Zur Terrorszene in der Türkei Jürgen Gottschlich:
Eigentlich hatte man geglaubt, islamistische terroristische Zellen in der Türkei gäbe es gar nicht mehr. Islamistischer Terror war ein Phänomen der frühen 90er Jahre und er spielte sich hauptsächlich im kurdisch besiedelten Südosten der Türkei ab. Bekannt wurden vor allem zwei gewalttätige islamistische Gruppen:
Die IBDA/C "Die Front der Vorkämpfer für einen Großen Islamischen Osten", und die Hizbullah, die zwar genauso heißt, wie die Gruppe im Libanon, mit dieser aber keinen Zusammenhang hat. Als größere Organisation galt immer die Hizbullah, auf deren Konto auch wesentlich spektakulärere Morde gehen als auf das der IBDA/C. Ursprünglich unterschieden sich die beiden Organisationen aber vor allem durch ihre ideologische Ausrichtung: Während die IBDA/C eine streng sunnitische Organisation war, die gegen die Ungläubigen in den islamischen Ländern kämpft und die kemalistische Türkei zur Zielscheibe machte, hatte die Hizbullah immer gute Kontakte zum schiitischen Iran.
Hizbullah entstand Ende der 80er Jahre mit mindestens passiver Duldung der Polizei vor Ort, als so genannte Konterguerilla gegen die linke kurdische PKK. Das erklärte Ziel der Hizbullah war zunächst ein kurdischer Gottesstaat im Südosten der Türkei. Hizbullah konzentrierte sich auf die PKK und ihre vermeintlichen oder tatsächlichen Sympathisanten. In der Hochphase des Bürgerkrieges, von 1991 bis 1996, wurden allein in Batman, der Hochburg der Hizbullah über 600 Menschen ermordet. Viele dieser Morde gingen auf das Konto der Hizbullah. Später verlegte sich die Gruppe auf Entführungen und Erpressungen gemäßigter Islamisten, von denen sie etliche ermordete.
Als Hochburgen der Islamisten galten die Städte Bingöl und Batman, beide im Südosten nicht allzu weit von der kurdischen Metropole Diyarbakir entfernt. In Batman verbreitete die Hizbullah über Jahre Angst und Schrecken. Ihre Führungsleute waren identisch mit einem der kurdischen Stämme in der Region, dessen Angehörige dann auch für die Hizbullah rekrutiert wurden.
Als die Polizei, nachdem die PKK ihren bewaffneten Kampf im Jahr 2000 für beendet erklärt hatte, dann massiv gegen die Islamisten vorging, erschoss sie den Chef der Hizbullah, Orhan Vali, als er sich in einem Versteck im Istanbuler Bezirk Beykoz einer Verhaftung widersetzte. Im Anschluss entdeckte die Polizei dann in einem ihrer Verstecke die gesamte Mitgliederkartei und konnte etliche "Todeshäuser" der Hizbullah identifizieren, in deren Keller Opfer der Organisation vergraben waren.
Die Fahrer der beiden Kleinlaster, die sich bei den Anschlägen auf die Synagogen am letzten Samstag selbst in die Luft sprengten, sind mittlerweile beide identifiziert. Sie kommen beide aus Bingöl. Sechs weitere Personen aus ihrem Umfeld in Bingöl wurden gestern in Haft genommen, zwei weitere Komplizen aus Bingöl, die die Todeslaster anmieteten, sind ins arabische Ausland geflüchtet. Auch die Selbstmordattentäter sollen aus demselben Umfeld von IBDA/C und Hizbullah kommen und ebenfalls aus Bingöl stammen.
Die türkische Polizei ist deshalb im Moment mit zwei unliebsamen Überraschungen konfrontiert: zum einen, dass sowohl IBDA/C wie auch Hizbullah offensichtlich noch existieren, vielleicht sogar mittlerweile zusammenarbeiten. Zum zweiten, dass diese Splittergruppen sich anscheinend als lokale Al-Kaida Basen haben rekrutieren lassen und nun das Fußvolk für ein übergeordnetes internationales Netzwerk darstellen, welches die Ziele, das Geld und das Know-how für die Terroranschläge liefert. Eine Gefahr, die als längst erledigt galt, ist damit in umso schlimmerer Form zurückgekehrt.
Schauplatz der Gewalt - Schauplatz der Bombenanschläge, das sind in erster Linie islamische Länder. Der Aktionsradius der Terroristen erstreckt sich vom Pazifik bis zum Mittelmeer - von Indonesien bis nach Tunesien.
Eine Chronologie des Terrors von Brigitte Helfer:
11. April 2002: Auf der tunesischen Ferieninsel Djerba reißt ein Selbstmordattentäter bei einem Sprengstoffanschlag auf eine Synagoge 21 Menschen mit in den Tod, darunter 14 Deutsche.
12. Oktober 2002: Insgesamt 202 Menschen - vorwiegend Australier - werden auf der indonesischen Insel Bali bei Bombenanschlägen auf zwei Diskotheken getötet. Es ist das bislang folgenreichste Attentat seit dem 11. September.
28. November 2002: Drei Selbstmordattentäter sprengen ein Auto vor einem überwiegend von Israelis besuchten Hotel nahe der kenianischen Küstenstadt Mombasa in die Luft. Die Bilanz: 17 Tote. Beinahe zur gleichen Zeit feuern Terroristen Raketen auf ein startendes israelisches Flugzeug - verfehlen allerdings ihr Ziel.
12. Mai 2003: In der saudischen Hauptstadt Riad kommen 35 Menschen bei einer Serie von Bombenanschlägen ums Leben.
Nur wenige Tage später, am 16. Mai, verlieren bei fünf fast zeitgleichen Anschlägen in Casablanca (Marokko) 45 Menschen ihr Leben - darunter 12 Selbstmordattentäter.
Am 8. November verüben Terroristen wieder einen Bombenanschlag auf eine Ausländer-Wohnanlage in Riad. 18 Menschen werden getötet.
Eine Woche danach, am 15. November, explodieren in Istanbul Autobomben vor zwei Synagogen. Die Folge: 25 Tote.
Und gestern erlebte die türkische Wirtschaftsmetropole weitere Bombenanschläge, bei denen mindestens 27 Menschen umkamen.
Dabei nicht aufgelistet ist die Serie blutiger Attentate im Irak, Attentate, die allein seit August dieses Jahres rund 200 Menschenleben forderten. Besonders spektakulär: die Bombenexplosion vor dem UN-Hauptquartier in Bagdad und - am Mittwoch vergangener Woche erst - der Anschlag auf italienische Soldaten im Südirak.
Die Schlacht gegen Saddam haben die Amerikaner gewonnen, doch der Krieg im Irak ist - wie es scheint - noch lange nicht zu Ende. Das Aufbegehren gegen die Besatzungsmächte - gegen Amerikaner, Briten, Italiener - fordert täglich neue Opfer. Ist das der lange Arm Saddams? Sind es militante Islamisten, die da Bomben legen, Selbstmord-Attentäter in Marsch setzen? Welche Rolle spielt Al-Kaida?
Clemens Verenkotte über mögliche Hintermänner und Hintergründe der Gewalt im Irak:
Die jüngsten Terroranschläge in der Türkei, Saudi-Arabien und im Irak deuten nach Erkenntnissen westlicher und arabischer Sicherheitsdienste auf eine neue, gefährliche Weiterentwicklung der Al-Kaida hin: Die Attacken seien von lokalen, kleineren Terrorgruppierungen verübt worden, deren Anführer der mittleren Führungsebene der Al-Kaida angehörten. Diese Personen seien überwiegend in den Al-Kaida Trainingslagern in Afghanistan ausgebildet worden - schätzungsweise durchliefen von 1995 bis 2001 rund 20.000 Extremisten diese paramilitärische Kaderschulung - und hätten sich nach der Zerschlagung der Camps durch die USA im Herbst vor zwei Jahren von der Führungsebene emanzipiert. Die lokalen neuen Anführer würden ihre Kenntnisse an die übrigen Gruppenmitglieder weitergeben, wie man etwa Internet-Botschaften verschlüsselt sowie Sprengstoffbomben herstellt. In den Irak, so glauben die US-Militärs in Bagdad, seien nach Kriegsende rund 2000 ausländische Kämpfer eingedrungen, die dort Kontakt zu ehemaligen Mitgliedern des irakischen Geheimdienstes sowie des zerschlagenen Sicherheitsapparats von Saddam Hussein aufgenommen hätten. Diese Einschätzung wird vom Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes August Hanning bestätigt:
Wir erkennen in der Tat Glaubenskämpfer, islamistische Extremisten, die sich in den Irak begeben haben, um dort den Krieg gegen die Ungläubigen mit auszufechten. Wir haben dies schon beobachtet zu Beginn des Irak-Krieges und wir sehen das jetzt.
Zumindest bei einigen der jüngsten Anschläge auf ausländische Ziele im Irak sei eine Mittäterschaft der Al-Kaida nachweisbar, erklärt der neue Geheimdienst-Chef im irakischen Innenministerium. So sei der Bombenanschlag auf das UN-Hauptquartier in Bagdad vom August entweder von der Al-Kaida oder von Ex-Geheimdienst-Mitarbeitern Saddam Husseins, die Kontakte zur Al-Kaida im Irak hätten, geplant worden. "Wir haben die US-Streitkräfte darüber informiert, dass vier Gruppen an dem UN-Anschlag beteiligt waren. Keine der Gruppen wusste von der Existenz der anderen, aber es gab eine zentrale Koordinierung," so der neue irakische Geheimdienst-Chef wörtlich. US-Kommandeure im Irak unterscheiden zwischen den nahezu täglichen Angriffen auf ihre Soldaten, bei denen überwiegend Granatwerfer und Raketen eingesetzt werden, und den wesentlich verheerenderen Selbstmord-Attacken, etwa auf die italienischen Carabinieri, die internationalen Hilfsorganisationen oder irakische Polizeistationen. So vermuten die amerikanischen Sicherheitsdienste, dass Saddam Hussein Loyalisten ausländische Extremisten anheuern, um die tödlichen Selbstmord-Anschläge zu verüben, die dann für die weltweiten Schlagzeilen und Fernsehbilder sorgten. Der Irak sei zwar für die Al-Kaida gegenwärtig das Hauptkampfgebiet. Doch nach Auffassung eines britischen Antiterror-Experten von der Saint Andrews Universität in Schottland zielt das Terrornetzwerk auf die so genannten "weichen Ziele" und zwar, so wörtlich, "an jeder Flanke und mit allen Mitteln."
Manche Experten überlegen nicht lange, sind mit Urteilen schnell bei der Hand. Kommt es irgendwo auf dem Globus zu einem Terroranschlag, dann kann ihrer Meinung nach Al-Kaida nicht weit sein, müssen Osama bin Ladens Leute darin verstrickt sein. Ist Osama bin-Laden der Übervater des Welt-Terrorismus? Fakten und Anmerkungen zu Al-Kaida von Claudia Sanders:
Es scheint keinen Zweifel zu geben: Die Anschläge in der Türkei gehen augenscheinlich auf das Konto der Al-Kaida, so wie bei den meisten Attentaten seit dem 11. September 2001 mit einem extremistisch islamistischen Hintergrund Osama Bin Laden als Drahtzieher ausgemacht worden ist. Der Terrorismusexperte Erich Schmidt-Enboom:
Sie tragen eindeutig die Handschrift dieser Terror-Organisation, einmal was die Professionalität der Anschläge betrifft und zum zweiten natürlich die politische Stoßrichtung, denn es ist ja kein Zufall, dass es parallel zum Besuch des amerikanischen Präsidenten in London passiert.
Nach den Anschlägen vom 11. September musste sich die Al-Kaida umstrukturieren - denn ihre Mitglieder stehen weltweit auf den Fahndungslisten. Statt einer festen Gruppe bildete sich ein lockerer Zusammenschluss, meint Walter Laqueur vom Washingtoner Center for International Studies:
Al-Kaida war im Grunde eine Koalition von vier oder fünf oder sechs Gruppen aus den verschiedenen Ländern: Pakistan, Ägypten vor allem - und dann auch der Mann Bin Laden, der aus Saudi Arabien kam. Aber, das war, um es noch einmal zu sagen, eine lose Föderation gegen die Kreuzritter, also, gegen die Christen und gegen die Juden. Es war nicht so, dass man im einzelnen abstimmte. Die verschiedenen Gruppen hatten ihre eigene Agenda. Sie taten Dinge, von denen Bin Laden wahrscheinlich wenig oder gar nichts wusste.
Osama Bin Laden als geistiger Kopf, als Mentor und Spiritus Rector einer übergeordneten Idee. Deshalb sei es auch nicht wesentlich, ob er noch lebe. Bin Laden habe Strukturen geschaffen, die nun eigenständig existieren, erklärt der stellvertretende Direktor des Essener Instituts für Terrorismusforschung Kai Hirschmann:
Al-Kaida war ursprünglich eine Art Terror-Dachverband, unter dem sich verschiedene Mitgliedsgruppen, aber auch unverbundene Kämpfer, die so genannten "non-align-Mujaheddin", zusammengeschlossen hatten, aber mit einer Art Zentralfunktion, Supervisor-Funktion der Al-Kaida-Führung unter Osama bin Laden und Ayman al Zawahiri. Durch das teilweise Ausschalten der Führungsstrukturen von Al-Kaida - das heißt: Sie können nicht mehr offen operieren; sie müssen sich verstecken; sie können nicht mehr kommunizieren - ist jetzt eine Art Lizenzverfahren angelaufen, dass diejenigen Leute, die in Afghanistan ausgebildet worden sind, in ihre Heimatstaaten zurückgegangen sind und dort in Lizenz die Idee und auch den Terrorismus von Al-Kaida sozusagen vertreiben.
Terrorismus als ein Verkaufsprodukt, dessen sich jeder bedienen kann, der Willens ist mit solchen Methoden vorzugehen. Anschläge lassen sich so nur schwerlich definitiv einer Tätergruppe zuordnen. Aber einen Hinweis gäbe es schon, der die mögliche Herkunft des Täters erkennen lasse:
Man kann einen Anschlag, den Al-Kaida-Mitglieder oder Sympathisanten, also ausgebildete Al-Kaida-Kämpfer verübt haben, sehr deutlich von einem Anschlag unterscheiden, den emotionalisierte Trittbrettfahrer oder emotionalisierte Gewalttäter ausgeführt haben, an der Machart. Al-Kaida weiß genau, mit welcher Menge Sprengstoff zu welchem Zeitpunkt man in ein Objekt hineinfahren oder den Sprengstoff hineinbringen muss, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen. Das hat man auf Djerba gesehen, wo im Prinzip die Gebäude intakt gelassen worden sind, sondern nur dann der innere Bereich der Synagoge ausgebrannt ist. Man hat es in Mombasa gesehen, wo in der Hotelhalle ein maximaler Schaden angerichtet worden ist, aber ansonsten das Umfeld intakt gelassen worden ist.
Das trifft allerdings nicht auf die Anschläge in der Türkei zu: Auch die Nachbarschaft der bombardierten Gebäude ist verwüstet. Und Hirschmann setzt eine Definition voraus, die erstmalig in den 70er Jahren - noch zu Zeiten des RAF-Terrors entstanden ist: Die Unterscheidung in Beteiligte und Unbeteiligte. Zum einen potenzielle Opfer, die aus Sicht der Täter das Feindbild schlechthin sind, und zum anderen diejenigen, die möglichst nicht bei einem Anschlag verletzt werden sollen. Doch diese "Genauigkeit" fehlt bei den Attentaten in der Türkei. Und noch etwas ist außergewöhnlich für Al-Kaida: Die Terroristen haben sich zu dem Attentat bekannt, statt wie bisher zu schweigen.
"Das war die alte Al-Kaida, weil Osama Bin Laden wegen seines Reichtums nie dazu gezwungen war, sich zu refinanzieren also, Geld zu mobilisieren nach erfolgreichen Anschlägen.
Inzwischen ist die Kommunikation innerhalb dieses Netzwerkes durch die westlichen Nachrichtendienste relativ stark eingeschränkt. Um sich an die Massen zu wenden und um innerhalb des Netzwerks zum Teil öffentlich zu kommunizieren, finden wir jetzt Bekennerschreiben, Bekenneranrufe."
Doch was verbindet denn nun diese zahlreichen Einzeltäter, welche Logik verbirgt sich hinter dem Terror?
Es gibt natürlich ein Hauptziel, und das ist die Errichtung von Gottesstaaten in sämtlichen arabischen Nationen. Und da richtet sich natürlich die Stoßrichtung gegen die Staaten, die am nachhaltigsten für die Fremdbestimmung arabischer Länder zuständig sind. Das sind die USA und Großbritannien im Irak, in Afghanistan, und das ist natürlich Israel in Palästina.
Die verschiedenen Gruppen sind - bis auf diesen Minimalkonsens - durchaus unterschiedlich. Dass sie sich dennoch "einig" zeigen, sei eine neue Entwicklung.
Das ist der Trend des letzten Jahres, dass offensichtlich die ideologischen Differenzen beigelegt werden zugunsten des gemeinsamen Kampfes, einer gemeinsamen Großoffensive.
Dass es eine direkte Verbindung zwischen beispielsweise einem Terroristen in Indonesien und einem in Saudi-Arabien gibt, darf bezweifelt werden. Denn der massive Fahndungsdruck der Geheimdienste habe das Verhalten der islamistischen Extremisten verändert.
Die reden miteinander; die schicken Boten. Sie nutzen nur im Ausnahmefall sehr moderne im Internet mögliche Kommunikationsstrukturen. Aber das Klassische ist zeitaufwendige, mündliche Kommunikation. In Afghanistan hatten wir zeitweise sogar das Phänomen, dass um Osama Bin Laden mit Landwirtschaftsfunk aus Australien kommuniziert hat, das heißt, jenseits der Bandbreite dessen, was die NSA abgehört hat.
Statt Internet und Handy, Brieftauben und reitender Bote: Da nützen den Geheimdiensten auch die neusten Technologien herzlich wenig. Spitzel in diese kleinen unabhängig voneinander agierenden Zellen einzuschleusen ist fast ein Ding der Unmöglichkeit. Und so bedienen sich die Agenten einer anderen Methode. Hartwig Möller, der Chef des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes, erläuterte vor kurzem, wie deutsche Sicherheitsdienste Gefahren "berechnen".
"Das sind nur Schätzungen, die auf Grund rein statistischer Überlegungen stattfinden. Man kann einfach ausrechnen, wie viele Personen sind durch diese Ausbildungslager in Afghanistan oder Pakistan gegangen - da werden Zahlen genannt zwischen Fünfzig- und Siebzigtausend -, und wenn man die dann in Verbindung bringt zur Anzahl der Muslime in Nordrhein-Westfalen oder in Deutschland, zur Zahl der Muslime, die möglicherweise Gewalt antun wollen, dann kommt man natürlich zu rein statistischen Spekulationen. Das sind also rein statistische Schätzungen, mit allen Ungewissheiten, die eine statistische Schätzung eben hat: Es kann stimmen, es muss nicht stimmen."
Zwar steht Deutschland auch auf der Liste möglicher Anschlagsziele der Al-Kaida - jedoch nicht ganz oben. Es bestehe eine "latent hohe" Gefahr, erklärte gestern der Präsident des Bundesnachrichtendienstes, August Hanning. Konkrete Hinweise gäbe es aber nicht. Neben möglichen Selbstmordattentätern drohe den Europäern noch eine andere Gefahr, meint Schmidt-Enboom:
Das größte Risiko besteht darin, dass Al-Kaida so genannte Hit and Run Teams einsetzt, um Terroranschläge zu verüben, denn zum einen verfügt die Organisation ja über eine sehr gute, auch nachrichtendienstliche Logistik, kann also falsche Identitäten, Pässe und dergleichen herstellen. Zum anderen gibt es relativ offene Grenzen in Europa, beispielsweise den Seeweg über Italien und Spanien, so dass man immer befürchten muss, dass durchaus Teams einreisen, ausspähen, Anschläge verüben und dann wieder abtauchen, soweit es sich nicht um Selbstmordattentate handelt.
Natürlich sei die akribische Arbeit die Geheimdienste das beste Mittel weitere Terroranschläge zu verhindern. Daran besteht für Hartwig Möller kein Zweifel. Das alleine, reiche aber nicht immer.
Und dann braucht man auch eben manchmal Glück, um jemanden zu finden, der sich so verhält wie die Personen, um die es hier geht.
Eigentlich hatte man geglaubt, islamistische terroristische Zellen in der Türkei gäbe es gar nicht mehr. Islamistischer Terror war ein Phänomen der frühen 90er Jahre und er spielte sich hauptsächlich im kurdisch besiedelten Südosten der Türkei ab. Bekannt wurden vor allem zwei gewalttätige islamistische Gruppen:
Die IBDA/C "Die Front der Vorkämpfer für einen Großen Islamischen Osten", und die Hizbullah, die zwar genauso heißt, wie die Gruppe im Libanon, mit dieser aber keinen Zusammenhang hat. Als größere Organisation galt immer die Hizbullah, auf deren Konto auch wesentlich spektakulärere Morde gehen als auf das der IBDA/C. Ursprünglich unterschieden sich die beiden Organisationen aber vor allem durch ihre ideologische Ausrichtung: Während die IBDA/C eine streng sunnitische Organisation war, die gegen die Ungläubigen in den islamischen Ländern kämpft und die kemalistische Türkei zur Zielscheibe machte, hatte die Hizbullah immer gute Kontakte zum schiitischen Iran.
Hizbullah entstand Ende der 80er Jahre mit mindestens passiver Duldung der Polizei vor Ort, als so genannte Konterguerilla gegen die linke kurdische PKK. Das erklärte Ziel der Hizbullah war zunächst ein kurdischer Gottesstaat im Südosten der Türkei. Hizbullah konzentrierte sich auf die PKK und ihre vermeintlichen oder tatsächlichen Sympathisanten. In der Hochphase des Bürgerkrieges, von 1991 bis 1996, wurden allein in Batman, der Hochburg der Hizbullah über 600 Menschen ermordet. Viele dieser Morde gingen auf das Konto der Hizbullah. Später verlegte sich die Gruppe auf Entführungen und Erpressungen gemäßigter Islamisten, von denen sie etliche ermordete.
Als Hochburgen der Islamisten galten die Städte Bingöl und Batman, beide im Südosten nicht allzu weit von der kurdischen Metropole Diyarbakir entfernt. In Batman verbreitete die Hizbullah über Jahre Angst und Schrecken. Ihre Führungsleute waren identisch mit einem der kurdischen Stämme in der Region, dessen Angehörige dann auch für die Hizbullah rekrutiert wurden.
Als die Polizei, nachdem die PKK ihren bewaffneten Kampf im Jahr 2000 für beendet erklärt hatte, dann massiv gegen die Islamisten vorging, erschoss sie den Chef der Hizbullah, Orhan Vali, als er sich in einem Versteck im Istanbuler Bezirk Beykoz einer Verhaftung widersetzte. Im Anschluss entdeckte die Polizei dann in einem ihrer Verstecke die gesamte Mitgliederkartei und konnte etliche "Todeshäuser" der Hizbullah identifizieren, in deren Keller Opfer der Organisation vergraben waren.
Die Fahrer der beiden Kleinlaster, die sich bei den Anschlägen auf die Synagogen am letzten Samstag selbst in die Luft sprengten, sind mittlerweile beide identifiziert. Sie kommen beide aus Bingöl. Sechs weitere Personen aus ihrem Umfeld in Bingöl wurden gestern in Haft genommen, zwei weitere Komplizen aus Bingöl, die die Todeslaster anmieteten, sind ins arabische Ausland geflüchtet. Auch die Selbstmordattentäter sollen aus demselben Umfeld von IBDA/C und Hizbullah kommen und ebenfalls aus Bingöl stammen.
Die türkische Polizei ist deshalb im Moment mit zwei unliebsamen Überraschungen konfrontiert: zum einen, dass sowohl IBDA/C wie auch Hizbullah offensichtlich noch existieren, vielleicht sogar mittlerweile zusammenarbeiten. Zum zweiten, dass diese Splittergruppen sich anscheinend als lokale Al-Kaida Basen haben rekrutieren lassen und nun das Fußvolk für ein übergeordnetes internationales Netzwerk darstellen, welches die Ziele, das Geld und das Know-how für die Terroranschläge liefert. Eine Gefahr, die als längst erledigt galt, ist damit in umso schlimmerer Form zurückgekehrt.
Schauplatz der Gewalt - Schauplatz der Bombenanschläge, das sind in erster Linie islamische Länder. Der Aktionsradius der Terroristen erstreckt sich vom Pazifik bis zum Mittelmeer - von Indonesien bis nach Tunesien.
Eine Chronologie des Terrors von Brigitte Helfer:
11. April 2002: Auf der tunesischen Ferieninsel Djerba reißt ein Selbstmordattentäter bei einem Sprengstoffanschlag auf eine Synagoge 21 Menschen mit in den Tod, darunter 14 Deutsche.
12. Oktober 2002: Insgesamt 202 Menschen - vorwiegend Australier - werden auf der indonesischen Insel Bali bei Bombenanschlägen auf zwei Diskotheken getötet. Es ist das bislang folgenreichste Attentat seit dem 11. September.
28. November 2002: Drei Selbstmordattentäter sprengen ein Auto vor einem überwiegend von Israelis besuchten Hotel nahe der kenianischen Küstenstadt Mombasa in die Luft. Die Bilanz: 17 Tote. Beinahe zur gleichen Zeit feuern Terroristen Raketen auf ein startendes israelisches Flugzeug - verfehlen allerdings ihr Ziel.
12. Mai 2003: In der saudischen Hauptstadt Riad kommen 35 Menschen bei einer Serie von Bombenanschlägen ums Leben.
Nur wenige Tage später, am 16. Mai, verlieren bei fünf fast zeitgleichen Anschlägen in Casablanca (Marokko) 45 Menschen ihr Leben - darunter 12 Selbstmordattentäter.
Am 8. November verüben Terroristen wieder einen Bombenanschlag auf eine Ausländer-Wohnanlage in Riad. 18 Menschen werden getötet.
Eine Woche danach, am 15. November, explodieren in Istanbul Autobomben vor zwei Synagogen. Die Folge: 25 Tote.
Und gestern erlebte die türkische Wirtschaftsmetropole weitere Bombenanschläge, bei denen mindestens 27 Menschen umkamen.
Dabei nicht aufgelistet ist die Serie blutiger Attentate im Irak, Attentate, die allein seit August dieses Jahres rund 200 Menschenleben forderten. Besonders spektakulär: die Bombenexplosion vor dem UN-Hauptquartier in Bagdad und - am Mittwoch vergangener Woche erst - der Anschlag auf italienische Soldaten im Südirak.
Die Schlacht gegen Saddam haben die Amerikaner gewonnen, doch der Krieg im Irak ist - wie es scheint - noch lange nicht zu Ende. Das Aufbegehren gegen die Besatzungsmächte - gegen Amerikaner, Briten, Italiener - fordert täglich neue Opfer. Ist das der lange Arm Saddams? Sind es militante Islamisten, die da Bomben legen, Selbstmord-Attentäter in Marsch setzen? Welche Rolle spielt Al-Kaida?
Clemens Verenkotte über mögliche Hintermänner und Hintergründe der Gewalt im Irak:
Die jüngsten Terroranschläge in der Türkei, Saudi-Arabien und im Irak deuten nach Erkenntnissen westlicher und arabischer Sicherheitsdienste auf eine neue, gefährliche Weiterentwicklung der Al-Kaida hin: Die Attacken seien von lokalen, kleineren Terrorgruppierungen verübt worden, deren Anführer der mittleren Führungsebene der Al-Kaida angehörten. Diese Personen seien überwiegend in den Al-Kaida Trainingslagern in Afghanistan ausgebildet worden - schätzungsweise durchliefen von 1995 bis 2001 rund 20.000 Extremisten diese paramilitärische Kaderschulung - und hätten sich nach der Zerschlagung der Camps durch die USA im Herbst vor zwei Jahren von der Führungsebene emanzipiert. Die lokalen neuen Anführer würden ihre Kenntnisse an die übrigen Gruppenmitglieder weitergeben, wie man etwa Internet-Botschaften verschlüsselt sowie Sprengstoffbomben herstellt. In den Irak, so glauben die US-Militärs in Bagdad, seien nach Kriegsende rund 2000 ausländische Kämpfer eingedrungen, die dort Kontakt zu ehemaligen Mitgliedern des irakischen Geheimdienstes sowie des zerschlagenen Sicherheitsapparats von Saddam Hussein aufgenommen hätten. Diese Einschätzung wird vom Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes August Hanning bestätigt:
Wir erkennen in der Tat Glaubenskämpfer, islamistische Extremisten, die sich in den Irak begeben haben, um dort den Krieg gegen die Ungläubigen mit auszufechten. Wir haben dies schon beobachtet zu Beginn des Irak-Krieges und wir sehen das jetzt.
Zumindest bei einigen der jüngsten Anschläge auf ausländische Ziele im Irak sei eine Mittäterschaft der Al-Kaida nachweisbar, erklärt der neue Geheimdienst-Chef im irakischen Innenministerium. So sei der Bombenanschlag auf das UN-Hauptquartier in Bagdad vom August entweder von der Al-Kaida oder von Ex-Geheimdienst-Mitarbeitern Saddam Husseins, die Kontakte zur Al-Kaida im Irak hätten, geplant worden. "Wir haben die US-Streitkräfte darüber informiert, dass vier Gruppen an dem UN-Anschlag beteiligt waren. Keine der Gruppen wusste von der Existenz der anderen, aber es gab eine zentrale Koordinierung," so der neue irakische Geheimdienst-Chef wörtlich. US-Kommandeure im Irak unterscheiden zwischen den nahezu täglichen Angriffen auf ihre Soldaten, bei denen überwiegend Granatwerfer und Raketen eingesetzt werden, und den wesentlich verheerenderen Selbstmord-Attacken, etwa auf die italienischen Carabinieri, die internationalen Hilfsorganisationen oder irakische Polizeistationen. So vermuten die amerikanischen Sicherheitsdienste, dass Saddam Hussein Loyalisten ausländische Extremisten anheuern, um die tödlichen Selbstmord-Anschläge zu verüben, die dann für die weltweiten Schlagzeilen und Fernsehbilder sorgten. Der Irak sei zwar für die Al-Kaida gegenwärtig das Hauptkampfgebiet. Doch nach Auffassung eines britischen Antiterror-Experten von der Saint Andrews Universität in Schottland zielt das Terrornetzwerk auf die so genannten "weichen Ziele" und zwar, so wörtlich, "an jeder Flanke und mit allen Mitteln."
Manche Experten überlegen nicht lange, sind mit Urteilen schnell bei der Hand. Kommt es irgendwo auf dem Globus zu einem Terroranschlag, dann kann ihrer Meinung nach Al-Kaida nicht weit sein, müssen Osama bin Ladens Leute darin verstrickt sein. Ist Osama bin-Laden der Übervater des Welt-Terrorismus? Fakten und Anmerkungen zu Al-Kaida von Claudia Sanders:
Es scheint keinen Zweifel zu geben: Die Anschläge in der Türkei gehen augenscheinlich auf das Konto der Al-Kaida, so wie bei den meisten Attentaten seit dem 11. September 2001 mit einem extremistisch islamistischen Hintergrund Osama Bin Laden als Drahtzieher ausgemacht worden ist. Der Terrorismusexperte Erich Schmidt-Enboom:
Sie tragen eindeutig die Handschrift dieser Terror-Organisation, einmal was die Professionalität der Anschläge betrifft und zum zweiten natürlich die politische Stoßrichtung, denn es ist ja kein Zufall, dass es parallel zum Besuch des amerikanischen Präsidenten in London passiert.
Nach den Anschlägen vom 11. September musste sich die Al-Kaida umstrukturieren - denn ihre Mitglieder stehen weltweit auf den Fahndungslisten. Statt einer festen Gruppe bildete sich ein lockerer Zusammenschluss, meint Walter Laqueur vom Washingtoner Center for International Studies:
Al-Kaida war im Grunde eine Koalition von vier oder fünf oder sechs Gruppen aus den verschiedenen Ländern: Pakistan, Ägypten vor allem - und dann auch der Mann Bin Laden, der aus Saudi Arabien kam. Aber, das war, um es noch einmal zu sagen, eine lose Föderation gegen die Kreuzritter, also, gegen die Christen und gegen die Juden. Es war nicht so, dass man im einzelnen abstimmte. Die verschiedenen Gruppen hatten ihre eigene Agenda. Sie taten Dinge, von denen Bin Laden wahrscheinlich wenig oder gar nichts wusste.
Osama Bin Laden als geistiger Kopf, als Mentor und Spiritus Rector einer übergeordneten Idee. Deshalb sei es auch nicht wesentlich, ob er noch lebe. Bin Laden habe Strukturen geschaffen, die nun eigenständig existieren, erklärt der stellvertretende Direktor des Essener Instituts für Terrorismusforschung Kai Hirschmann:
Al-Kaida war ursprünglich eine Art Terror-Dachverband, unter dem sich verschiedene Mitgliedsgruppen, aber auch unverbundene Kämpfer, die so genannten "non-align-Mujaheddin", zusammengeschlossen hatten, aber mit einer Art Zentralfunktion, Supervisor-Funktion der Al-Kaida-Führung unter Osama bin Laden und Ayman al Zawahiri. Durch das teilweise Ausschalten der Führungsstrukturen von Al-Kaida - das heißt: Sie können nicht mehr offen operieren; sie müssen sich verstecken; sie können nicht mehr kommunizieren - ist jetzt eine Art Lizenzverfahren angelaufen, dass diejenigen Leute, die in Afghanistan ausgebildet worden sind, in ihre Heimatstaaten zurückgegangen sind und dort in Lizenz die Idee und auch den Terrorismus von Al-Kaida sozusagen vertreiben.
Terrorismus als ein Verkaufsprodukt, dessen sich jeder bedienen kann, der Willens ist mit solchen Methoden vorzugehen. Anschläge lassen sich so nur schwerlich definitiv einer Tätergruppe zuordnen. Aber einen Hinweis gäbe es schon, der die mögliche Herkunft des Täters erkennen lasse:
Man kann einen Anschlag, den Al-Kaida-Mitglieder oder Sympathisanten, also ausgebildete Al-Kaida-Kämpfer verübt haben, sehr deutlich von einem Anschlag unterscheiden, den emotionalisierte Trittbrettfahrer oder emotionalisierte Gewalttäter ausgeführt haben, an der Machart. Al-Kaida weiß genau, mit welcher Menge Sprengstoff zu welchem Zeitpunkt man in ein Objekt hineinfahren oder den Sprengstoff hineinbringen muss, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen. Das hat man auf Djerba gesehen, wo im Prinzip die Gebäude intakt gelassen worden sind, sondern nur dann der innere Bereich der Synagoge ausgebrannt ist. Man hat es in Mombasa gesehen, wo in der Hotelhalle ein maximaler Schaden angerichtet worden ist, aber ansonsten das Umfeld intakt gelassen worden ist.
Das trifft allerdings nicht auf die Anschläge in der Türkei zu: Auch die Nachbarschaft der bombardierten Gebäude ist verwüstet. Und Hirschmann setzt eine Definition voraus, die erstmalig in den 70er Jahren - noch zu Zeiten des RAF-Terrors entstanden ist: Die Unterscheidung in Beteiligte und Unbeteiligte. Zum einen potenzielle Opfer, die aus Sicht der Täter das Feindbild schlechthin sind, und zum anderen diejenigen, die möglichst nicht bei einem Anschlag verletzt werden sollen. Doch diese "Genauigkeit" fehlt bei den Attentaten in der Türkei. Und noch etwas ist außergewöhnlich für Al-Kaida: Die Terroristen haben sich zu dem Attentat bekannt, statt wie bisher zu schweigen.
"Das war die alte Al-Kaida, weil Osama Bin Laden wegen seines Reichtums nie dazu gezwungen war, sich zu refinanzieren also, Geld zu mobilisieren nach erfolgreichen Anschlägen.
Inzwischen ist die Kommunikation innerhalb dieses Netzwerkes durch die westlichen Nachrichtendienste relativ stark eingeschränkt. Um sich an die Massen zu wenden und um innerhalb des Netzwerks zum Teil öffentlich zu kommunizieren, finden wir jetzt Bekennerschreiben, Bekenneranrufe."
Doch was verbindet denn nun diese zahlreichen Einzeltäter, welche Logik verbirgt sich hinter dem Terror?
Es gibt natürlich ein Hauptziel, und das ist die Errichtung von Gottesstaaten in sämtlichen arabischen Nationen. Und da richtet sich natürlich die Stoßrichtung gegen die Staaten, die am nachhaltigsten für die Fremdbestimmung arabischer Länder zuständig sind. Das sind die USA und Großbritannien im Irak, in Afghanistan, und das ist natürlich Israel in Palästina.
Die verschiedenen Gruppen sind - bis auf diesen Minimalkonsens - durchaus unterschiedlich. Dass sie sich dennoch "einig" zeigen, sei eine neue Entwicklung.
Das ist der Trend des letzten Jahres, dass offensichtlich die ideologischen Differenzen beigelegt werden zugunsten des gemeinsamen Kampfes, einer gemeinsamen Großoffensive.
Dass es eine direkte Verbindung zwischen beispielsweise einem Terroristen in Indonesien und einem in Saudi-Arabien gibt, darf bezweifelt werden. Denn der massive Fahndungsdruck der Geheimdienste habe das Verhalten der islamistischen Extremisten verändert.
Die reden miteinander; die schicken Boten. Sie nutzen nur im Ausnahmefall sehr moderne im Internet mögliche Kommunikationsstrukturen. Aber das Klassische ist zeitaufwendige, mündliche Kommunikation. In Afghanistan hatten wir zeitweise sogar das Phänomen, dass um Osama Bin Laden mit Landwirtschaftsfunk aus Australien kommuniziert hat, das heißt, jenseits der Bandbreite dessen, was die NSA abgehört hat.
Statt Internet und Handy, Brieftauben und reitender Bote: Da nützen den Geheimdiensten auch die neusten Technologien herzlich wenig. Spitzel in diese kleinen unabhängig voneinander agierenden Zellen einzuschleusen ist fast ein Ding der Unmöglichkeit. Und so bedienen sich die Agenten einer anderen Methode. Hartwig Möller, der Chef des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes, erläuterte vor kurzem, wie deutsche Sicherheitsdienste Gefahren "berechnen".
"Das sind nur Schätzungen, die auf Grund rein statistischer Überlegungen stattfinden. Man kann einfach ausrechnen, wie viele Personen sind durch diese Ausbildungslager in Afghanistan oder Pakistan gegangen - da werden Zahlen genannt zwischen Fünfzig- und Siebzigtausend -, und wenn man die dann in Verbindung bringt zur Anzahl der Muslime in Nordrhein-Westfalen oder in Deutschland, zur Zahl der Muslime, die möglicherweise Gewalt antun wollen, dann kommt man natürlich zu rein statistischen Spekulationen. Das sind also rein statistische Schätzungen, mit allen Ungewissheiten, die eine statistische Schätzung eben hat: Es kann stimmen, es muss nicht stimmen."
Zwar steht Deutschland auch auf der Liste möglicher Anschlagsziele der Al-Kaida - jedoch nicht ganz oben. Es bestehe eine "latent hohe" Gefahr, erklärte gestern der Präsident des Bundesnachrichtendienstes, August Hanning. Konkrete Hinweise gäbe es aber nicht. Neben möglichen Selbstmordattentätern drohe den Europäern noch eine andere Gefahr, meint Schmidt-Enboom:
Das größte Risiko besteht darin, dass Al-Kaida so genannte Hit and Run Teams einsetzt, um Terroranschläge zu verüben, denn zum einen verfügt die Organisation ja über eine sehr gute, auch nachrichtendienstliche Logistik, kann also falsche Identitäten, Pässe und dergleichen herstellen. Zum anderen gibt es relativ offene Grenzen in Europa, beispielsweise den Seeweg über Italien und Spanien, so dass man immer befürchten muss, dass durchaus Teams einreisen, ausspähen, Anschläge verüben und dann wieder abtauchen, soweit es sich nicht um Selbstmordattentate handelt.
Natürlich sei die akribische Arbeit die Geheimdienste das beste Mittel weitere Terroranschläge zu verhindern. Daran besteht für Hartwig Möller kein Zweifel. Das alleine, reiche aber nicht immer.
Und dann braucht man auch eben manchmal Glück, um jemanden zu finden, der sich so verhält wie die Personen, um die es hier geht.