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Von Natur- zu Vernunftgeschöpfen

Ihr Kerngedanke lautete "Vom Kind her denken". Kinder sollen die Welt in größtmöglicher Freiheit selbst erfahren können. Die italienische Ärztin und Pädagogin Maria Montessori stellte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegen die damaligen autoritären Erziehungsprinzipien. Ihr Lernkonzept wird in der ganzen Welt nicht nur in Montessori-Kindergärten und Schulen beherzigt.

Von Jacqueline Boysen |
    "Vom Kind her denken", lautet der Kerngedanke der italienischen Ärztin und Pädagogin Maria Montessori. Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts setzte sie autoritären Erziehungsprinzipien ihren reformpädagogischen Ansatz entgegen. Das Kind folge bei der Entfaltung seiner Persönlichkeit und der allmählichen Lösung von den Erwachsenen in seiner Umgebung einem eigenen "inneren Bauplan": es müsse so aufwachsen, dass es seine Kenntnis über die Welt und das Leben in größtmöglicher Freiheit selbst erfahre. "Hilf mir, es allein zu tun!", - diesen Satz legt sie den Kindern in den Mund. Erwachsene wiederum sollen sich in die Rolle der Begleiter fügen, und im Prozess der Selbsterziehung des Individuums assistieren, nicht aber dominieren.

    Maria Montessori hat als junge Ärztin zunächst geistig behinderte Kinder betreut. Entgegen der landläufigen Meinung nahmen ihre vielfach zurückgebliebenen Schützlinge durchaus Anregungen auf und zeigten Konzentrations- und Lernfähigkeit - sofern angemessen auf sie eingegangen wurde. Maria Montessori erkannte den "in ihrer Seele schlummernden Menschen" und weckte die unerkannten Neigungen der kranken und behinderten Kinder.

    Sie entschloss sich zu einem Pädagogik-Studium und eröffnete schließlich in Rom ein erstes eigenes Kinderhaus. Hier erarbeitete sie ihre anthropologisch-pädagogischen Vorstellungen von der Entwicklung der Kinder von "Naturgeschöpfen" hin zu "Vernunftgeschöpfen" - eine Theorie, die bis heute nicht allein in Montessori-Kindergärten und Montessori-Schulen in der ganzen Welt beherzigt wird.

    Babys oder Kleinkinder erwerben sich nach Montessori Kenntnisse von der Welt - wohl sind sie noch angewiesen auf die Mutter, aber sie fordern mit jedem kleinen Entwicklungsschritt ein bißchen mehr Unabhängigkeit von den Erwachsenen in ihrer Umgebung. Die Lebensphasen der Kinder begreift Maria Montessori stets ganzheitlich und sieht in der natürlichen Entwicklung ein fortwährendes Streben nach Einheit, zunächst zwischen Mutter und Kind, schließlich zwischen der Welt und dem Kind.

    Das Kind hat das Bedürfnis, sich der Welt zu bemächtigen - geführt von seiner individuellen Lebensenergie. Jedes Kind ist bestrebt, sich der Umwelt anzupassen, Sprache und Bewegung zu erlernen, aber jedes Kind folgt dem eigenen Tempo und Rhythmus. Dabei nehmen die Kinder dank ihres "absorbierenden Geistes" zunächst unterschiedslos alles auf, was ihnen die Umwelt bietet, ohne Kriterien von gut und böse, richtig oder falsch. In einer ungestörten Entwicklung probieren sie, scheitern, erkennen und erarbeiten sich Kriterien selbst - sofern man ihnen den Freiraum dazu läßt. So fällt in Montessori-Kindergärten die fast kontemplative Stille auf, wenn die Kinder hochkonzentriert ihren Experimenten folgen, und ihre Selbständigkeit, wenn sie Geschirr abräumen oder auch mal in Scherben Gegangenes ganz allein wegfegen - ohne Ermahnung, in großem Ernst und um einen kleinen Entwicklungsschritt gewachsen.

    Die von Maria Montessori beschriebene Form der Selbsterfahrung der Wirklichkeit stellt besondere Anforderungen an eine kindgerechte Umgebung wie auch an Eltern oder Erzieher. Die Lehrerinnen, wie Maria Montessori die Erzieherinnen in Ihren Kinderhäusern verstanden wissen wollte, sollen sich als Lehrende zurücknehmen. Ihr Wissens- und Erfahrungsvorsprung wird zwar in der Entwicklung der Kinder genutzt, aber Erwachsenen ist Diskretion geboten, Erklärungen werden eher vom Kind abgerufen und weniger vom Erwachsenen angeboten. Lernen sieht Maria Montessori als Prozess, in dem sich das Kind oder auch der Lernende, aber auch der Lehrende stets selbst neu erfinden.