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Von Not und Mut

Not und Mut stehen im Mittelpunkt des Werkes von William Trevor. Sie schließen sich gegenseitig nicht aus. In "Seitensprung" liegen zwölf neue Erzählungen des Iren vor.

Von Alain Claude Sulzer | 21.03.2006
    "Wie sie ihre Geheimnisse voreinander hüteten, Gebrechen verbargen, ihre Gebete, ihre Enttäuschungen. Diese Not, und doch so viel Mut! Sind wir nicht seltsame Geschöpfe, wir Menschen?"

    Mit diesen drei scheinbar ziellosen Sätzen, aber nirgends offenkundiger, kleidet William Trevor in Worte, wovon sein gesamtes, umfangreiches Werk handelt. Not und Mut stehen im Mittelpunkt, sie schließen sich gegenseitig nicht aus. Nach etlichen Romanen liegen jetzt neu zwölf Erzählungen auf Deutsch vor, die ursprünglich in Zeitschriften wie etwa dem "New Yorker" erschienen. In jeder dieser Erzählungen stellt der inzwischen fast 80-jährige Ire unter Beweis, wie leicht und mühelos es ihm gelingt, mit Worten, die andernorts leicht abgenutzt erscheinen würden, von Ehebruch, unerwiderter Liebe, gebrochenem Liebesversprechen, Verlust und Tod zu erzählen. Einmal mehr tut er dies ganz unspektakulär, beinahe schüchtern und rücksichtsvoll, aber nie besänftigend.

    "Einsamkeit" heißt eine dieser Erzählungen, die auf wenig mehr als 20 Seiten ein ganzes, frühzeitig auf- und in andere Hände gegebenes Leben umfasst. Es ungelebt zu nennen, wäre schon fast zu viel gesagt, so laute Töne sind dem Autor fremd. Der Vorhang der Erzählung geht in London über einem siebenjährigen Mädchen auf, das zufällig Zeugin des Ehebruchs der Mutter geworden ist. Während einer Einladung für den von einer weiten Reise heimgekehrten Vater, bei der auch der Liebhaber der Mutter anwesend ist, stößt das Mädchen diesen über ein Treppengeländer. Der Mann, der ihre kindlichen Fantasien beherrschte, weil sie nicht wusste, wie sie mit ihrem Wissen umgehen sollte, stirbt.

    Dieser Mord bestimmt das weitere Leben des Mädchens und seiner Eltern, die von einer Hausangestellten vermutlich jahrelang erpresst werden. Es gehört zu Trevors kleinen Tricks, uns darüber im Unklaren zu lassen. Die dreiköpfige Familie verlässt England, lebt fortan in ausländischen Hotels und kehrt nie an den Ort des Geschehens zurück. Nach dem Tod der Eltern führt die Tochter - aus ihrem Mund erfahren wir ihre eigene Geschichte - deren nomadisches Leben fort; von Hotel zu Hotel ziehend ist sie stets und vergeblich auf der Suche nach jemandem, dem sie ihre Geschichte erzählen könnte, über die sie mit ihren Eltern nie sprechen konnte.

    "Ich fand immer meinen Zuhörer, und jedes Mal begegnete man mir freundlich (...), aber nur Sekunden später änderte sich das."

    Letztlich akzeptiert sie, dass ihr verwehrt wird, zu erzählen, was sie erzählen muss, weil man sie - nicht ganz zu Unrecht - für verrückt hält. Dass sie in uns, den anonymen Lesern ihrer Geschichte, am Ende die lange ersehnten Zuhörer gefunden hat, wird sie natürlich nie erfahren, denn wir gehören nicht in ihre Welt. Sie hat, wenn man so will, durch einen fremden, William Trevors Mund zu uns gesprochen.

    So dramatisch wie in dieser Geschichte sind die geheimen Verstrickungen bei Trevor selten. Aber er verwendet auf jene, die viel alltäglicher sind, nicht weniger Aufmerksamkeit. Charakteristisch an dieser fast wahllos herausgepickten Geschichte ist nicht nur die Leichtigkeit und Präzision, die Klugheit und verbale Sparsamkeit, mit der sie erzählt wird. Auch die Art und Weise ist es, in der der Autor die Bedeutung der Kindheit hervorhebt, die aus Erwachsenen zu alt gewordene Kinder machen kann, die das Wissen um ihre einstige Unschuld meist als Last, seltener als Talent mit sich herumtragen. Wenn sie präsent ist - bei Trevors Figuren ist sie es oft -, wird der Blick auf das, was ihr folgt, manchmal durchlässig. Dass dies bar jeder großen Geste geschieht, liegt auf der Hand, nicht aber, dass sich ein Autor dieses Bereichs zwischen Kindheit und Erwachsensein auf so subtile Weise annimmt.

    Wenn - ungeachtet aller sozialen Unterschiede - die Figuren des vorliegenden Erzählbandes eines gemeinsam haben, so ist es ein mehr oder weniger ausgeprägtes Bewusstsein ihrer Bedeutungslosigkeit, auch ein Gefühl dafür, dass Augenblicke flüchtig sind; mögen sie als schmerzlich empfunden werden, sie sind, wie alles, aufgehoben in der auf mitleidlose Weise gnädigen Zeit.
    Unprätentiös und geradezu gleichmütig findet William Trevor für all das immer wieder Worte. Nicht Worte des Trostes, aber auch keine, die uns dazu bewegen könnten, die Welt durch seine Augen als Zyniker zu betrachten. Vergleicht man diese Alterswerke mit früheren Büchern Trevors, fällt auf, dass selbst die Ironie nur schwerlich ihren Platz behauptet. Sie blitzt jetzt nur noch selten auf. William Trevor hat sich in seinen wunderbar vielschichtigen, dabei lichten Geschichten völlig zurückgezogen. Er ist ein hörbar leiser Betrachter, der sich jeden Kommentars enthält, da jeder Kommentar zwangsläufig den Fluss seiner Erzählung durchbrechen und hemmen müsste. Ein Fluss lässt sich zwar lenken, nicht aber bremsen. Also hält er den Strom der Zeit nicht auf. Er bleibt seinen Figuren treu, die er – wahrlich ein seltener Vorgang – erfindet, als ob sie wirklich existierten - und das mit wenigen Strichen und glaubhaften Angaben sowohl über die Personen als auch über die Umstände, in denen sie leben.

    In der Titelerzählung begegnen wir einem ungleichen Liebespaar. Während sie sich von ihrem Ehemann getrennt hat, um ihren Seitensprung in der lang ersehnten Freiheit auszuleben, verlässt er sie, der sich von seiner Ehefrau nicht trennen kann, weil er es nicht erträgt, dass alle denken, sie sei nichts weiter als ein Seitensprung.

    "Er wußte, daß sie ihn trotz aller Einwände verstand, genau, wie er sie verstanden hatte, als sie ihre Scheidung in die Wege leitete. (...) Nichts von ihrer Liebe war heute ausgelöscht worden. Das nahmen sie mit, als sie sich trennten und auseinander gingen, nicht ahnend, daß die Zukunft weniger düster war, als sie augenblicklich schien, daß ihre zarte Behutsamkeit weiter Bestand haben und sie selbst immer so bleiben würden, wie die Liebe sie für eine Zeit gemacht hatte."
    Wenn es ein Antonym für unerbittlich gäbe, es träfe dieses Adjektiv, das es leider nicht gibt, auf Trevors Kunst, die Dinge zu betrachten und zu beschreiben, zu. Dazu gehört auch, die Dinge nicht gänzlich auszusprechen, die Figuren nicht alles sagen zu lassen, was sie sagen könnten, sich ihnen lieber durch Auslassung als durch Vermutung zu nähern.

    Trevor findet stets die richtigen Worte, um komplexe Vorgänge zu beschreiben, in die Menschen, schwankend zwischen Not und Mut zusammentreffen, verstrickt sind. Dass William Trevor in der deutschsprachigen literarischen Wahrnehmung nicht jenen Platz einnimmt, der ihm gebührt, mag jene wundern, die leiser Literatur den Vorzug vor der lauten geben. Ob Stille je die Welt der so genannten Charts erobern wird, bleibt abzuwarten. Nötig hat sie sie nicht.