Alle vier Verlage, die heute vorgestellt werden, machen schöne, verblüffende und keineswegs auf kindliche Gelüste beschränkte Bücher. Carolin Brandl vom Münchner Mixtvision-Verlag erzählt etwa, wie überrascht man gewesen sei, dass "KeinBuch" für Acht- bis Zwölfjährige – wir kommen noch darauf! – zum Bestseller unter Studenten avancierte. Schöne Kinderbücher müssen auch immer Erwachsenen gefallen, und man braucht keinen großen Verlagsapparat, um sie zu produzieren, könnte die Leitlinie aller Portraitierten lauten. Denn die beiden Kleinen in der Runde beschränken sich auf wenige Titel pro Jahr. Voilá, es ist angerichtet, beginnen wir mit einem frischen Monstersalat:
"Die Monster sind so ein bisschen aus der Not geboren. Also erstmal sind das nur die Spitznamen meiner Kinder. Aber das zweite war, dass wir für die Handelsrechnung – dadurch, dass das Buch in Deutschland gedruckt worden ist, aber natürlich in die Schweiz ausgeführt werden musste –, dringend einen Namen haben mussten. Und das ist dann in fünf Minuten am Telefon entschieden worden, damit es auf die Rechnung kann, und die Bücher endlich über die Grenze können","
... stellt Vanessa Riecke das kleine Züricher Bilderbuchlabel "Monstersalat" mit seiner Beinahe-Sturzgeburt vor. Ein wenig fehlte es dem erfolgreichen Architektenbüro an Verlags-Knowhow, als man beschloss, neben Häusern probehalber auch ein paar Bücher zu bauen – Kinderbücher mit einer besonderen Bewandnis! Keine Sorge, es liegt nicht an den Empfangsapparaten, wenn man gleich nicht viel versteht. Es folgt nämlich Schweizerdeutsch in einer historischen Amateuraufnahme:
Riecke: ""Robert Camenzind hatte mit seiner Frau vier Kinder und hat dann eben in den Ferien auf der Alm abends Geschichten erzählt und ausgedacht. Auch wenn Freunde zu Besuch waren, war's mal mit Zauberer, aber vor allem hat es von der Hexe Rutzlibutz gehandelt. Und nachdem eine Tochter sich das Bein gebrochen hat, konnte die nicht mitkommen, sondern wurde zu Hause von der Großmutter gepflegt. Und dann hat der das halt aufgenommen und ihr nach Hause geschickt, damit sie die Geschichten nicht verpasst. Und diese Tonbandaufnahmen haben wir dann digitalisiert, mit dem schönen Effekt, dass es natürlich Praktikanten in unserem Büro gibt, die noch nicht mal mehr Kassetten kennen, geschweige denn Tonbandaufnahmen und einen groß angucken, was das denn sei für ein Datenträger? Wo der reinkommt?"
"Rutzlibutz bei den Krokodilen" und "Rutzlibutz und Schwarznase" heißen die beiden ersten Folgen der Hexenserie und sie sind tatsächlich aus vierzig Jahre alten Tonbändern rekonstruiert worden. Der Vater des heutigen Architekten und Jungverlegers Stefan Camenzind, Robert Camenzind, erzählte Jahr um Jahr in den Sommerferien Rutzlibutz-Geschichten. Das mitlaufende Tonbandgerät konservierte sie für die Nachwelt.
"Ich weiß auch nicht, warum die aufbewahrt worden sind, aber vielleicht haben die sich nicht getraut, sie wegzuschmeißen? Aber sie waren halt fast vergessen bis zu diesem Workshop, wo dann das darum ging, was wir für Visionen mit dem Büro haben könnten? Und ich irgendwann mit Illustration kam und danach eben Stefan Camenzind, also der Sohn von dem Autor, dann meinte: "Wenn du solche Illustrationen machst, dann bring ich auch noch was mit!" Und so kam dann auf einmal die Hexe zu den Bildern."
Und diese Bilder haben es in sich! Während man dem Text trotz starker Bearbeitung an manchen Stellen durchaus noch anmerkt, dass er nicht am Schreibtisch entstand, bietet Vanessa Riecke ein gekonnt bizarres Figurenpanoptikum auf, wenn sie das imaginäre Dorf Allwil mit Mensch und Tier bevölkert. Von süßlicher Heidi-Romantik ist dabei eher nichts zu sehen, verlässt die Berghexe Rutzlibutz in beiden Geschichten doch rasch alpenländische Gefilde, um zusammen mit den kindlichen Helden Abenteuer in aller Welt zu suchen. Es sind frech-spöttische Bilderwelten, die die Architektin den Geschichten Camenzinds entgegensetzt und sie damit ästhetisch in die heutige Gegenwart holt. Über einen Mangel an Anregungen kann sie sich nicht beklagen:
"Es gibt 28 Bänder, wobei manchmal die Geschichten über drei Abende gehen. Und es sind auch mal Cowboy-Krimis dabei, weil die Jungs gemeutert haben, dass sie nicht wieder was von der Hexe hören wollen! Aber wir konzentrieren uns auf die Hexe Rutzlibutz","
erzählt Vanessa Riecke und skizziert damit die unmittelbar bevorstehenden nächsten Monstersalat-Bände. Natürlich soll es später auch anderes geben, guter Salat besteht ja nicht nur aus einer Blattsorte, doch einstweilen bleibt das Zukunftsmusik, denn eigentlich baut man ja Häuser aus Stein statt Bücher aus Papier.
Mit einer Palette an verschiedenen Werken unterschiedlicher Illustratorinnen ist der Bottroper Ivy-Verlag da schon einen Schritt weiter. Er hat bereits Auszeichnungen erhalten, zuletzt eine Empfehlung der Stiftung Lesen für die jüngste Publikation "Lammwütend".
"Das Lamm war immer lieb. Aber einmal wollte das Lamm richtig wütend sein und laut blöken. Leider wusste das Lamm nicht, wie das geht. "Ich muss die Ziege fragen", dachte es. Die Ziege rupfte und zupfte gerade in einem saftigen Büschel Klee. "Kannst du wütend sein?" fragte das Lamm. "Bähähähähähähä! Meckern ist einfach!" Die Ziege nickte mit dem Kopf, dass der Ziegenbart auf und ab wippte. Das Lamm zog die Luft ein und blökte los. Aber heraus kam nur ein leises, zittriges "Määäääh". Mehr nicht."
Mit umgeschnalltem roten Megafon stapft das lammfromme Lamm durch die angenehm aufgeräumte Bauernhofszenerie der Münsteraner Illustratorin Julia Dürr und bringt es trotz seines elektrischen Verstärkungsapparats nur auf ein ziemlich klägliches Mäh – bis es sich mächtig über einen Wolf ärgern muss. Schon zuvor hatte sich die junge Illustratorin mit einem Ivy-Buch erste Sporen verdient. "Im Dunkeln" heißt das spannende Bilderbuch über einen Stromausfall, das von der Stiftung Buchkunst prämiert wurde, weil es den Spagat vollbringt, über eine ganze Geschichte hinweg Dunkelheit abzubilden und dabei dennoch genügend erkennen zu lassen – eben genau so, als müsse man sich mit den Augen durch die Finsternis vorantasten. "Sinnliche Entdeckerbilderbücher" nennt der Verlag solche Seherfahrungen und gesellt diesem Label ein zweites, höchst ungewöhnliches hinzu: "sinnliche Massagebilderbücher".
"Das Massagebilderbuch wurde von Minna McMaster und Joachim Friedrich erfunden", schreibt der Verlag im Vorwort zu "Ritter Hubi Drachenfreund". "Das Massagebilderbuch gibt den Kindern durch die Bilder, Piktogramme und die von Minna McMaster besprochene CD die Möglichkeit, die Massage eigenständig durchzuführen. Es ist ihnen dann auch möglich, sich gegenseitig zu massieren, ohne die Anleitung durch einen Erwachsenen. Das Massagebilderbuch hat sich besonders gut als Teil des Einschlafrituals bewährt, da es Vorlesen und Berührung miteinander verbindet."
Also: Man liest dem Kind die Geschichte vor – oder hört sie gemeinsam von der beigelegten CD – und befolgt alle paar Absätze die kursiven Handlungsanweisungen. Der Begriff "Massage" erweckt dabei vielleicht zu kraftvolle Erwartungen; es handelt sich mehr oder minder um Berührungsverläufe, die bestimmte Bewegungen in der Geschichte aufgreifen: Treppensteigen, Brei umrühren, Stufen fegen und so weiter. Zur optischen und akustischen Ebene tritt die taktile hinzu. Und wer das als Erwachsener vielleicht zu heilpädagogisch findet, wird rasch eines Besseren belehrt: Die meisten Kinder lieben diesen Berührungsspaß und wollen ihn schnell wiederholen.
""Wir haben nicht nur den Mixtvision-Verlag, sondern wir haben auch Mixtvision-Film und -TV. Und wir arbeiten auch nicht getrennt voneinander, Verlag und Film und TV, sondern wir versuchen, diese Synergien auch zu nutzen und gegenseitig voneinander zu profitieren","
erläutert Carolin Brandl aus dem Münchner Mixtvision-Haus. Der Name spricht schon Bände und mag manch traditonellem Kinderbuchhändler spanisch, respektive zu englisch, vorkommen, doch das sechs Jahre alte Unternehmen hat bereits den Bayrischen Kleinverlags- und nicht Filmpreis bekommen, weil es so schöne Bücher macht.
""Wir bemühen uns zum einen, immer unsere Qualitätsstandards zu halten. Das beinhaltet zum Beispiel, dass wir nur in Deutschland drucken oder zumindest versuchen, diesem Grundsatz treu zu bleiben. Wir sind, sagen wir mal, in einer Schiene drin, wo natürlich auch hochpreisige Bücher sind und wo die Zielgruppe auch gern ein bisschen mehr Geld ausgibt für hochwertige Bücher. Und was das Künstlerische anbelangt, versuchen wir auch einfach modern zu sein. Also, wir haben Collagentechniken im Programm, wir haben ganz verschiedene Stile, die eben bisschen gegen den Strom schwimmen. Aber das möchten wir auch weiter fördern und Künstler fördern, die solche ungewöhnlichen Stile haben!"
Ein herausragendes Beispiel liefern die aktuellen "Erzählbilder" von Eva Muggenthaler unter dem Titel "Als die Fische spazieren gingen". Wie bei den Massage-Büchern des Ivy-Verlags erwartet den Leser zunächst eine Art Gebrauchsanweisung: "Warum versteckt sich der kleine Hase hinter dem Kontrabass? Hat er etwa Angst? Und was ist mit dem Frosch, der so inbrünstig singt? Steht er gerne im Mittelpunkt? Eindeutige Erklärungen zu diesen Bildern gibt es nicht. Vielmehr geht es um das gemeinsame Erzählen und Fabulieren. Eltern und Kinder können sich ein Bild aussuchen, das ihnen besonders gut gefällt, und dann darüber ins Gespräch kommen."
"Selbst wir, die wir uns ja als Redakteure sehr lang mit dem Buch beschäftigt haben, finden manchmal, wenn wir's noch mal durchblättern, Kleinigkeiten in den Bildern, wo wir sagen: "Ach, okay, da ist noch ne kleine Eule in der Ecke, das haben wir noch gar nicht gesehen!" Also, Frau Muggenthaler hat da einfach unglaublich viel reingesteckt, nicht nur Bildgewaltiges reingesteckt, sondern auch sehr viel Gedankliches reingesteckt. Also, sie hat wirklich sehr intensiv überlegt: Was steckt denn hinter solchen Begriffspaaren, wie kann man die mit Leben füllen? Und das macht einfach Spaß, das immer wieder durchzublättern. Und das kann man glaub ich auch in zehn Jahren wieder aus dem Schrank holen und mit ganz anderen Augen die Bilder noch mal anschauen."
"Normal sein – anders sein. Streiten – sich vertragen. Neidisch sein – gönnen können", lauten einige der Begriffspaare am Fuße der doppelseitigen Bildtafeln. Mehr Text muss man nicht lesen können, um sich den philosophischen Witz der Illustratorin Eva Muggenthaler zu erschließen. Kinder sind da meistens schneller als Erwachsene, sie entdecken die komplementären wie die konfrontativen Details selbst dann, wenn sie wie auf dem Bild zweier streitender Känguruhs gut versteckt sind. Die Blumenkästen auf ihren gegenüberliegenden Balkonen enthalten Lauch und Tomaten, doch Pflanzen und dazugehörige Schilder passen nicht zusammen. Offensichtlich hat da jemand etwas vertauscht – Schilder oder Samentütchen –, und das entfachte den erbitterten Streit. Ein Streit, wie er zumindest um das wunderschöne Buch kaum entstehen wird, denn es macht am meisten Spaß, wenn man es zu mehreren enträtselt.
Und auch Streit um ein weiteres Mixtvision-Produkt wäre selbst bei unklaren Besitzverhältnissen völlig überflüssig: Stürzen sich zwei Leute zugleich darauf, reißt man es einfach auseinander. So klingt der Klettstreifen, der die weibliche und die männliche Hälfte von "KeinBuch Ich&Du" zusammenhält.
"Das KeinBuch ist eigentlich kein Buch, sondern 86 Aufgaben, das Buch kreativ zu zerstören",
beschreibt Carolin Brandl den veritablen Bestseller des Hauses. In der Tat handelt es sich dabei eher um ein Objekt als um ein Buch. Viel zu lesen gibt es darin nicht – und wenn, dann in der Art kurzer Mitteilungen, die dem Buch, nun ja, nicht unbedingt zum Besten gereichen: "Platz für Proben deiner Lieblingseissorte", steht etwa in der Mitte der Mädchenhälfte und lässt bibliophile Eltern erschauern: Soll da jetzt wirklich Eis reingekleckst werden? So wie man sich bei der "Dampfablassseite" für Jungen Fürchterliches vorzustellen vermag.
"Wir haben sogar von der Stiftung Lesen eine Empfehlung für das Buch bekommen, die ja jetzt wirklich für was ganz anderes steht, als das Buch zu zerstören. Also, das nehmen die Leute eigentlich mit Humor auf und wissen ganz genau: Wenn ich das eine Buch zerstöre, heißt das noch nicht, dass ich mit anderen Büchern so umgehe! Also das können die Leser ja auch ganz gut trennen."
Dampf abzulassen stand sicher auch im Berufsleben Andreas Gerbers häufig auf der Tagesordnung. Als Arzt war der Schweizer in südamerikanischen Slums unterwegs, später als Investment-Banker für Biotech-Startups verantwortlich. Nun ist er Kinderbuchverleger des im Kleinstädtchen Baar angesiedelten Bilderbuchlabels Aracari. Doch eines hat sich durch alle Berufe hinweg bei Gerber gehalten: die Orientierung an hohen Maßstäben.
"Wer ist bereit, Qualität zu sehen? Und wer ist bereit, für Qualität Geld auszugeben. Also, es gibt halt sehr, sehr viele Eltern, die Kinderbücher quasi mit der Zahnpasta kaufen. Halt im Supermarkt, das rosarote "Hello-Kitty"-Buch, und damit ist das Kind auch befriedigt. Es ist so ein Dilemma, ja. Es gibt halt immer mehr Verlage, die machen wirklich zweitklassige Bücher, billig hergestellt, im Multipack."
Gegen die Aracari mit wahren Bilderbuchpreziosen antritt. Der Verlag ist gewissermaßen ein Gigant unter den vier Kleinen des heutigen Büchermarkts, startete er im Herbst 2009 gleich mit einem beeindruckend breit gefächertem Programm.
"Eigentlich die Strategie, wenn man das so nennen will, war, relativ breit und kräftig in den Markt reinzugehen. Weil sonst geht es einfach noch viel länger, bis man wahrgenommen wird! Wir wurden relativ stark wahrgenommen. Also, wir haben auch jetzt Preise abgeholt. Der Effekt war, dass wir schnell wahrgenommen wurden. Und dann langsam fokussieren. Ich glaube, anders ist es in einem Land wie Deutschland, in einem an sich schwierigen Branchenumfeld gar nicht möglich! Also, wenn wir klein - zwei Bücher mal da, zwei Bücher mal da, dann hätten wir die ganzen Kosten trotzdem, vielleicht ein bisschen weniger, aber hätten dann überhaupt nichts. Wir haben immerhin, die Umsatzziele vom Gründungsjahr haben wir erreicht!"
Mit Andreas Gerber steht ein deutlich anderer Verlegertypus am Ruder, als man bei einer schöngeistig motivierten Verlagsgründungen erwarten mag. Jemand, der als Investmentbanker den Grundsatz verinnerlicht hat, das nichts, was sich nicht in absehbarer Zeit rechnet, Bestand haben wird – so schön und wertvoll es auch sei. Schöngeistig motiviert ist Gerber natürlich trotzdem, das kann man seinen Büchern auf den ersten Blick ansehen. Ob es der Regalfächer sprengende, großquadratische "Herr Schrecklich" ist, ein französisches Bilderbuch, bei dem ein furchterregend schwarzer Wolf von seinen Kindern als Heuchler enttarnt wird, weil er unter seiner Felluniform knallbunte Farben trägt. Oder ob es die Zählbücher "Zwölf und der Wolf" mit eindrucksvoll grimmigen Entenküken oder "Ole kann nicht schlafen" sind – alles ist von hoher illustrativer und herstellerischer Qualität. Bei "Ole", einer deutschen Originalausgabe, erlaubt sich Aracari sogar etwas in der Kinderliteratur ansonsten eher Verpöntes: selbstironische Anspielungen. Zum Schluss des Geschichte werden nämlich keine Schäfchen mehr, sondern Bücher gezählt:
"1 war sehr lustig. 2 kannte er schon, aber er wollte es immer wieder anschauen. 3 handelte von einem Papagei, der Coco hieß, genau wie der von Ole. 4 war zuerst traurig, aber dann ging es doch gut aus. 5 war groß, hatte ganz viele Seiten und erklärte, warum alle Menschen einen Bauchnabel haben. In 6 wurde ein böser Wolf zum lieben Vater. 7 hatte keine Geschichte, aber Ole musste immer über die Bilder lachen. In 8 suchte ein Bär das Beste Bett der Welt. 9 war ein beinahe voll gemaltes Malbuch. Und 10? Buch 10 war sehr lustig. Es ging um einen Jungen, der nicht schlafen konnte und etwas zum Zählen suchte."
Eine Einschlafhilfe mit subtiler Eigenwerbung, denn 6 ist unverkennbar "Herr Schrecklich" mit dem bunten Wolf. Und 5 das wohl seltsamste Buch des Aracari-Verlags: Karen Mefferts "Warum die Menschen einen Nabel haben", bebildert von Barbara Connell. Fällt es einem – wie dem Berichterstatter zufälligerweise – als erstes Buch des Verlags in die Hände, ist man irritiert. Denn der sprachliche Duktus klingt ungewohnt.
"Woher die Menschen einen Nabel haben", da hab ich die Autorin gekannt. Die war damals 82 und war eine große Berühmtheit in der Schweiz. Sie war nämlich die erste weibliche, attraktive und geschiedene Tagesschausprecherin in den 70er-Jahren. Dieses Buch war in den 60er-Jahren ein Hit, also viele von meinem Alter sind quasi aufgeklärt durch dieses Buch worden. Wollen wir das nicht wieder machen? Und dann hab ich das mit ihr gemacht und einer neuen Illustratorin neu illustriert. Im Moment verkauft es sich sehr gut im Behindertenbereich, also in sagen wir 10- bis 12-jährigen Kindern, die ein bisschen geistig retardiert sind, um ihnen zu erklären: Wie kommt das eigentlich zustande? Woher komm ich eigentlich? Und das hat mit Liebe zu tun, dass es mich gibt. Und ich fand das einfach in sich toll. Ich weiß nicht, ob ich's heute noch machen würde, es war aber ein toller Start und war der Anfang."
Wie der Züricher "Monstersalat" erweist auch Aracari damit der Vergangenheit seine Reverenz - so wie die Herstellervermerke in den Büchern auf eine traditionelle Verbundenheit mit dem heimischen Druckereigewerbe verweisen. Das eint freilich alle Kleinen: Sie drucken nicht in Asien und nicht in Osteuropa, sondern in Potsdam, Calbe oder Hörstel-Riesenbeck. Darauf angesprochen, verzieht Andreas Gerber freilich schuldbewusst das Gesicht. Ein Geständnis ist fällig: Ab dem Frühjahrsprogramm 2012 kommen die Aracari-Bücher dann doch aus Asien, allerdings aus Singapur, nicht aus China.
"Ich habe im November 2009 mir die Druckereien angeschaut in China und habe mich entschieden von dem, was ich gesehen habe, dass ich nicht in China drucken möchte! Einfach: Kann ich dahinter stehen, dass deutsche, schweizer Kinder Bücher in den Händen halten, die von Kindern genäht wurden, sag ich jetzt mal ein bisschen krass. So ist es nicht mehr, aber es ist immer noch schlecht! Und Singapur ist aber anders, Singapur hat eine viel längere Tradition von westlicher Geschäftsbeziehung. Und ich bin auch jetzt im Januar in Singapur die Druckerei anschauen gegangen. Und das hat so überzeugt, da sind die Standards fast menschenfreundlicher und besser als in Calbe. Und die Preise sind halt nicht gerade halb so teuer, aber sind einfach günstiger, sodass ich mich jetzt entschieden habe, in Singapur zu drucken."
An der gewohnten Qualität soll das nichts ändern, sein Herstellungsleiter wird den Druckprozess vor Ort überwachen. Darauf ist die asiatische Druckerei sogar räumlich eingestellt:
"Die haben Zimmer für die Herstellungsleiter. Und der schläft drei Nächte da und überwacht jeden Druck. Der geht hin und sagt: "Bisschen mehr gelb, bisschen mehr Magenta." Der schaut wirklich, dass die Qualität stimmt."
Nein, für Romantiker ist der Kinderbuchmarkt ganz gewiss kein gemütlicher Ort mehr. Bei insgesamt schrumpfenden Märkten hat längst die Globalisierung eingesetzt, die gerade bei Bilderbüchern in Richtung eines schalen ästhetischen Einheitsbreis drängt. Da darf man durchaus froh sein, dass es immer wieder Pioniere gibt, die mit viel Kraft schöne Bücher produzieren. Und mit eigenem Geld:
"Am Anfang hab ich nicht viel gespart, also war ich relativ großzügig mit dem Verlag. Und jetzt sind wir natürlich dran, wo wir versuchen, die Prozesse zu optimieren und hoffen, dass wir das jetzt so über zwei, drei Jahre in normale schwarze Nullen kriegen. Aber es ist nie die Idee gewesen, sagen wir, wirklich großen Reibach zu machen mit einem Verlag. Das wusste ich, das geht gar nicht."
Aber dass man ärmer wird, nur weil man etwas Schönes produziert, kann auch keine befriedigende Aussicht sein. Es liegt also an Eltern und Großeltern, an Liebhabern guter Bilderbücher, die heute vorgestellten Pioniere in ihrem Tun zu unterstützen. Wie heißt es so schön? "Erhältlich in jeder guten Buchhandlung."
Webseiten:
www.rutzlibutz.com
www.ivy-verlag.de
www.mixtvision-verlag.de
www.aracari.ch
In der Sendung erwähnte Bilderbücher:
Robert Camenzind, Vanessa Riecke: "Rutzlibutz und Schwarznase"
Robert Camenzind, Vanessa Riecke: "Rutzlibutz bei den Krokodilen"
Monstersalat Verlag, Zürich, je 13,90 Euro
Regina Schwarz, Julia Dürr: "Lammwütend"
Ivy Verlag, Bottrop, 16,80 Euro
Minna McMaster, Julia Dürr: "Im Dunkeln"
Ivy Verlag, Bottrop, 16,80 Euro
Minna McMaster, Joachim Friedrich, Felicitas Horstschäfer "Ritter Hubi Drachenfreund",Ivy Verlag, Bottrop, 16,80 Euro
Eva Muggenthaler: "Als die Fische spazieren gingen"
Mixtvision Verlag, München, 14,90 Euro
"KeinBuch Ich&Du"
Mixtvision Verlag, München, 11,90 Euro
Laëtitia Devernay "Applaus"
Mixtvision Verlag, München, 19,90 Euro
Alain Serres, BrUNO Heitz: "Herr Schrecklich"
Aracari Verlag, Baar, 14,90 Euro
In-seon Chae, Seung-ha Rew: "Zwölf und der Wolf"
Aracari Verlag, Baar, 14,90 Euro
Karl Rühmann, Lena Hesse: "Ole kann nicht schlafen"
Aracari Verlag, Baar, 13,90 Euro
Karen Meffert, Barbara Connell: "Warum die Menschen einen Nabel haben"
Aracari Verlag, Baar, 16,90 Euro
"Die Monster sind so ein bisschen aus der Not geboren. Also erstmal sind das nur die Spitznamen meiner Kinder. Aber das zweite war, dass wir für die Handelsrechnung – dadurch, dass das Buch in Deutschland gedruckt worden ist, aber natürlich in die Schweiz ausgeführt werden musste –, dringend einen Namen haben mussten. Und das ist dann in fünf Minuten am Telefon entschieden worden, damit es auf die Rechnung kann, und die Bücher endlich über die Grenze können","
... stellt Vanessa Riecke das kleine Züricher Bilderbuchlabel "Monstersalat" mit seiner Beinahe-Sturzgeburt vor. Ein wenig fehlte es dem erfolgreichen Architektenbüro an Verlags-Knowhow, als man beschloss, neben Häusern probehalber auch ein paar Bücher zu bauen – Kinderbücher mit einer besonderen Bewandnis! Keine Sorge, es liegt nicht an den Empfangsapparaten, wenn man gleich nicht viel versteht. Es folgt nämlich Schweizerdeutsch in einer historischen Amateuraufnahme:
Riecke: ""Robert Camenzind hatte mit seiner Frau vier Kinder und hat dann eben in den Ferien auf der Alm abends Geschichten erzählt und ausgedacht. Auch wenn Freunde zu Besuch waren, war's mal mit Zauberer, aber vor allem hat es von der Hexe Rutzlibutz gehandelt. Und nachdem eine Tochter sich das Bein gebrochen hat, konnte die nicht mitkommen, sondern wurde zu Hause von der Großmutter gepflegt. Und dann hat der das halt aufgenommen und ihr nach Hause geschickt, damit sie die Geschichten nicht verpasst. Und diese Tonbandaufnahmen haben wir dann digitalisiert, mit dem schönen Effekt, dass es natürlich Praktikanten in unserem Büro gibt, die noch nicht mal mehr Kassetten kennen, geschweige denn Tonbandaufnahmen und einen groß angucken, was das denn sei für ein Datenträger? Wo der reinkommt?"
"Rutzlibutz bei den Krokodilen" und "Rutzlibutz und Schwarznase" heißen die beiden ersten Folgen der Hexenserie und sie sind tatsächlich aus vierzig Jahre alten Tonbändern rekonstruiert worden. Der Vater des heutigen Architekten und Jungverlegers Stefan Camenzind, Robert Camenzind, erzählte Jahr um Jahr in den Sommerferien Rutzlibutz-Geschichten. Das mitlaufende Tonbandgerät konservierte sie für die Nachwelt.
"Ich weiß auch nicht, warum die aufbewahrt worden sind, aber vielleicht haben die sich nicht getraut, sie wegzuschmeißen? Aber sie waren halt fast vergessen bis zu diesem Workshop, wo dann das darum ging, was wir für Visionen mit dem Büro haben könnten? Und ich irgendwann mit Illustration kam und danach eben Stefan Camenzind, also der Sohn von dem Autor, dann meinte: "Wenn du solche Illustrationen machst, dann bring ich auch noch was mit!" Und so kam dann auf einmal die Hexe zu den Bildern."
Und diese Bilder haben es in sich! Während man dem Text trotz starker Bearbeitung an manchen Stellen durchaus noch anmerkt, dass er nicht am Schreibtisch entstand, bietet Vanessa Riecke ein gekonnt bizarres Figurenpanoptikum auf, wenn sie das imaginäre Dorf Allwil mit Mensch und Tier bevölkert. Von süßlicher Heidi-Romantik ist dabei eher nichts zu sehen, verlässt die Berghexe Rutzlibutz in beiden Geschichten doch rasch alpenländische Gefilde, um zusammen mit den kindlichen Helden Abenteuer in aller Welt zu suchen. Es sind frech-spöttische Bilderwelten, die die Architektin den Geschichten Camenzinds entgegensetzt und sie damit ästhetisch in die heutige Gegenwart holt. Über einen Mangel an Anregungen kann sie sich nicht beklagen:
"Es gibt 28 Bänder, wobei manchmal die Geschichten über drei Abende gehen. Und es sind auch mal Cowboy-Krimis dabei, weil die Jungs gemeutert haben, dass sie nicht wieder was von der Hexe hören wollen! Aber wir konzentrieren uns auf die Hexe Rutzlibutz","
erzählt Vanessa Riecke und skizziert damit die unmittelbar bevorstehenden nächsten Monstersalat-Bände. Natürlich soll es später auch anderes geben, guter Salat besteht ja nicht nur aus einer Blattsorte, doch einstweilen bleibt das Zukunftsmusik, denn eigentlich baut man ja Häuser aus Stein statt Bücher aus Papier.
Mit einer Palette an verschiedenen Werken unterschiedlicher Illustratorinnen ist der Bottroper Ivy-Verlag da schon einen Schritt weiter. Er hat bereits Auszeichnungen erhalten, zuletzt eine Empfehlung der Stiftung Lesen für die jüngste Publikation "Lammwütend".
"Das Lamm war immer lieb. Aber einmal wollte das Lamm richtig wütend sein und laut blöken. Leider wusste das Lamm nicht, wie das geht. "Ich muss die Ziege fragen", dachte es. Die Ziege rupfte und zupfte gerade in einem saftigen Büschel Klee. "Kannst du wütend sein?" fragte das Lamm. "Bähähähähähähä! Meckern ist einfach!" Die Ziege nickte mit dem Kopf, dass der Ziegenbart auf und ab wippte. Das Lamm zog die Luft ein und blökte los. Aber heraus kam nur ein leises, zittriges "Määäääh". Mehr nicht."
Mit umgeschnalltem roten Megafon stapft das lammfromme Lamm durch die angenehm aufgeräumte Bauernhofszenerie der Münsteraner Illustratorin Julia Dürr und bringt es trotz seines elektrischen Verstärkungsapparats nur auf ein ziemlich klägliches Mäh – bis es sich mächtig über einen Wolf ärgern muss. Schon zuvor hatte sich die junge Illustratorin mit einem Ivy-Buch erste Sporen verdient. "Im Dunkeln" heißt das spannende Bilderbuch über einen Stromausfall, das von der Stiftung Buchkunst prämiert wurde, weil es den Spagat vollbringt, über eine ganze Geschichte hinweg Dunkelheit abzubilden und dabei dennoch genügend erkennen zu lassen – eben genau so, als müsse man sich mit den Augen durch die Finsternis vorantasten. "Sinnliche Entdeckerbilderbücher" nennt der Verlag solche Seherfahrungen und gesellt diesem Label ein zweites, höchst ungewöhnliches hinzu: "sinnliche Massagebilderbücher".
"Das Massagebilderbuch wurde von Minna McMaster und Joachim Friedrich erfunden", schreibt der Verlag im Vorwort zu "Ritter Hubi Drachenfreund". "Das Massagebilderbuch gibt den Kindern durch die Bilder, Piktogramme und die von Minna McMaster besprochene CD die Möglichkeit, die Massage eigenständig durchzuführen. Es ist ihnen dann auch möglich, sich gegenseitig zu massieren, ohne die Anleitung durch einen Erwachsenen. Das Massagebilderbuch hat sich besonders gut als Teil des Einschlafrituals bewährt, da es Vorlesen und Berührung miteinander verbindet."
Also: Man liest dem Kind die Geschichte vor – oder hört sie gemeinsam von der beigelegten CD – und befolgt alle paar Absätze die kursiven Handlungsanweisungen. Der Begriff "Massage" erweckt dabei vielleicht zu kraftvolle Erwartungen; es handelt sich mehr oder minder um Berührungsverläufe, die bestimmte Bewegungen in der Geschichte aufgreifen: Treppensteigen, Brei umrühren, Stufen fegen und so weiter. Zur optischen und akustischen Ebene tritt die taktile hinzu. Und wer das als Erwachsener vielleicht zu heilpädagogisch findet, wird rasch eines Besseren belehrt: Die meisten Kinder lieben diesen Berührungsspaß und wollen ihn schnell wiederholen.
""Wir haben nicht nur den Mixtvision-Verlag, sondern wir haben auch Mixtvision-Film und -TV. Und wir arbeiten auch nicht getrennt voneinander, Verlag und Film und TV, sondern wir versuchen, diese Synergien auch zu nutzen und gegenseitig voneinander zu profitieren","
erläutert Carolin Brandl aus dem Münchner Mixtvision-Haus. Der Name spricht schon Bände und mag manch traditonellem Kinderbuchhändler spanisch, respektive zu englisch, vorkommen, doch das sechs Jahre alte Unternehmen hat bereits den Bayrischen Kleinverlags- und nicht Filmpreis bekommen, weil es so schöne Bücher macht.
""Wir bemühen uns zum einen, immer unsere Qualitätsstandards zu halten. Das beinhaltet zum Beispiel, dass wir nur in Deutschland drucken oder zumindest versuchen, diesem Grundsatz treu zu bleiben. Wir sind, sagen wir mal, in einer Schiene drin, wo natürlich auch hochpreisige Bücher sind und wo die Zielgruppe auch gern ein bisschen mehr Geld ausgibt für hochwertige Bücher. Und was das Künstlerische anbelangt, versuchen wir auch einfach modern zu sein. Also, wir haben Collagentechniken im Programm, wir haben ganz verschiedene Stile, die eben bisschen gegen den Strom schwimmen. Aber das möchten wir auch weiter fördern und Künstler fördern, die solche ungewöhnlichen Stile haben!"
Ein herausragendes Beispiel liefern die aktuellen "Erzählbilder" von Eva Muggenthaler unter dem Titel "Als die Fische spazieren gingen". Wie bei den Massage-Büchern des Ivy-Verlags erwartet den Leser zunächst eine Art Gebrauchsanweisung: "Warum versteckt sich der kleine Hase hinter dem Kontrabass? Hat er etwa Angst? Und was ist mit dem Frosch, der so inbrünstig singt? Steht er gerne im Mittelpunkt? Eindeutige Erklärungen zu diesen Bildern gibt es nicht. Vielmehr geht es um das gemeinsame Erzählen und Fabulieren. Eltern und Kinder können sich ein Bild aussuchen, das ihnen besonders gut gefällt, und dann darüber ins Gespräch kommen."
"Selbst wir, die wir uns ja als Redakteure sehr lang mit dem Buch beschäftigt haben, finden manchmal, wenn wir's noch mal durchblättern, Kleinigkeiten in den Bildern, wo wir sagen: "Ach, okay, da ist noch ne kleine Eule in der Ecke, das haben wir noch gar nicht gesehen!" Also, Frau Muggenthaler hat da einfach unglaublich viel reingesteckt, nicht nur Bildgewaltiges reingesteckt, sondern auch sehr viel Gedankliches reingesteckt. Also, sie hat wirklich sehr intensiv überlegt: Was steckt denn hinter solchen Begriffspaaren, wie kann man die mit Leben füllen? Und das macht einfach Spaß, das immer wieder durchzublättern. Und das kann man glaub ich auch in zehn Jahren wieder aus dem Schrank holen und mit ganz anderen Augen die Bilder noch mal anschauen."
"Normal sein – anders sein. Streiten – sich vertragen. Neidisch sein – gönnen können", lauten einige der Begriffspaare am Fuße der doppelseitigen Bildtafeln. Mehr Text muss man nicht lesen können, um sich den philosophischen Witz der Illustratorin Eva Muggenthaler zu erschließen. Kinder sind da meistens schneller als Erwachsene, sie entdecken die komplementären wie die konfrontativen Details selbst dann, wenn sie wie auf dem Bild zweier streitender Känguruhs gut versteckt sind. Die Blumenkästen auf ihren gegenüberliegenden Balkonen enthalten Lauch und Tomaten, doch Pflanzen und dazugehörige Schilder passen nicht zusammen. Offensichtlich hat da jemand etwas vertauscht – Schilder oder Samentütchen –, und das entfachte den erbitterten Streit. Ein Streit, wie er zumindest um das wunderschöne Buch kaum entstehen wird, denn es macht am meisten Spaß, wenn man es zu mehreren enträtselt.
Und auch Streit um ein weiteres Mixtvision-Produkt wäre selbst bei unklaren Besitzverhältnissen völlig überflüssig: Stürzen sich zwei Leute zugleich darauf, reißt man es einfach auseinander. So klingt der Klettstreifen, der die weibliche und die männliche Hälfte von "KeinBuch Ich&Du" zusammenhält.
"Das KeinBuch ist eigentlich kein Buch, sondern 86 Aufgaben, das Buch kreativ zu zerstören",
beschreibt Carolin Brandl den veritablen Bestseller des Hauses. In der Tat handelt es sich dabei eher um ein Objekt als um ein Buch. Viel zu lesen gibt es darin nicht – und wenn, dann in der Art kurzer Mitteilungen, die dem Buch, nun ja, nicht unbedingt zum Besten gereichen: "Platz für Proben deiner Lieblingseissorte", steht etwa in der Mitte der Mädchenhälfte und lässt bibliophile Eltern erschauern: Soll da jetzt wirklich Eis reingekleckst werden? So wie man sich bei der "Dampfablassseite" für Jungen Fürchterliches vorzustellen vermag.
"Wir haben sogar von der Stiftung Lesen eine Empfehlung für das Buch bekommen, die ja jetzt wirklich für was ganz anderes steht, als das Buch zu zerstören. Also, das nehmen die Leute eigentlich mit Humor auf und wissen ganz genau: Wenn ich das eine Buch zerstöre, heißt das noch nicht, dass ich mit anderen Büchern so umgehe! Also das können die Leser ja auch ganz gut trennen."
Dampf abzulassen stand sicher auch im Berufsleben Andreas Gerbers häufig auf der Tagesordnung. Als Arzt war der Schweizer in südamerikanischen Slums unterwegs, später als Investment-Banker für Biotech-Startups verantwortlich. Nun ist er Kinderbuchverleger des im Kleinstädtchen Baar angesiedelten Bilderbuchlabels Aracari. Doch eines hat sich durch alle Berufe hinweg bei Gerber gehalten: die Orientierung an hohen Maßstäben.
"Wer ist bereit, Qualität zu sehen? Und wer ist bereit, für Qualität Geld auszugeben. Also, es gibt halt sehr, sehr viele Eltern, die Kinderbücher quasi mit der Zahnpasta kaufen. Halt im Supermarkt, das rosarote "Hello-Kitty"-Buch, und damit ist das Kind auch befriedigt. Es ist so ein Dilemma, ja. Es gibt halt immer mehr Verlage, die machen wirklich zweitklassige Bücher, billig hergestellt, im Multipack."
Gegen die Aracari mit wahren Bilderbuchpreziosen antritt. Der Verlag ist gewissermaßen ein Gigant unter den vier Kleinen des heutigen Büchermarkts, startete er im Herbst 2009 gleich mit einem beeindruckend breit gefächertem Programm.
"Eigentlich die Strategie, wenn man das so nennen will, war, relativ breit und kräftig in den Markt reinzugehen. Weil sonst geht es einfach noch viel länger, bis man wahrgenommen wird! Wir wurden relativ stark wahrgenommen. Also, wir haben auch jetzt Preise abgeholt. Der Effekt war, dass wir schnell wahrgenommen wurden. Und dann langsam fokussieren. Ich glaube, anders ist es in einem Land wie Deutschland, in einem an sich schwierigen Branchenumfeld gar nicht möglich! Also, wenn wir klein - zwei Bücher mal da, zwei Bücher mal da, dann hätten wir die ganzen Kosten trotzdem, vielleicht ein bisschen weniger, aber hätten dann überhaupt nichts. Wir haben immerhin, die Umsatzziele vom Gründungsjahr haben wir erreicht!"
Mit Andreas Gerber steht ein deutlich anderer Verlegertypus am Ruder, als man bei einer schöngeistig motivierten Verlagsgründungen erwarten mag. Jemand, der als Investmentbanker den Grundsatz verinnerlicht hat, das nichts, was sich nicht in absehbarer Zeit rechnet, Bestand haben wird – so schön und wertvoll es auch sei. Schöngeistig motiviert ist Gerber natürlich trotzdem, das kann man seinen Büchern auf den ersten Blick ansehen. Ob es der Regalfächer sprengende, großquadratische "Herr Schrecklich" ist, ein französisches Bilderbuch, bei dem ein furchterregend schwarzer Wolf von seinen Kindern als Heuchler enttarnt wird, weil er unter seiner Felluniform knallbunte Farben trägt. Oder ob es die Zählbücher "Zwölf und der Wolf" mit eindrucksvoll grimmigen Entenküken oder "Ole kann nicht schlafen" sind – alles ist von hoher illustrativer und herstellerischer Qualität. Bei "Ole", einer deutschen Originalausgabe, erlaubt sich Aracari sogar etwas in der Kinderliteratur ansonsten eher Verpöntes: selbstironische Anspielungen. Zum Schluss des Geschichte werden nämlich keine Schäfchen mehr, sondern Bücher gezählt:
"1 war sehr lustig. 2 kannte er schon, aber er wollte es immer wieder anschauen. 3 handelte von einem Papagei, der Coco hieß, genau wie der von Ole. 4 war zuerst traurig, aber dann ging es doch gut aus. 5 war groß, hatte ganz viele Seiten und erklärte, warum alle Menschen einen Bauchnabel haben. In 6 wurde ein böser Wolf zum lieben Vater. 7 hatte keine Geschichte, aber Ole musste immer über die Bilder lachen. In 8 suchte ein Bär das Beste Bett der Welt. 9 war ein beinahe voll gemaltes Malbuch. Und 10? Buch 10 war sehr lustig. Es ging um einen Jungen, der nicht schlafen konnte und etwas zum Zählen suchte."
Eine Einschlafhilfe mit subtiler Eigenwerbung, denn 6 ist unverkennbar "Herr Schrecklich" mit dem bunten Wolf. Und 5 das wohl seltsamste Buch des Aracari-Verlags: Karen Mefferts "Warum die Menschen einen Nabel haben", bebildert von Barbara Connell. Fällt es einem – wie dem Berichterstatter zufälligerweise – als erstes Buch des Verlags in die Hände, ist man irritiert. Denn der sprachliche Duktus klingt ungewohnt.
"Woher die Menschen einen Nabel haben", da hab ich die Autorin gekannt. Die war damals 82 und war eine große Berühmtheit in der Schweiz. Sie war nämlich die erste weibliche, attraktive und geschiedene Tagesschausprecherin in den 70er-Jahren. Dieses Buch war in den 60er-Jahren ein Hit, also viele von meinem Alter sind quasi aufgeklärt durch dieses Buch worden. Wollen wir das nicht wieder machen? Und dann hab ich das mit ihr gemacht und einer neuen Illustratorin neu illustriert. Im Moment verkauft es sich sehr gut im Behindertenbereich, also in sagen wir 10- bis 12-jährigen Kindern, die ein bisschen geistig retardiert sind, um ihnen zu erklären: Wie kommt das eigentlich zustande? Woher komm ich eigentlich? Und das hat mit Liebe zu tun, dass es mich gibt. Und ich fand das einfach in sich toll. Ich weiß nicht, ob ich's heute noch machen würde, es war aber ein toller Start und war der Anfang."
Wie der Züricher "Monstersalat" erweist auch Aracari damit der Vergangenheit seine Reverenz - so wie die Herstellervermerke in den Büchern auf eine traditionelle Verbundenheit mit dem heimischen Druckereigewerbe verweisen. Das eint freilich alle Kleinen: Sie drucken nicht in Asien und nicht in Osteuropa, sondern in Potsdam, Calbe oder Hörstel-Riesenbeck. Darauf angesprochen, verzieht Andreas Gerber freilich schuldbewusst das Gesicht. Ein Geständnis ist fällig: Ab dem Frühjahrsprogramm 2012 kommen die Aracari-Bücher dann doch aus Asien, allerdings aus Singapur, nicht aus China.
"Ich habe im November 2009 mir die Druckereien angeschaut in China und habe mich entschieden von dem, was ich gesehen habe, dass ich nicht in China drucken möchte! Einfach: Kann ich dahinter stehen, dass deutsche, schweizer Kinder Bücher in den Händen halten, die von Kindern genäht wurden, sag ich jetzt mal ein bisschen krass. So ist es nicht mehr, aber es ist immer noch schlecht! Und Singapur ist aber anders, Singapur hat eine viel längere Tradition von westlicher Geschäftsbeziehung. Und ich bin auch jetzt im Januar in Singapur die Druckerei anschauen gegangen. Und das hat so überzeugt, da sind die Standards fast menschenfreundlicher und besser als in Calbe. Und die Preise sind halt nicht gerade halb so teuer, aber sind einfach günstiger, sodass ich mich jetzt entschieden habe, in Singapur zu drucken."
An der gewohnten Qualität soll das nichts ändern, sein Herstellungsleiter wird den Druckprozess vor Ort überwachen. Darauf ist die asiatische Druckerei sogar räumlich eingestellt:
"Die haben Zimmer für die Herstellungsleiter. Und der schläft drei Nächte da und überwacht jeden Druck. Der geht hin und sagt: "Bisschen mehr gelb, bisschen mehr Magenta." Der schaut wirklich, dass die Qualität stimmt."
Nein, für Romantiker ist der Kinderbuchmarkt ganz gewiss kein gemütlicher Ort mehr. Bei insgesamt schrumpfenden Märkten hat längst die Globalisierung eingesetzt, die gerade bei Bilderbüchern in Richtung eines schalen ästhetischen Einheitsbreis drängt. Da darf man durchaus froh sein, dass es immer wieder Pioniere gibt, die mit viel Kraft schöne Bücher produzieren. Und mit eigenem Geld:
"Am Anfang hab ich nicht viel gespart, also war ich relativ großzügig mit dem Verlag. Und jetzt sind wir natürlich dran, wo wir versuchen, die Prozesse zu optimieren und hoffen, dass wir das jetzt so über zwei, drei Jahre in normale schwarze Nullen kriegen. Aber es ist nie die Idee gewesen, sagen wir, wirklich großen Reibach zu machen mit einem Verlag. Das wusste ich, das geht gar nicht."
Aber dass man ärmer wird, nur weil man etwas Schönes produziert, kann auch keine befriedigende Aussicht sein. Es liegt also an Eltern und Großeltern, an Liebhabern guter Bilderbücher, die heute vorgestellten Pioniere in ihrem Tun zu unterstützen. Wie heißt es so schön? "Erhältlich in jeder guten Buchhandlung."
Webseiten:
www.rutzlibutz.com
www.ivy-verlag.de
www.mixtvision-verlag.de
www.aracari.ch
In der Sendung erwähnte Bilderbücher:
Robert Camenzind, Vanessa Riecke: "Rutzlibutz und Schwarznase"
Robert Camenzind, Vanessa Riecke: "Rutzlibutz bei den Krokodilen"
Monstersalat Verlag, Zürich, je 13,90 Euro
Regina Schwarz, Julia Dürr: "Lammwütend"
Ivy Verlag, Bottrop, 16,80 Euro
Minna McMaster, Julia Dürr: "Im Dunkeln"
Ivy Verlag, Bottrop, 16,80 Euro
Minna McMaster, Joachim Friedrich, Felicitas Horstschäfer "Ritter Hubi Drachenfreund",Ivy Verlag, Bottrop, 16,80 Euro
Eva Muggenthaler: "Als die Fische spazieren gingen"
Mixtvision Verlag, München, 14,90 Euro
"KeinBuch Ich&Du"
Mixtvision Verlag, München, 11,90 Euro
Laëtitia Devernay "Applaus"
Mixtvision Verlag, München, 19,90 Euro
Alain Serres, BrUNO Heitz: "Herr Schrecklich"
Aracari Verlag, Baar, 14,90 Euro
In-seon Chae, Seung-ha Rew: "Zwölf und der Wolf"
Aracari Verlag, Baar, 14,90 Euro
Karl Rühmann, Lena Hesse: "Ole kann nicht schlafen"
Aracari Verlag, Baar, 13,90 Euro
Karen Meffert, Barbara Connell: "Warum die Menschen einen Nabel haben"
Aracari Verlag, Baar, 16,90 Euro