Die Maschinen starten, das ganze Schiff vibriert und dann, langsam, bewegt es sich Zentimeter für Zentimeter von der Kaimauer weg. Der Eisbrecher "Sir Wilfrid Laurier" bricht auf in Richtung Nordwesten, um durch den Pazifik und die Beringsee in den arktischen Ozean zu gelangen. An Bord 28 Seeleute und 17 Wissenschaftler.
"Von Muscheln und Menschen
Wie der Klimawandel das Leben in der Arktis verändert
Von Monika Seynsche"
Am Horizont verschwindet langsam die Skyline der kanadischen Hafenstadt Victoria und mit ihr die Berge von Vancouver Island. Jetzt geht es acht Tage lang schnurgeradeaus, Kurs Nordwest. Bis am neunten Tag aus dem Nebel dunkle, über und über mit grünem Gras bewachsene Felsen auftauchen: die Alëuten. Jene Inselkette, die sich in einem Bogen zwischen Sibirien und Alaska spannt. Vorbei an Vogelfelsen und unbewohnten Inseln steuert die "Sir Wilfrid Laurier" Dutch Harbour an. Ein riesiger Containerhafen, ein Flugplatz, einige Dutzend auf den Hügeln verstreute, bunt angestrichene Wohnhäuser und - die angeblich an Schlägereien reichste Kneipe Nordamerikas. Etwa 4000 Menschen leben hier das ganze Jahr über. Während der Fangsaison sind es mehr als doppelt so viele. Dann legen die Fischer auf dem Meeresgrund nördlich der Inselkette ihre Gitterkäfige aus und fangen tonnenweise Königskrabben, die in alle Welt exportiert werden. Denn nördlich der Aleuten beginnt die Beringsee. Und die zählt zu den biologisch produktivsten Zonen der Weltmeere.
"”My interest in the Bering Strait region is almost a quarter of a century.”"
Fast ein Vierteljahrhundert lang forsche sie schon in dieser Region, sagt Jackie Grebmeier. Die Meeresbiologin von der Universität von Tennessee in Knoxville ist jedes Jahr im Juli Gast auf der "Sir Wilfrid Laurier". In Dutch Harbour kommt sie an Bord und mit ihr und ihrem Team steuert der Eisbrecher zwei Tage lang weiter nach Norden, in den nördlichen Teil der Beringsee. Hier gibt es keine Königskrabben mehr und auch den meisten Fischen ist es so weit im Norden zu kalt. Stattdessen gedeiht hier, kurz vor dem arktischen Ozean ein ganz anderes, nicht minder produktives Ökosystem. Aber das ist in Gefahr.
Auf dem Vorderdeck des Eisbrechers steht Jackie Grebmeiers Ehemann, der Meeresforscher Lee Cooper, und beobachtet, wie zwei Seeleute mit einem Kran eine kleine Baggerschaufel ins Wasser lassen. Sobald die Schaufel auf dem Meeresboden angekommen ist, schließen sich die beiden Arme und greifen genug Schlamm für einen 10-Liter-Eimer. Grebmeier:
"”Diese Region ist so wichtig, weil sie ein Indikator für den Klimawandel ist. Die Arktis erwärmt sich stärker als jede andere Region des Planeten und hier ist das Meer so flach, dass sich jede Veränderung an der Meeresoberfläche innerhalb weniger Tage auf den gesamten Lebensraum bis zum Meeresboden auswirkt.""
Schon kleinste Veränderungen können die ganze Nahrungskette in der Beringsee bis hinauf zum Menschen durcheinanderbringen. Im Sommer trifft nährstoffreiches Wasser aus dem Südwesten auf die gerade von der winterlichen Eisdecke befreite lichtdurchflutete Beringsee. Innerhalb kürzester Zeit entsteht so ein Schlaraffenland für die kleinsten Pflanzen im Meer, das Phytoplankton. Normalerweise sinkt das auf den Meeresboden und bietet dort reichlich Nahrung für Muscheln, Würmer und andere Schlammbewohner. Die wiederum werden direkt von großen Säugetieren wie Walen, Robben und Walrössern verspeist.
Auf die Muscheln und Würmer haben es die beiden Forscher mit ihrer Baggerschaufel abgesehen. Eine Winde zieht die Schaufel langsam wieder an Deck. Dort angekommen leeren Jackie Grebmeier und Lee Cooper sie in eine große Holzkiste mit einem Siebboden. Jackie Grebmeier nimmt einen Gartenschlauch und richtet den Wasserstrahl in das Sieb. Langsam löst sich der dunkelgraue Schlamm, sickert durch die Löcher und lässt seine Bewohner zurück. Die Forscherin deutet auf einige rosafarbene Tierchen, die aussehen wie Miniatur-Nordseekrabben. Grebmeier:
"Das hier sind Flohkrebse. Sie sind die Hauptnahrung von Grauwalen. Diese Krebse leben in senkrechten Röhren, die wie Strohhalme im Boden stecken, und kommen nur zum Fressen an die Oberfläche."
Fünf kleine Flohkrebse versuchen hektisch, sich in den letzten Resten des Schlamms vor dem Wasserstrahl zu verstecken. Neben ihnen liegen einige braune Muscheln und ein paar Borstenwürmer. Ansonsten lässt der Schlamm ein leeres Sieb zurück. Lee Cooper:
"”Die Zahl der Tiere im Schlamm hat in den letzten zehn Jahren sehr stark abgenommen und es kommen auf einmal andere Arten vor. Vor 15 Jahren noch haben wir genau an dieser Stelle Tausende von Flohkrebsen pro Quadratmeter gefunden, jetzt sind an vielen Stellen gar keine mehr, und hier sind es auch nur noch wenige Flohkrebse, ein paar Muscheln und einige andere Tiere. Wir haben in dieser Gegend dieses Jahr auch noch keine Wale gesehen. Ich denke es gibt einfach nicht mehr genug zu fressen für sie.""
Eigentlich müssten sich hier Hunderte von Grauwalen tummeln, erzählt Lee Cooper. Sie verbringen normalerweise den Sommer in der nördlichen Beringsee, bevor sie sich mit Flohkrebsen vollgefressen wieder auf den Weg Richtung Süden zur Baja California machen. Die Fettpolster, die sie sich im Sommer anfressen, müssen reichen für die lange Reise. In den letzten Jahren seien an der Westküste Amerikas aber immer wieder ungewöhnlich abgemagerte Grauwale beobachtet worden, sagt der Forscher. Gleichzeitig erzählten Jäger an der West- und Nordküste Alaskas auch von immer weniger Walrössern. Die ernähren sich in der Hauptsache von Muscheln im Schlamm.
Die Beringsee wird stark von der nördlich gelegenen Arktis beeinflusst. Jeden Winter wächst von dort eine Meereisdecke Richtung Süden, die den Ozean erst im Sommer wieder freigibt. Aber die Eisdecke verändert sich. Grebmeier:
"Das Meereis zieht sich im Frühjahr schneller nach Norden zurück, als jemals zuvor und im Herbst kommt es erst später wieder. Außerdem ist es dünner geworden. Beides verändert die Physik der kalten Wasserstellen, die viele Schlammbewohner hier oben zum Leben brauchen."
Ähnliche Beobachtungen wie Jackie Grebmeier macht auch Tom Weingartner. Der Ozeanograph von der Universität von Alaska in Fairbanks untersucht seit Jahrzehnten das Wasser, das von der Beringsee durch die Beringstraße in den arktischen Ozean fließt.
"Das Wasser ist deutlich wärmer geworden in den letzten drei vier Jahren und es enthält offensichtlich nicht mehr so viel Salz."
Für die steigenden Wassertemperaturen macht er die seit Jahrzehnten steigenden Lufttemperaturen in den nördlichen Breiten verantwortlich. Gleichzeitig schmelzen die Gletscher an der Westküste Alaskas heute doppelt so schnell wie noch vor 30 Jahren, der Niederschlag hat in einigen Regionen zugenommen und beides versorgt die Beringsee mit zusätzlichem Süßwasser. Nur ist das süße Wasser nährstoffärmer als das salzige, das hier normalerweise vorkommt. Und je wärmer das Wasser der Beringsee wird, desto weniger Eis bildet sich im Winter. Ohne ausreichend Eis und Nährstoffe wird das Leben für die Krebse und Muscheln im Schlamm unangenehm. Und nicht nur für sie.
"I am a marine mammal biologist for the state of Alaska.”"
Die Biologin Gay Sheffield hat sich auf Meeressäugetiere spezialisiert und arbeitet für die Regierung von Alaska.
"”Das Eis wird von einer ganzen Reihe von Meeressäugetieren genutzt. Als Rastplatz auf dem Meer, als Ort, an dem Eisbären, Robben und Walrösser ihre Jungen zur Welt bringen, und die Tiere nutzen es als Floß, um darauf von einer Futtergegend zur nächsten zu kommen. Das erspart ihnen jede Menge Energie, die sie fürs Schwimmen bräuchten."
Gleichzeitig sind viele Säugetiere in dieser Region angewiesen auf die Schlammbewohner als Nahrung. Aber die Muscheln, Würmer und Flohkrebse bekommen durch das warme Wasser Konkurrenz aus dem Süden. Das ganze System gerät durcheinander. Weingartner:
" Wenn sich das Eis zurückzieht und das Wasser wärmer wird, können hier im Frühjahr auch schon kleinste Tiere im Wasser überleben, das Zooplankton. Die ernähren sich von den kleinsten Pflanzen und Algen im Wasser, und schnappen damit den Schlammbewohnern ihre Nahrung weg. Wenn sich das Zooplankton hier oben ausbreitet, werden auch Fische folgen, denn die fressen wiederum das Zooplankton. Es kann also zu einer gewaltigen Veränderung der Nahrungskette in dieser Region kommen. Das zumindest erwarten die meisten Forscher.”"
Jetzt schon finden Jackie Grebmeier und ihre Kollegen immer öfter im nördlichen Teil der Beringsee Fischarten, die dort oben bisher nie vorkamen: den Alaska-Seelachs und den Buckellachs zum Beispiel. Beide Arten ernähren sich vom Zooplankton.
Der Eisbrecher steuert weiter nach Norden. Die Alëuten liegen seit fünf Tagen hinter dem Schiff. Die Temperaturen fallen mit jedem Tag, und Nebel wird zu einem ständigen Begleiter. Dann, eines Morgens lassen sich vom Schiff aus Schneefelder erahnen: Little Diomede. Die Insel ist der letzte Außenposten der USA vor der russischen Grenze. Ein Felsbrocken im Ozean, an dessen westlichem Fuß sich eine Handvoll Holzhütten am Hang entlang kauern. Etwa 150 Menschen leben hier. Es gibt eine Schule, eine Klinik, ein Rathaus und einen Helikopterlandeplatz – keinen Hafen, keine Straßen, keine Autos, nur steinige Pfade, die sich zwischen den Häusern hindurchziehen. Die Menschen hier – Iñupiat - leben hauptsächlich von der Jagd. Und dafür haben sie sich den besten Fleck überhaupt ausgesucht, sagt Gay Sheffield. Denn Little Diomede Island liegt mitten in der Beringstraße, die hier gerade einmal 80 Kilometer breit ist. Jeder Wal, jede Robbe und jedes Walross, das vom Pazifik in die Arktis schwimmt, muss durch diese Meerenge.
""Well, it’s smelly in here…."
Die Biologin Gay Sheffield ist oft auf Little Diomede Island und arbeitet eng mit den Jägern dort zusammen. Die meiste Zeit aber verbringt sie in ihrem Labor beim Amt für Fische und Wildtiere in Fairbanks. Gerade steht sie dort mit ihren Kollegen vor einem metallenen Labortisch auf dem ein glitschiges, rot-grünes, fußballgroßes Etwas liegt.
"We are examining stomach contents of beluga whales.”"
Sie untersuchten den Mageninhalt von Beluga-Walen, sagt die Laborassistentin Anna Brians und schneidet mit einem Seziermesser in die grüne Masse.
Jedes Mal wenn die Jäger auf Little Diomede Island ein Tier für den Eigenbedarf erlegen, schneiden sie einige Gewebestücke heraus, packen sie in Plastiktüten und schicken sie nach Fairbanks. Dort untersuchen Gay Sheffield und ihre Kollegen die Gewebe. Denn die Biologen versuchen herauszufinden, wie es den Säugetieren in der Beringsee geht, was sie essen, wie gesund sie sind und wie viel Nachwuchs sie bekommen. Ohne die Hilfe der Jäger wäre diese Arbeit unmöglich, denn für herkömmliche Untersuchungsmethoden leben die Tiere an viel zu schwer erreichbaren Stellen im eisbedeckten Meer. Gay Sheffield konzentriert sich vor allem auf die vier Robbenarten, die auf, im und unter dem Meereis leben. Das sind Largha-Robben, Band-, Bart- und Ringelrobben.
""Am ehesten könnten noch Largha-Robben und im übrigen auch Walrösser mit dem verschwindenden Eis klarkommen. Von beiden Arten wissen wir, dass sie sich auch auf Felsen und am Strand ausruhen. Bandrobben wiederum sind Langstreckenschwimmer und können tief tauchen. Ich denke, wenn sich das Eis weiter zurückzieht, könnten auch sie damit umgehen. Die größten Sorgen mache ich mir um Bartrobben und Ringelrobben. Bartrobben ruhen sich nur auf Eisschollen aus, an Land sieht man sie so gut wie nie. Und Ringelrobben bekommen ihre Jungen in einer Höhle im Eis. In Kanada haben wir jetzt schon ein paar Mal beobachtet, dass warme Temperaturen oder starker Regen die oberen Eisschichten weggeschmolzen und diese Höhlen freigelegt haben, so dass die Jungen Räubern und den Elementen ausgeliefert waren."
Noch gehe es aber allen vier Robbenarten relativ gut, sagt sie. Die Bestände seien stabil und die Geburtenraten vergleichsweise hoch.
"”Wenn sich das Eis weiter nach Norden zurückzieht, ist meiner Ansicht nach die entscheidende Frage: bleibt das Ökosystem so erhalten und wandert einfach mit nach Norden? Wenn das passiert, werden die Tiere erst mal folgen. Nur, was bedeutet das für die Menschen an der Küste, die von der Jagd leben? Sie werden nicht mehr an die Tiere herankommen! Ich denke, dass die Menschen hier oben viel schneller unter dem Klimawandel leiden werden als die Tiere. Denn die Tiere können im Moment noch mit dem Eis nach Norden wandern. Die Menschen nicht, sie sind auf die Küste angewiesen.”"
Der Eisbrecher steuert weiter gen Norden, durch die Beringstraße hindurch und hinein in den arktischen Ozean. Es ist neblig und die See schimmert dunkelgrau. Auf dem Vorderdeck ziehen die Seeleute die letzten lose herumliegenden Schaufeln und Stangen fest. Sie warten auf das Eis.
Dann, kurz vor dem Ende der Reise, ist es endlich soweit. Der rot angestrichene Bug malmt seinen Weg durch die erste tennisplatzgroße Eisscholle. Das Schiff ruckelt, als würde es sich über Steine schieben. Das erste Eis auf der ganzen Reise. Viel weiter nördlich als in den Jahren zuvor. Nach einer kurzen Runde durch die dünnen Eisschollen ist das Ziel erreicht und der Eisbrecher geht in Barrow vor Anker: der größten Stadt an der Nordküste Alaskas. Einen Hafen gibt es nicht, deshalb bringt ein Motorboot Mannschaft und Passagiere an Land.
Die meisten Menschen in Barrow sind Ureinwohner, für die die Jagd auf Robben, Walrösser und Wale bis heute die Lebensgrundlage darstellt. Die Tiere seien ein wichtiger Teil ihrer Kultur und Identität, sagt Arnold Brower. Der 85jährige Iñupiat-Eskimo ist Walfangkapitän in Barrow. Er sitzt in seinem Wohnzimmer vor Spitzengardinen und deutet auf ein Foto an der Wand, das ihn und seine Walfangmannschaft mit einem erlegten Grönlandwal zeigt. Brower:
"”Der Walfangkapitän ist eine lebenswichtige Institution für die Iñupiat-Kultur. Lange bevor es die Regionalbehörde, den Staat Alaska oder sogar die Vereinigten Staaten von Amerika gab, waren die Eskimos schon hier. Und sie haben überlebt durch den Wal. Das ist das wichtigste Tier für unsere Kultur und für unseren Lebensunterhalt. Die Aufgabe eines Walfangkapitäns ist es, eine Mannschaft zusammenzustellen und die Waffen auszusuchen für die Jagd im Frühjahr.""
Im Frühling jagen die Iñupiat Grönlandwale vom Meereis aus, indem sie an einigen Stellen große Löcher ins Eis schlagen und dann warten, bis die Wale dort zum Luftholen auftauchen. In den letzten Jahren allerdings sei auf das Eis kein Verlass mehr, sagt Arnold Brower. Immer wieder passierten Unfälle, weil die Eisdecke zu dünn sei und Jäger in den eisigen Ozean durchbrächen.
"”Früher, in meiner Kindheit, waren die Eismassen noch gewaltig. Die ganze Küstenlinie war jedes Jahr eisbedeckt, damals vor dem Krieg.""
Etwa zehn Kilometer außerhalb von Barrow arbeitet eine Gruppe von Archäologen daran, einen Friedhof freizulegen, den die Küstenerosion ins Meer zu spülen droht. Beschützt werden sie von Perry Anashugak. Er sitzt in einen dicken Fellparka gehüllt auf seinem Geländefahrzeug. Auf der Motorhaube liegt ein Gewehr.
"”Meine Aufgabe ist es, Bären zu beobachten. Wenn wir hier draußen am Point Barrow sind, halte ich mit meinem Fernglas Ausschau nach ihnen. Sehe ich einen Bär, warnen wir die Leute und versuchen, ihn zu vertreiben. Ich habe eine 338 Winchester Magnum. Mit dem Gewehr kann ich zwar keinen Bären umbringen, aber ich kann ihn verscheuchen.""
Perry Anashugak ist der offizielle Bärenwächter in Barrow. Allein heute hat er sich schon zwei Mal mit seinem Gewehr auf den Weg gemacht, um Eisbären von den Forschern fern zu halten. Stolz deutet er auf das dicke weiße Eisbärfell am Kragen seiner Jacke. Selbst erlegt, sagt er. Genauso wie Arnold Brower wohnt er in einem der staubbedeckten Holzhäuser von Barrow. Rundherum keine Bäume, keine Sträucher - noch nicht einmal Gras hält sich in der Stadt. Wenn sich hier im Sommer der Schnee zurückzieht, hinterlässt er grauen Boden. Sobald es windet – und das tut es fast unablässig - wird Boden aufgewirbelt und legt sich als feine Staubschicht auf Häuser, Autos und Menschen. Die triste Ansammlung von Holzhäusern und Schotterstraßen ist die größte Stadt an der Nordküste Alaskas: das Finanzzentrum und gleichzeitig Sitz der Regionalbehörde. In einem unscheinbaren Gebäude hinter dem Supermarkt hat Geoff Carroll sein Büro.
"” Ich bin der Gebiets-Biologe vom Amt für Fische und Wildtiere in Alaska. Das ist ein Ein-Mann-Büro und ich bin allein für etwa 56.000 Quadratmeilen verantwortlich. Im Prinzip habe ich mich um alle Landsäugetiere an der Nordwestspitze Alaskas zu kümmern.""
Eisbären verbringen den größten Teil ihres Lebens auf dem Eis und fallen damit strenggenommen nicht in Geoff Carrolls Aufgabengebiet, auch wenn sie gelegentlich den Strand von Barrow unsicher machen. Aber das könnte sich in Zukunft ändern, befürchtet der Biologe. Carroll:
"”Eisbären haben immer vom Rand des Eises aus gejagt, der über relativ flachem und an Beutetieren reichem Wasser lag. Aber je weiter sich das Eis nach Norden zurückzieht, desto tiefer und leerer wird das Meer unter dem Eisrand. Ihr Lebensraum im Eis verschwindet und das könnte sie zwingen, verstärkt an Land zu kommen. Wer weiß, was dann passiert?”"
Unter Forschern ist das mögliche Schicksal der Eisbären in der Arktis umstritten. Die einen befürchten, dass der Rückzug des Eises zum Aussterben der Tiere führen wird. Andere wiederum halten die Eisbären für so anpassungsfähig, dass ihnen eine Rückkehr an Land gelingen könnte. Geoff Carroll ist sich nicht sicher, welcher Meinung er sich anschließen soll. Nur, fügt er hinzu, an Land könnten sie Konkurrenz aus dem Süden bekommen. Carroll:
"”Ich habe keine verlässlichen Zahlen über die Grizzlybär-Population hier oben, aber allein von der Anzahl der Beschwerden von Leuten, in deren Hütten Bären eingedrungen sind, könnte man darauf schließen, dass sich hier mehr Grizzlies herumtreiben als früher. Es scheint gut zu laufen für die Grizzlies.”"
Das könnte nicht nur den Eisbären, sondern auch einer anderen Tierart zum Verhängnis werden: den Moschusochsen. Sie waren im 19. Jahrhundert schon einmal in ganz Alaska ausgerottet und sind dann Anfang der siebziger Jahre wieder an der Nordküste angesiedelt worden. Zuerst mit großem Erfolg. Vor zehn Jahren war die Population auf 800 Tiere angewachsen, von denen ein Großteil im Arctic National Wildlife Refuge, einem Schutzgebiet lebte. Geoff Carroll:
"”Dann sind es plötzlich immer weniger Tiere geworden. Vor zwei Jahren haben wir noch mal eine Bestandsaufnahme im Arctic National Wildlife Refuge durchgeführt. Dabei hat man nur noch einen einzigen Moschusochsen gefunden, und der ist kurz danach auch noch von einem Bären gefressen worden.""
Geoff Carroll sitzt an seinem über und über mit Landkarten und Papierstapeln besäten Schreibtisch in einem engen, muffigen Büro und schüttelt traurig den Kopf. Jetzt seien in seinem gesamten Gebiet nicht einmal mehr 250 Tiere übrig.
"”Einer der Faktoren für den Rückgang der Moschusochsen sind sicher Bären. Bis vor sechs, acht Jahren haben sich die Bären nicht weiter für die Moschusochsen interessiert. Es war ja eine wiedereingeführte Art und sie wussten anscheinend nicht, was sie mit den Ochsen anfangen sollten. Aber dann haben die Bären auf einmal herausbekommen, dass sich Moschusochsen ziemlich leicht umbringen lassen.”"
"So we are walking through the main area for all the barns and all the facilities at LARS and on our left we have…”"
500 Kilometer weiter südlich erstrecken sich statt staubiger Ebenen sattgrüne Hügel, bedeckt von undurchdringlichen Nadelwäldern. Auf einem großen Farmgelände führt Perry Barboza durch die Großtierforschungsstation der Universität von Alaska in Fairbanks: ein altes, braun angestrichenes Holzhaus, daneben ein Schuppen. Drumherum zahlreiche Gehege. Hinter ihnen beginnt der Wald.
"" Geradeaus ist unsere Arbeitsscheune und daneben sehen Sie einen Bullen, der gerade in seine Brunftzeit kommt."
Der angesprochene Moschusochsenbulle Zane steht einige Meter von Perry Barboza entfernt mit gesenktem Kopf hinter dem mannshohen Zaun und scharrt mit den Hufen im Gras. Dann kommt er langsam näher und stößt mit seinem gewaltigen fellbehangenen Kopf und den Hörnern immer wieder gegen den Metallzaun.
Der Besuch scheint ihm nicht zu gefallen.
"”Das teuerste daran, diese Jungs zu halten, ist das Zaunmaterial. Die Kosten für ihr Fressen sind nichts verglichen mit dem Schaden, den sie dem Gehege zufügen, wenn sie versuchen, ihr Gegenüber einzuschüchtern.""
Auf der alten Farm in Fairbanks untersuchen Perry Barboza und seine Kollegen, wie Moschusochsen Nahrung in Körpergewebe und Nachwuchs umsetzen. Zane und seine Artgenossen benutzen dafür einen Trick, der sich allerdings in einem wärmeren Klima als ausgesprochen ungünstig erweisen könnte. Barboza:
"Im Herbst werden sie plötzlich fett wie Bären, und dabei fressen sie keinen Lachs sondern verrottendes Gras und Seggen – das ist wirklich ungewöhnlich. Gleichzeitig trinken sie eiskaltes Wasser und fressen Schnee. Bei Temperaturexperimenten haben wir herausgefunden, dass ihre innere Körpertemperatur dabei um bis zu 14 Grad Celsius fällt. Sie verpassen sich also selber einen Kälteschock.”"
Moschusochsen haben in ihrem Verdauungstrakt Mikroorganismen, die in der Lage sind, viel Energie aus dem Gras herauszuholen. Dabei produzieren sie gleichzeitig viel Wärme. Deshalb kühlen die Tiere ihre Verdauungsorgane mit Schnee und Eiswasser. Barboza:
"”Wenn die Sommertemperaturen steigen, überhitzen Moschusochsen sowohl von außen als auch von innen. Das könnte sie dazu zwingen, bestimmte Gegenden sehr schnell zu verlassen. Hier in Gefangenschaft ziehen sich unsere Tiere schon in den Schatten zurück, sobald es wärmer als 15 Grad wird. Aber an den fiesesten, kältesten Tagen, wenn sich sonst niemand vor die Tür traut, sind sie glücklich. Sie mögen schlechtes Wetter.”"
Und genau das könnte ihr Problem werden. Dieser Ansicht ist auch Perry Barbozas Kollege Kris Hundertmark vom Institut für die Biologie der Arktis in Fairbanks.
"”Moschusochsen haben keine Ausweichmöglichkeiten mehr. Sie können nicht noch weiter nach Norden ziehen. Sie sind ja schon ganz im Norden. Moschusochsen werden definitiv zu den Verlierern des Klimawandels gehören."
Das Leben in der Arktis verändert sich. Es wird Verlierer des Klimawandels geben, wie Zane und seine Artgenossen. Es wird aber auch Gewinner geben. Die Frage ist immer, zu welcher Gruppe man selbst gehört.
"Von Muscheln und Menschen
Wie der Klimawandel das Leben in der Arktis verändert
Von Monika Seynsche"
Am Horizont verschwindet langsam die Skyline der kanadischen Hafenstadt Victoria und mit ihr die Berge von Vancouver Island. Jetzt geht es acht Tage lang schnurgeradeaus, Kurs Nordwest. Bis am neunten Tag aus dem Nebel dunkle, über und über mit grünem Gras bewachsene Felsen auftauchen: die Alëuten. Jene Inselkette, die sich in einem Bogen zwischen Sibirien und Alaska spannt. Vorbei an Vogelfelsen und unbewohnten Inseln steuert die "Sir Wilfrid Laurier" Dutch Harbour an. Ein riesiger Containerhafen, ein Flugplatz, einige Dutzend auf den Hügeln verstreute, bunt angestrichene Wohnhäuser und - die angeblich an Schlägereien reichste Kneipe Nordamerikas. Etwa 4000 Menschen leben hier das ganze Jahr über. Während der Fangsaison sind es mehr als doppelt so viele. Dann legen die Fischer auf dem Meeresgrund nördlich der Inselkette ihre Gitterkäfige aus und fangen tonnenweise Königskrabben, die in alle Welt exportiert werden. Denn nördlich der Aleuten beginnt die Beringsee. Und die zählt zu den biologisch produktivsten Zonen der Weltmeere.
"”My interest in the Bering Strait region is almost a quarter of a century.”"
Fast ein Vierteljahrhundert lang forsche sie schon in dieser Region, sagt Jackie Grebmeier. Die Meeresbiologin von der Universität von Tennessee in Knoxville ist jedes Jahr im Juli Gast auf der "Sir Wilfrid Laurier". In Dutch Harbour kommt sie an Bord und mit ihr und ihrem Team steuert der Eisbrecher zwei Tage lang weiter nach Norden, in den nördlichen Teil der Beringsee. Hier gibt es keine Königskrabben mehr und auch den meisten Fischen ist es so weit im Norden zu kalt. Stattdessen gedeiht hier, kurz vor dem arktischen Ozean ein ganz anderes, nicht minder produktives Ökosystem. Aber das ist in Gefahr.
Auf dem Vorderdeck des Eisbrechers steht Jackie Grebmeiers Ehemann, der Meeresforscher Lee Cooper, und beobachtet, wie zwei Seeleute mit einem Kran eine kleine Baggerschaufel ins Wasser lassen. Sobald die Schaufel auf dem Meeresboden angekommen ist, schließen sich die beiden Arme und greifen genug Schlamm für einen 10-Liter-Eimer. Grebmeier:
"”Diese Region ist so wichtig, weil sie ein Indikator für den Klimawandel ist. Die Arktis erwärmt sich stärker als jede andere Region des Planeten und hier ist das Meer so flach, dass sich jede Veränderung an der Meeresoberfläche innerhalb weniger Tage auf den gesamten Lebensraum bis zum Meeresboden auswirkt.""
Schon kleinste Veränderungen können die ganze Nahrungskette in der Beringsee bis hinauf zum Menschen durcheinanderbringen. Im Sommer trifft nährstoffreiches Wasser aus dem Südwesten auf die gerade von der winterlichen Eisdecke befreite lichtdurchflutete Beringsee. Innerhalb kürzester Zeit entsteht so ein Schlaraffenland für die kleinsten Pflanzen im Meer, das Phytoplankton. Normalerweise sinkt das auf den Meeresboden und bietet dort reichlich Nahrung für Muscheln, Würmer und andere Schlammbewohner. Die wiederum werden direkt von großen Säugetieren wie Walen, Robben und Walrössern verspeist.
Auf die Muscheln und Würmer haben es die beiden Forscher mit ihrer Baggerschaufel abgesehen. Eine Winde zieht die Schaufel langsam wieder an Deck. Dort angekommen leeren Jackie Grebmeier und Lee Cooper sie in eine große Holzkiste mit einem Siebboden. Jackie Grebmeier nimmt einen Gartenschlauch und richtet den Wasserstrahl in das Sieb. Langsam löst sich der dunkelgraue Schlamm, sickert durch die Löcher und lässt seine Bewohner zurück. Die Forscherin deutet auf einige rosafarbene Tierchen, die aussehen wie Miniatur-Nordseekrabben. Grebmeier:
"Das hier sind Flohkrebse. Sie sind die Hauptnahrung von Grauwalen. Diese Krebse leben in senkrechten Röhren, die wie Strohhalme im Boden stecken, und kommen nur zum Fressen an die Oberfläche."
Fünf kleine Flohkrebse versuchen hektisch, sich in den letzten Resten des Schlamms vor dem Wasserstrahl zu verstecken. Neben ihnen liegen einige braune Muscheln und ein paar Borstenwürmer. Ansonsten lässt der Schlamm ein leeres Sieb zurück. Lee Cooper:
"”Die Zahl der Tiere im Schlamm hat in den letzten zehn Jahren sehr stark abgenommen und es kommen auf einmal andere Arten vor. Vor 15 Jahren noch haben wir genau an dieser Stelle Tausende von Flohkrebsen pro Quadratmeter gefunden, jetzt sind an vielen Stellen gar keine mehr, und hier sind es auch nur noch wenige Flohkrebse, ein paar Muscheln und einige andere Tiere. Wir haben in dieser Gegend dieses Jahr auch noch keine Wale gesehen. Ich denke es gibt einfach nicht mehr genug zu fressen für sie.""
Eigentlich müssten sich hier Hunderte von Grauwalen tummeln, erzählt Lee Cooper. Sie verbringen normalerweise den Sommer in der nördlichen Beringsee, bevor sie sich mit Flohkrebsen vollgefressen wieder auf den Weg Richtung Süden zur Baja California machen. Die Fettpolster, die sie sich im Sommer anfressen, müssen reichen für die lange Reise. In den letzten Jahren seien an der Westküste Amerikas aber immer wieder ungewöhnlich abgemagerte Grauwale beobachtet worden, sagt der Forscher. Gleichzeitig erzählten Jäger an der West- und Nordküste Alaskas auch von immer weniger Walrössern. Die ernähren sich in der Hauptsache von Muscheln im Schlamm.
Die Beringsee wird stark von der nördlich gelegenen Arktis beeinflusst. Jeden Winter wächst von dort eine Meereisdecke Richtung Süden, die den Ozean erst im Sommer wieder freigibt. Aber die Eisdecke verändert sich. Grebmeier:
"Das Meereis zieht sich im Frühjahr schneller nach Norden zurück, als jemals zuvor und im Herbst kommt es erst später wieder. Außerdem ist es dünner geworden. Beides verändert die Physik der kalten Wasserstellen, die viele Schlammbewohner hier oben zum Leben brauchen."
Ähnliche Beobachtungen wie Jackie Grebmeier macht auch Tom Weingartner. Der Ozeanograph von der Universität von Alaska in Fairbanks untersucht seit Jahrzehnten das Wasser, das von der Beringsee durch die Beringstraße in den arktischen Ozean fließt.
"Das Wasser ist deutlich wärmer geworden in den letzten drei vier Jahren und es enthält offensichtlich nicht mehr so viel Salz."
Für die steigenden Wassertemperaturen macht er die seit Jahrzehnten steigenden Lufttemperaturen in den nördlichen Breiten verantwortlich. Gleichzeitig schmelzen die Gletscher an der Westküste Alaskas heute doppelt so schnell wie noch vor 30 Jahren, der Niederschlag hat in einigen Regionen zugenommen und beides versorgt die Beringsee mit zusätzlichem Süßwasser. Nur ist das süße Wasser nährstoffärmer als das salzige, das hier normalerweise vorkommt. Und je wärmer das Wasser der Beringsee wird, desto weniger Eis bildet sich im Winter. Ohne ausreichend Eis und Nährstoffe wird das Leben für die Krebse und Muscheln im Schlamm unangenehm. Und nicht nur für sie.
"I am a marine mammal biologist for the state of Alaska.”"
Die Biologin Gay Sheffield hat sich auf Meeressäugetiere spezialisiert und arbeitet für die Regierung von Alaska.
"”Das Eis wird von einer ganzen Reihe von Meeressäugetieren genutzt. Als Rastplatz auf dem Meer, als Ort, an dem Eisbären, Robben und Walrösser ihre Jungen zur Welt bringen, und die Tiere nutzen es als Floß, um darauf von einer Futtergegend zur nächsten zu kommen. Das erspart ihnen jede Menge Energie, die sie fürs Schwimmen bräuchten."
Gleichzeitig sind viele Säugetiere in dieser Region angewiesen auf die Schlammbewohner als Nahrung. Aber die Muscheln, Würmer und Flohkrebse bekommen durch das warme Wasser Konkurrenz aus dem Süden. Das ganze System gerät durcheinander. Weingartner:
" Wenn sich das Eis zurückzieht und das Wasser wärmer wird, können hier im Frühjahr auch schon kleinste Tiere im Wasser überleben, das Zooplankton. Die ernähren sich von den kleinsten Pflanzen und Algen im Wasser, und schnappen damit den Schlammbewohnern ihre Nahrung weg. Wenn sich das Zooplankton hier oben ausbreitet, werden auch Fische folgen, denn die fressen wiederum das Zooplankton. Es kann also zu einer gewaltigen Veränderung der Nahrungskette in dieser Region kommen. Das zumindest erwarten die meisten Forscher.”"
Jetzt schon finden Jackie Grebmeier und ihre Kollegen immer öfter im nördlichen Teil der Beringsee Fischarten, die dort oben bisher nie vorkamen: den Alaska-Seelachs und den Buckellachs zum Beispiel. Beide Arten ernähren sich vom Zooplankton.
Der Eisbrecher steuert weiter nach Norden. Die Alëuten liegen seit fünf Tagen hinter dem Schiff. Die Temperaturen fallen mit jedem Tag, und Nebel wird zu einem ständigen Begleiter. Dann, eines Morgens lassen sich vom Schiff aus Schneefelder erahnen: Little Diomede. Die Insel ist der letzte Außenposten der USA vor der russischen Grenze. Ein Felsbrocken im Ozean, an dessen westlichem Fuß sich eine Handvoll Holzhütten am Hang entlang kauern. Etwa 150 Menschen leben hier. Es gibt eine Schule, eine Klinik, ein Rathaus und einen Helikopterlandeplatz – keinen Hafen, keine Straßen, keine Autos, nur steinige Pfade, die sich zwischen den Häusern hindurchziehen. Die Menschen hier – Iñupiat - leben hauptsächlich von der Jagd. Und dafür haben sie sich den besten Fleck überhaupt ausgesucht, sagt Gay Sheffield. Denn Little Diomede Island liegt mitten in der Beringstraße, die hier gerade einmal 80 Kilometer breit ist. Jeder Wal, jede Robbe und jedes Walross, das vom Pazifik in die Arktis schwimmt, muss durch diese Meerenge.
""Well, it’s smelly in here…."
Die Biologin Gay Sheffield ist oft auf Little Diomede Island und arbeitet eng mit den Jägern dort zusammen. Die meiste Zeit aber verbringt sie in ihrem Labor beim Amt für Fische und Wildtiere in Fairbanks. Gerade steht sie dort mit ihren Kollegen vor einem metallenen Labortisch auf dem ein glitschiges, rot-grünes, fußballgroßes Etwas liegt.
"We are examining stomach contents of beluga whales.”"
Sie untersuchten den Mageninhalt von Beluga-Walen, sagt die Laborassistentin Anna Brians und schneidet mit einem Seziermesser in die grüne Masse.
Jedes Mal wenn die Jäger auf Little Diomede Island ein Tier für den Eigenbedarf erlegen, schneiden sie einige Gewebestücke heraus, packen sie in Plastiktüten und schicken sie nach Fairbanks. Dort untersuchen Gay Sheffield und ihre Kollegen die Gewebe. Denn die Biologen versuchen herauszufinden, wie es den Säugetieren in der Beringsee geht, was sie essen, wie gesund sie sind und wie viel Nachwuchs sie bekommen. Ohne die Hilfe der Jäger wäre diese Arbeit unmöglich, denn für herkömmliche Untersuchungsmethoden leben die Tiere an viel zu schwer erreichbaren Stellen im eisbedeckten Meer. Gay Sheffield konzentriert sich vor allem auf die vier Robbenarten, die auf, im und unter dem Meereis leben. Das sind Largha-Robben, Band-, Bart- und Ringelrobben.
""Am ehesten könnten noch Largha-Robben und im übrigen auch Walrösser mit dem verschwindenden Eis klarkommen. Von beiden Arten wissen wir, dass sie sich auch auf Felsen und am Strand ausruhen. Bandrobben wiederum sind Langstreckenschwimmer und können tief tauchen. Ich denke, wenn sich das Eis weiter zurückzieht, könnten auch sie damit umgehen. Die größten Sorgen mache ich mir um Bartrobben und Ringelrobben. Bartrobben ruhen sich nur auf Eisschollen aus, an Land sieht man sie so gut wie nie. Und Ringelrobben bekommen ihre Jungen in einer Höhle im Eis. In Kanada haben wir jetzt schon ein paar Mal beobachtet, dass warme Temperaturen oder starker Regen die oberen Eisschichten weggeschmolzen und diese Höhlen freigelegt haben, so dass die Jungen Räubern und den Elementen ausgeliefert waren."
Noch gehe es aber allen vier Robbenarten relativ gut, sagt sie. Die Bestände seien stabil und die Geburtenraten vergleichsweise hoch.
"”Wenn sich das Eis weiter nach Norden zurückzieht, ist meiner Ansicht nach die entscheidende Frage: bleibt das Ökosystem so erhalten und wandert einfach mit nach Norden? Wenn das passiert, werden die Tiere erst mal folgen. Nur, was bedeutet das für die Menschen an der Küste, die von der Jagd leben? Sie werden nicht mehr an die Tiere herankommen! Ich denke, dass die Menschen hier oben viel schneller unter dem Klimawandel leiden werden als die Tiere. Denn die Tiere können im Moment noch mit dem Eis nach Norden wandern. Die Menschen nicht, sie sind auf die Küste angewiesen.”"
Der Eisbrecher steuert weiter gen Norden, durch die Beringstraße hindurch und hinein in den arktischen Ozean. Es ist neblig und die See schimmert dunkelgrau. Auf dem Vorderdeck ziehen die Seeleute die letzten lose herumliegenden Schaufeln und Stangen fest. Sie warten auf das Eis.
Dann, kurz vor dem Ende der Reise, ist es endlich soweit. Der rot angestrichene Bug malmt seinen Weg durch die erste tennisplatzgroße Eisscholle. Das Schiff ruckelt, als würde es sich über Steine schieben. Das erste Eis auf der ganzen Reise. Viel weiter nördlich als in den Jahren zuvor. Nach einer kurzen Runde durch die dünnen Eisschollen ist das Ziel erreicht und der Eisbrecher geht in Barrow vor Anker: der größten Stadt an der Nordküste Alaskas. Einen Hafen gibt es nicht, deshalb bringt ein Motorboot Mannschaft und Passagiere an Land.
Die meisten Menschen in Barrow sind Ureinwohner, für die die Jagd auf Robben, Walrösser und Wale bis heute die Lebensgrundlage darstellt. Die Tiere seien ein wichtiger Teil ihrer Kultur und Identität, sagt Arnold Brower. Der 85jährige Iñupiat-Eskimo ist Walfangkapitän in Barrow. Er sitzt in seinem Wohnzimmer vor Spitzengardinen und deutet auf ein Foto an der Wand, das ihn und seine Walfangmannschaft mit einem erlegten Grönlandwal zeigt. Brower:
"”Der Walfangkapitän ist eine lebenswichtige Institution für die Iñupiat-Kultur. Lange bevor es die Regionalbehörde, den Staat Alaska oder sogar die Vereinigten Staaten von Amerika gab, waren die Eskimos schon hier. Und sie haben überlebt durch den Wal. Das ist das wichtigste Tier für unsere Kultur und für unseren Lebensunterhalt. Die Aufgabe eines Walfangkapitäns ist es, eine Mannschaft zusammenzustellen und die Waffen auszusuchen für die Jagd im Frühjahr.""
Im Frühling jagen die Iñupiat Grönlandwale vom Meereis aus, indem sie an einigen Stellen große Löcher ins Eis schlagen und dann warten, bis die Wale dort zum Luftholen auftauchen. In den letzten Jahren allerdings sei auf das Eis kein Verlass mehr, sagt Arnold Brower. Immer wieder passierten Unfälle, weil die Eisdecke zu dünn sei und Jäger in den eisigen Ozean durchbrächen.
"”Früher, in meiner Kindheit, waren die Eismassen noch gewaltig. Die ganze Küstenlinie war jedes Jahr eisbedeckt, damals vor dem Krieg.""
Etwa zehn Kilometer außerhalb von Barrow arbeitet eine Gruppe von Archäologen daran, einen Friedhof freizulegen, den die Küstenerosion ins Meer zu spülen droht. Beschützt werden sie von Perry Anashugak. Er sitzt in einen dicken Fellparka gehüllt auf seinem Geländefahrzeug. Auf der Motorhaube liegt ein Gewehr.
"”Meine Aufgabe ist es, Bären zu beobachten. Wenn wir hier draußen am Point Barrow sind, halte ich mit meinem Fernglas Ausschau nach ihnen. Sehe ich einen Bär, warnen wir die Leute und versuchen, ihn zu vertreiben. Ich habe eine 338 Winchester Magnum. Mit dem Gewehr kann ich zwar keinen Bären umbringen, aber ich kann ihn verscheuchen.""
Perry Anashugak ist der offizielle Bärenwächter in Barrow. Allein heute hat er sich schon zwei Mal mit seinem Gewehr auf den Weg gemacht, um Eisbären von den Forschern fern zu halten. Stolz deutet er auf das dicke weiße Eisbärfell am Kragen seiner Jacke. Selbst erlegt, sagt er. Genauso wie Arnold Brower wohnt er in einem der staubbedeckten Holzhäuser von Barrow. Rundherum keine Bäume, keine Sträucher - noch nicht einmal Gras hält sich in der Stadt. Wenn sich hier im Sommer der Schnee zurückzieht, hinterlässt er grauen Boden. Sobald es windet – und das tut es fast unablässig - wird Boden aufgewirbelt und legt sich als feine Staubschicht auf Häuser, Autos und Menschen. Die triste Ansammlung von Holzhäusern und Schotterstraßen ist die größte Stadt an der Nordküste Alaskas: das Finanzzentrum und gleichzeitig Sitz der Regionalbehörde. In einem unscheinbaren Gebäude hinter dem Supermarkt hat Geoff Carroll sein Büro.
"” Ich bin der Gebiets-Biologe vom Amt für Fische und Wildtiere in Alaska. Das ist ein Ein-Mann-Büro und ich bin allein für etwa 56.000 Quadratmeilen verantwortlich. Im Prinzip habe ich mich um alle Landsäugetiere an der Nordwestspitze Alaskas zu kümmern.""
Eisbären verbringen den größten Teil ihres Lebens auf dem Eis und fallen damit strenggenommen nicht in Geoff Carrolls Aufgabengebiet, auch wenn sie gelegentlich den Strand von Barrow unsicher machen. Aber das könnte sich in Zukunft ändern, befürchtet der Biologe. Carroll:
"”Eisbären haben immer vom Rand des Eises aus gejagt, der über relativ flachem und an Beutetieren reichem Wasser lag. Aber je weiter sich das Eis nach Norden zurückzieht, desto tiefer und leerer wird das Meer unter dem Eisrand. Ihr Lebensraum im Eis verschwindet und das könnte sie zwingen, verstärkt an Land zu kommen. Wer weiß, was dann passiert?”"
Unter Forschern ist das mögliche Schicksal der Eisbären in der Arktis umstritten. Die einen befürchten, dass der Rückzug des Eises zum Aussterben der Tiere führen wird. Andere wiederum halten die Eisbären für so anpassungsfähig, dass ihnen eine Rückkehr an Land gelingen könnte. Geoff Carroll ist sich nicht sicher, welcher Meinung er sich anschließen soll. Nur, fügt er hinzu, an Land könnten sie Konkurrenz aus dem Süden bekommen. Carroll:
"”Ich habe keine verlässlichen Zahlen über die Grizzlybär-Population hier oben, aber allein von der Anzahl der Beschwerden von Leuten, in deren Hütten Bären eingedrungen sind, könnte man darauf schließen, dass sich hier mehr Grizzlies herumtreiben als früher. Es scheint gut zu laufen für die Grizzlies.”"
Das könnte nicht nur den Eisbären, sondern auch einer anderen Tierart zum Verhängnis werden: den Moschusochsen. Sie waren im 19. Jahrhundert schon einmal in ganz Alaska ausgerottet und sind dann Anfang der siebziger Jahre wieder an der Nordküste angesiedelt worden. Zuerst mit großem Erfolg. Vor zehn Jahren war die Population auf 800 Tiere angewachsen, von denen ein Großteil im Arctic National Wildlife Refuge, einem Schutzgebiet lebte. Geoff Carroll:
"”Dann sind es plötzlich immer weniger Tiere geworden. Vor zwei Jahren haben wir noch mal eine Bestandsaufnahme im Arctic National Wildlife Refuge durchgeführt. Dabei hat man nur noch einen einzigen Moschusochsen gefunden, und der ist kurz danach auch noch von einem Bären gefressen worden.""
Geoff Carroll sitzt an seinem über und über mit Landkarten und Papierstapeln besäten Schreibtisch in einem engen, muffigen Büro und schüttelt traurig den Kopf. Jetzt seien in seinem gesamten Gebiet nicht einmal mehr 250 Tiere übrig.
"”Einer der Faktoren für den Rückgang der Moschusochsen sind sicher Bären. Bis vor sechs, acht Jahren haben sich die Bären nicht weiter für die Moschusochsen interessiert. Es war ja eine wiedereingeführte Art und sie wussten anscheinend nicht, was sie mit den Ochsen anfangen sollten. Aber dann haben die Bären auf einmal herausbekommen, dass sich Moschusochsen ziemlich leicht umbringen lassen.”"
"So we are walking through the main area for all the barns and all the facilities at LARS and on our left we have…”"
500 Kilometer weiter südlich erstrecken sich statt staubiger Ebenen sattgrüne Hügel, bedeckt von undurchdringlichen Nadelwäldern. Auf einem großen Farmgelände führt Perry Barboza durch die Großtierforschungsstation der Universität von Alaska in Fairbanks: ein altes, braun angestrichenes Holzhaus, daneben ein Schuppen. Drumherum zahlreiche Gehege. Hinter ihnen beginnt der Wald.
"" Geradeaus ist unsere Arbeitsscheune und daneben sehen Sie einen Bullen, der gerade in seine Brunftzeit kommt."
Der angesprochene Moschusochsenbulle Zane steht einige Meter von Perry Barboza entfernt mit gesenktem Kopf hinter dem mannshohen Zaun und scharrt mit den Hufen im Gras. Dann kommt er langsam näher und stößt mit seinem gewaltigen fellbehangenen Kopf und den Hörnern immer wieder gegen den Metallzaun.
Der Besuch scheint ihm nicht zu gefallen.
"”Das teuerste daran, diese Jungs zu halten, ist das Zaunmaterial. Die Kosten für ihr Fressen sind nichts verglichen mit dem Schaden, den sie dem Gehege zufügen, wenn sie versuchen, ihr Gegenüber einzuschüchtern.""
Auf der alten Farm in Fairbanks untersuchen Perry Barboza und seine Kollegen, wie Moschusochsen Nahrung in Körpergewebe und Nachwuchs umsetzen. Zane und seine Artgenossen benutzen dafür einen Trick, der sich allerdings in einem wärmeren Klima als ausgesprochen ungünstig erweisen könnte. Barboza:
"Im Herbst werden sie plötzlich fett wie Bären, und dabei fressen sie keinen Lachs sondern verrottendes Gras und Seggen – das ist wirklich ungewöhnlich. Gleichzeitig trinken sie eiskaltes Wasser und fressen Schnee. Bei Temperaturexperimenten haben wir herausgefunden, dass ihre innere Körpertemperatur dabei um bis zu 14 Grad Celsius fällt. Sie verpassen sich also selber einen Kälteschock.”"
Moschusochsen haben in ihrem Verdauungstrakt Mikroorganismen, die in der Lage sind, viel Energie aus dem Gras herauszuholen. Dabei produzieren sie gleichzeitig viel Wärme. Deshalb kühlen die Tiere ihre Verdauungsorgane mit Schnee und Eiswasser. Barboza:
"”Wenn die Sommertemperaturen steigen, überhitzen Moschusochsen sowohl von außen als auch von innen. Das könnte sie dazu zwingen, bestimmte Gegenden sehr schnell zu verlassen. Hier in Gefangenschaft ziehen sich unsere Tiere schon in den Schatten zurück, sobald es wärmer als 15 Grad wird. Aber an den fiesesten, kältesten Tagen, wenn sich sonst niemand vor die Tür traut, sind sie glücklich. Sie mögen schlechtes Wetter.”"
Und genau das könnte ihr Problem werden. Dieser Ansicht ist auch Perry Barbozas Kollege Kris Hundertmark vom Institut für die Biologie der Arktis in Fairbanks.
"”Moschusochsen haben keine Ausweichmöglichkeiten mehr. Sie können nicht noch weiter nach Norden ziehen. Sie sind ja schon ganz im Norden. Moschusochsen werden definitiv zu den Verlierern des Klimawandels gehören."
Das Leben in der Arktis verändert sich. Es wird Verlierer des Klimawandels geben, wie Zane und seine Artgenossen. Es wird aber auch Gewinner geben. Die Frage ist immer, zu welcher Gruppe man selbst gehört.