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"Von Mäusen und Menschen"

"Von Menschen und Mäusen" ist die vierte Berlin Biennale überschrieben, die an diesem Freitag eröffnet wird. Mit Spannung wurde unter anderem ein neuerAusstellungsraum in der Auguststraße erwartet. Dort wird die zeitgenössische Kunst in einer ehemaligen jüdischen Mädchenschule zu sehen sein, die die Patina der Geschichte über Jahrzehnte konserviert hat.

Von Carsten Probst | 23.03.2006
    Die ehemalige Jüdische Mädchenschule in der Auguststraße war bis jetzt wahrscheinlich nur wenigen Berlinern bekannt - vor allem nicht als Ort der Geister und der Kunst. Wie auch? Nachdem sie zu DDR-Zeiten als Bertolt-Brecht-Oberschule fungierte, gehört das Gebäude seit der Wiedervereinigung wieder der Jüdischen Gemeinde. Aber es gibt nicht genügend jüdische Schülerinnen und Schüler, weshalb der eindrucksvolle Klinkerbau des Gemeindearchitekten Alexander Beer vom Anfang der dreißiger Jahre seit zehn Jahren geschlossen ist. In den Treppenhäusern und Klassenräumen, der Turnhalle mit den alten hölzernen Kletterwänden und den Fluren mit der abblätternden Farbe hat sich eine seltsame, fast geisterhafte Atmosphäre erhalten, in der sich die verschiedenen Zeitschichten der Nutzung und jeweiligen Schließungen des Gebäudes überlagern: Weimarer Republik und Nazizeit, DDR und Berliner Republik. Maurizio Cattelan, Massimiliano Gioni und Ali Subotnik, die drei Kuratoren, haben die Schule zusammen mit den Kunstwerken Berlin gleich gegenüber nicht von ungefähr als Hauptort der Vierten Berlin Biennale ausgesucht. Sie ist das, was man einen auratischen Ort nennen kann. "Erwarten Sie in der Ausstellung keine Statistiken oder soziologischen Ausführungen, halten Sie sich nicht an Themen wie der Gentrifizierung oder dem Immobilienmarkt fest", so verkünden die Kuratoren in für Berliner Verhältnisse völlig ungewohnter Offenheit und fügen, man muss es fast spektakulär nennen, ein Bekenntnis zum Erhabenen in der Kunst an. "Sind wir wirklich schon zu abgestumpft, um die Realität und unsere Umgebung durch komplexe und bezaubernde Worte und Bilder beschreiben und daher auch verwandeln zu lassen?"

    Hätte man die Ausstellung nicht selbst gesehen, man könnte es vermutlich gar nicht glauben. Die Berlin Biennale, bislang eher der Ort hauptstädtischer Selbstbespiegelung mit Hang zum Trendigen und Obercoolen, wo in früheren Jahren auch schon so nachhaltig von spätpubertierenden Kunsthochschulabsolventen Kunst als Pop, Design, Disco und so weiter behauptet worden ist - diese Berlin Biennale atmet plötzlich so etwas wie ästhetischen Weltgeist. Obwohl man verschiedene Orte entlang der traditionsschweren Auguststraße bis hin zu einzelnen kleinen Privatwohnungen bespielt, ist das Thema dieser Ausstellung erstmals nicht Berlin und seine Bedeutung für den Rest der Welt. Obwohl den drei Kuratoren ein wahres Wunderland an ortsbezogenen Installationen gelingt, müssen wir uns doch nicht permanent zum Gedenken genötigt fühlen und belehren lassen. Dem Geisterreich der historischen Zeitschichten haben Cattelan, Gioni und Subotnik ein Geisterreich zeitgenössischer, zum Teil vergessener, zum Teil noch nicht gesehener Kunst an die Seite gestellt, das den Eindruck des Unheimlich-Vertrauten, Traumhaften und Traumatischen zu einer Intensität steigert, die die Schau eindeutig auf ein neues Niveau hebt.

    Zum ersten Mal kreiert die Berliner Biennale eine eigene Ästhetik, eine Ästhetik, die so einprägsam "östlich-ölig" riecht wie der polnische Güterwaggon, den der Künstler Robert Kusmirowski in voller Größe in die Aula der Jüdischen Mädchenschule gehievt hat. Er steht dort einfach, ohne sonstige Merkmale, ein normaler, nach Schmieröl stinkender polnischer Güterwaggon, mitten in der Schule, und das reicht durchaus als deutlicher und zugleich nüchterner Hinweis auf das, was womöglich aus den früheren Schülerinnen dieses Ortes geworden ist. Noch bemerkenswerter sind die zahllosen Wiederentdeckungen kaum mehr erinnerter Künstlerinnen und Künstler und ihrer Werke aus den sechziger bis neunziger Jahren. Mike Mandel und Larry Sultan mit ihrer surrealen und hoch artifiziellen Schwarz-Weiß-Fotografie aus der Serie "Evidence" von 1977, Francesca Woodmans Geisterbilder, Matthew Monahans ebenso drastischen wie atavistischen Körperinstallationen oder Tadeusz Kantors Klassenzimmerskulpturen. Die Aufzählung ließe sich um zahlreiche Namen fortsetzen, die hier zu einer vielschichtigen Komposition zusammengefügt wurden.

    "Von Mäusen und Menschen", so der von John Steinbeck entlehnte Titel der Ausstellung, möchte nichts Geringeres als vom Leben und vom Sterben handeln. Aber auf dieser Biennale, die sinnigerweise auch gleich einen Kirchenraum und ein Friedhofsgebäude mit bespielt, machen es die Künstler und Kuratoren erfahrbar, fühlbar - als eine Korrespondenz von sichtbarem und Unsichtbarem, in dem sich die Geschichte einer Stadt oder vielleicht nur der Auguststraße zu einer universellen Erzählung verdichtet.