstände und Zögern zu willen ist. Diese schärfste Würze des Plots aber bleibt in Basel literarische Fiktion in der Opernfiktion. Gibt aber Agneta Eichenholz als doppeltem Clärchen – als ernster Clara und lasziver Clarissa – Gelegenheit für fulminante Sopran-Auftritte.