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Von möglichen und tatsächlichen Verlierern

In einem schicken Viertel im Osten Frankfurts hat Silke Scheuermann ihren Roman "Die Häuser der anderen" angesiedelt. In ihrer Milieustudie über das Abgründige hinter der Oberfläche verknüpft sie kunstvoll neun Geschichten, in denen Aufbruch und Untergang Hand in Hand gehen.

Von Claudia Kramatschek | 19.12.2012
    "Der Winter war endlos und dunkel gewesen, im April schneite es noch mehrmals, der Mai hatte Nachfrost und Stürme gebracht und selbst der Juni nur kühlen Regen, aber dann war innerhalb von wenigen Tagen doch noch der Sommer gekommen."

    Eine Verheißung liegt in der Luft, wenn unser Blick zum ersten Mal auf den Kuhlmühlgraben fällt, jene Straße im Osten Frankfurts, wo Silke Scheuermann ihren neuen Roman angesiedelt hat. Vögel tschilpen, die Zweige sind nass vom Tau, die Wiesen glitzern. Doch der Eindruck trügt – und Scheuermann sagt uns das quasi schon in den ersten Zeilen, sofern wir schlau genug sind, um nicht dem schönen Anschein zu erliegen. Dass wir aber Bildern erliegen, die uns leiten, und das oft und auch gerne in die Irre – genau davon handelt "Die Häuser der anderen". Denn der Kuhlmühlgraben gilt als schicke Adresse. Hier lebt in gepflegten Einfamilienhäusern, wer es wie die Fernsehmoderatorin Taunstätt gesellschaftlich entweder schon zu etwas gebracht hat – oder wer eben noch vom sozialen Aufstieg träumt, wie die allein erziehende Mutter einer frühreifen Tochter, die hofft, über ihre Arbeit als Putzfrau ihre Tochter mit dem Sohn der reichen Auftraggeberin verkuppeln zu können.

    "Es war ein Training im mehrfachen Sinne: Wohlstand war es, was die Zukunft ihr und ihrer Tochter Britta bringen sollte. Darauf arbeiteten sie seit Jahren hin. Das Taunstättsche Haus war dafür ein wichtiges Symbol. Die Verheißung war: ein anderes Leben."

    Doch Scheuermann wäre nicht die ironisch-kühle Vermesserin, die in all ihren Romanen eigentlich eine Art fortgesetzte Milieustudie über das Abgründige von Oberflächenphänomenen liefert, ließe sie nicht auch hier die Träume mit schöner Regelmäßigkeit zerplatzen:

    "Ich fürchte, dieser eine Satz: 'Träume sind Fallen', das war schon mein Leitfaden durch die Bücher. Es gibt viele Personen, die inneren Bildern einfach folgen und versuchen, dem gerecht zu werden: Bildern aus dem Fernsehen oder ihren eigenen, wie auch immer geprägten Vorstellungen, und die dann immer weiter versuchen, das zu optimieren. Das ist ein Leitfaden, der sich durch alle Milieus zieht, wie man sich heute auch im Fernsehen diese ganzen Verbesserungsshows immer wieder ansehen kann: Wer kocht das Beste Essen, wer renoviert sein Haus am besten? Da ist also keiner dagegen gefeit, auf diesen falschen Trip zu kommen. Und sobald da was Unvorhergesehenes passiert, passt auf einmal der Plan nicht mehr zu dem, was gerade passiert. Und diese Zerbrechlichkeit, die finde ich interessant. Es kann von Absatz zu Absatz das Leben kaputt gehen."

    Der Sohn der Taunstätts beispielsweise wird sich als drogenabhängig erweisen. Die junge Kunsthistorikerin Luisa wiederum – die wir schon aus Scheuermanns vorherigem Roman "Shanghai Performance" kennen – scheint ihr Leben mit Christopher, der an seiner Habilitation als Biologe schreibt, fest im Griff zu haben. Doch erst bringt sie der Besuch ihrer jungen Nichte für kurze Zeit aus dem Tritt, die sich nicht fügen mag in Luisas fixe Vorstellung von einem gelungenen Tag. Als Luisa lange Zeit danach mit Christopher zur Hochzeitsreise nach Venedig aufbricht, muss sie feststellen, dass auch ihre Ehe selbst vielleicht nicht mehr als eine Illusion gewesen ist, denn Christopher schenkt ihr reinen Wein ein über seine eigenen, lange verdrängten Gefühle:

    "Er sagte ihr Dinge, die er bisher kaum zu denken gewagt hatte, aber ausgesprochen fühlten sie sich vollkommen richtig an. Er nannte sie ein hinterhältiges, herrschsüchtiges Weibsbild mit einer massiven Essstörung. 'Ohne mich bist du dich zu nichts in der Lage', brüllte er. 'Du würdest keine einzige Kirche finden. Vielleicht den Markusplatz, mit Mühe! Und du wärst längst verhungert. Im Übrigen macht mir so ziemlich alles mehr Spaß, wenn du nicht dabei bist.'"

    Viele der neun Geschichten, aus denen sich der Roman mosaikartig zusammensetzt und die über das Figurenpersonal so dezent wie geschickt miteinander verknüpft sind, handeln von solchen Kippmomenten, dem Moment eines biografischen Strauchelns, das alles, was sicher schien, auf eine Abwärtsbahn gleiten lässt. In der Episode "Hundeträume" wird Luisas Nachbarin Dorothee erst unerwartet zur Witwe, dann zur Alkoholikerin. Wie nebenbei erfahren wir, dass Luisa eine kurze Affäre mit Dorothees Mann hatte – aus ihrem schlechten Gewissen heraus erlaubt Luisa, dass Dorothee gelegentlich gegen ein geringes Entgelt auf ihren Hund aufpasst. Scheuermann erschafft daraus eine so boshafte wie gleichermaßen anrührende Szene – denn auch für Dorothee, die am Ende Luisas wertvollen Teppich vollgekotzt haben wird, ist eine kurzzeitige Ahnung von Erlösung mit im Spiel:

    "Ich ziehe die Schuhe aus, mache den Fernseher an, hole mir eine Wasserflasche. Aus dem Vorratsschrank eine Packung mit japanischen Reiscrackern. Sehe nach, ob eine DVD im Player ist, und schalte ein. Wahnsinn, ist das schön hier. Alles so sauber. So teuer. Ich kann ein Bad nehmen und mir endlich die Haare waschen. Mich mit guten Produkten eincremen. Dieser Unterschlupf ist für mich gemacht. Ich kann meine Sachen waschen und in den Trockner stecken, und sie riechen nicht mehr nach rauch und modrig, weil sie bei mir in der kalten, feuchten Wohnung so schwer trocknen. Es gibt Waschmittel und Weichspüler. Ich kann mir die Nägel machen. Sie lackieren. Rosa oder perlmuttfarben oder hellrot. Nicht zu auffällig. Ich werde eine vollständig neue Person sein."

    "Hundeträume" ist in der Tat eine der stärksten von diesen Geschichten, in denen generell High Society und Unterschicht, Dokusoap und nüchterne Bestandsaufnahme mit Lichtgeschwindigkeit aufeinander treffen.

    Scheuermann spielt dabei bewusst mit Klischees, dennoch gelangen einige wenige Figuren und Momentaufnahmen nicht über das Klischee hinaus – so etwa das alt und verbittert gewordene Schwulenpärchen, das Freude nur dann empfindet, wenn es die übrigen Hausbewohner mit bissigen Kommentaren schikanieren kann. Doch auch, wenn Scheuermann mit kühler Lust den Finger auf das Hässliche im Gewand des vermeintlich Schönen legt: als Pessimistin versteht die Autorin sich dennoch nicht:

    "Halb denke ich, es geschieht ihnen recht, mir tun die Leute aber zugleich auch wahnsinnig leid. Und genau in diesem Mischton habe ich auch versucht, das dazustellen. Es ist so, ich habe immer, wenn ich ein Buch schreibe, so im Hintergrund ein Buch aus der Literatur, was ich als mein großes Vorbild eigentlich nehme und versuche, das auf eine gewisse Art ganz anders neu zu schreiben. Bei 'Shanghai Performance' war das 'Der große Gatsby', wo ich dachte, ich mache eine Frau als Künstlerin und stelle deren Fall dar wie Gatsby - das merkt man heute, wenn man das Buch liest, überhaupt nicht mehr, aber das war eben beim Schreiben so meine Motivation. Und hier jetzt ist es eine Schriftstellerin, eine irisch-stämmige, die für den New Yorker viel geschrieben hat in den 60er-Jahren vor allem: Maeve Brennan."

    Vor allem ein Buch aus der Feder von Brennan hat Scheuermann im Blick gehabt: "Mr. Und Mrs. Derdon" – bissige Ehegeschichten, an denen Scheuermann nicht nur den Biss bewundert, sondern von deren Form sie sich auch inspirieren ließ: beständige Perspektivwechsel – jede Geschichte wird auch bei Scheuermann aus Sicht einer anderen Person erzählt; und Zeitsprünge – wenn man "Die Häuser der anderen" zu Ende gelesen hat, wird für die wichtigsten Figuren mehr als ein Jahrzehnt vergangen sein.

    Folgerichtig begegnet man in der letzten Geschichte auch wieder Luisas Nichte: Lernten wir Anne zu Auftakt des Buches als 8-jähriges Mädchen kennen, treffen wir sie nun als junge und selbstbewusste Frau in New York, wo sie sich wagemutig und vorbehaltlos in einen ihr gänzlich unbekannten Mann verliebt. Anne ist mehr oder weniger die einzige Person, der Scheuermann einen ungetrübten Aufbruch ins Glück zugesteht. Denn die Quintessenz der meisten Geschichten scheint ein Moment der Entzauberung – auch wenn Scheuermann solche Entzauberung als Raub und Befreiung zugleich inszeniert:

    "Nicolas Born, der Lyriker und auch sehr gute Romanautor, der hat immer von utopischen Gedichten gesprochen, also von Möglichkeiten der Literatur, der Wirklichkeit ein positives Modell dagegen zu setzen. Das ist mir in jeder einzelnen Geschichte auch wichtig, dass das klappt. Es wäre ja sonst furchtbar trostlos."

    Trostlos geht es tatsächlich nicht zu in den Häusern der anderen. Denn Scheuermann zeigt uns zwar unmissverständlich: Aufbruch und Untergang gehen Hand in Hand – und niemand ist gefeit davor. Aber Rettung liegt manchmal näher als man denkt. Und sei es nur das Vorbild der Gorillas, die der im Suff abgestürzten Alkoholikerin in Luisas Wohnung im Fernsehen vorführen, wie sie jeden Tag auf der Suche nach Nahrung unermüdlich weiterziehen und sich aufs Neue eine Bleibe bauen, quasi aus dem Nichts heraus. Darin liegt die zärtliche Kehrseite dieser nur äußerlich unbarmherzigen Porträts von möglichen und tatsächlichen Verlierern, die Scheuermann hier in psychologisch dicht entworfenen Bildern als warnende Widergänger unserer selbst präsentiert.

    Silke Scheuermann: Die Häuser der anderen.
    Roman, Schöffling Verlag, 2012. 260 Seiten, 19,95 Euro