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Von Reförmchen zu Reförmchen

Betriebswirtschaftliches Rechnen gehört genauso zum Arztberuf wie medizinisches Wissen. So beobachten Ärzte sehr genau, welche Maßnahmen die Politik ergreift, um die Kosten im Gesundheitswesen zu senken.

Von Wolfgang Zimmer | 11.03.2010
    Der Stress beginnt manchmal schon um 7 Uhr morgens. Die beiden Empfangsdamen in der Praxis des Bonner Arztes Holger Liebermann versuchen, die Patienten so gut es geht, im Warteraum unterzubringen. Er platzt schon nach einer halben Stunde aus allen Nähten. Die Patienten bedrängen die Sprechstundenhilfen mit allen möglichen Problemen. Dazu klingelt immer wieder das Telefon. Für Marietta Schranner-Schurwanz der Stressfaktor Nummer 1:

    "Das ist permanent, weil das kommt noch dazu zu den Patienten. Wenn besonders viele Patienten da sind, dann ist natürlich auch die Hektik und der Stress am größten. Und wenn das dann eben noch dazu kommt, wird's natürlich noch mehr. Man muss permanent umschalten - es ist einfach Stressfaktor."

    Ihr Chef weiß, was er an seinen Mitarbeiterinnen hat. Zumal sie in der Arztpraxis ausgesprochen verantwortungsvolle Aufgaben übernehmen. Für Dr. Holger Liebermann ein Team, auf das er sich unbedingt verlassen muss.

    "Die machen eine Datenarbeit, bei der sie keine Fahler machen dürfen. Das kann große Probleme aufwerfen, wenn kleine Detailfehler sich in die Arbeit einschleichen. Und stehen dabei unter ganz, ganz enorm hoher Belastung. Ich kenn eigentlich nur wenig Jobs, die so viel Konzentration und Ausdauer verlangen wie die Tätigkeit, die die Damen da vorne machen müssen. Und das müssen sie eben auch noch mit dem entsprechend wohlwollenden und freundlichen Gesicht machen."

    Was nicht immer leicht fällt. Was aber Dr. Liebermann den Rücken freihält für seine Arbeit und seine Patienten. Er ist nicht nur Arzt, er ist auch Geschäftsmann. Das hat er spätestens vor vier Jahren gelernt, als er mit 35 Jahren seine Praxis in Bonn eröffnete. Betriebswirtschaftliches Rechnen gehört zum Job genauso dazu wie seine ärztlichen Pflichten. Gerade in Zeiten der Budgetierung ist langfristige Planung wichtig, wenn nicht in ein, zwei Jahren die Kassenärztliche Vereinigung für ein böses Erwachen sorgen soll. Denn Medikamente für Kassenpatienten können nicht in unbegrenztem Rahmen verschrieben werden.

    "Ich kann jedes Präparat auf en Rezept schreiben. Den Patienten ist aber nicht klar, wie das später abgewickelt wird. Dass es Jahre später eine Schleife dreht, in Budgets zusammengerechnet wird und die Allgemeinmediziner dann die Quittung dafür auf den Tisch kriegen. Wir bekommen diese Informationen zum Teil auch erst Jahre später. Es gibt Kollegen, die sind Jahre später für Dinge in Regress genommen worden, wo sie zum Zeitpunkt der Verschreibung gar nicht wussten, dass das für sie problematisch werden würde."

    Ihm selbst kann das auch noch blühen. Er hält physiotherapeutische Maßnahmen für besonders wichtig und verschreibt sie auch häufig. Ob die Kassenärztliche Vereinigung ihm daraus mal einen Strick drehen wird, weiß er überhaupt noch nicht.

    "Ich habe viele Behinderte, die diese Physiotherapie wirklich brauchen. Wir statten diese Patienten mit bestimmten Ziffern aus, damit die aus dem Budget auch wieder rausgenommen werden. Ich weiß, dass ich deutlich über meinem Budget arbeite. Ich habe noch nie eine Rückmeldung bekommen von der Kassenärztlichen Vereinigung, ob da Probleme anstehen. Wenn in zwei, drei Jahren der Brief ins Haus flattert, dass Regressforderung droht, dann kann das sehr schwierig werden für mich. Auch die Rückfragen an die KV sind noch nie beantwortet worden, ob da Schwierigkeiten bestehen."

    Im Wartezimmer und am Empfang ist es mittlerweile etwas ruhiger geworden. Zu verdanken nicht zuletzt einer technischen Neuerung, mit der die Mitarbeiterinnen die wartenden Patienten ausstatten. Mit dem sogenannten Doctor's Call - dem Doktorruf - können Patienten einen Schaufensterbummel unternehmen, statt im engen Wartezimmer ausharren zu müssen. Für die Arzthelferin Marietta Schranner-Schurwanz eine sehr praktische Einrichtung:

    "Der wird halt eben dann eingesetzt, wenn das Wartezimmer schon sehr gefüllt ist. Wir können den Patienten dann später anfunken. Dann ist es einfach ein bisschen entspannter für den Patienten, auch für uns, weil sich das in der Warteschlange dann etwas entzerrt."

    Trotzdem gibt es während der Sprechstunden kaum eine Sekunde zum Luftholen. Was auch daran liegt, dass einige Patienten viel zu oft in der Arztpraxis erscheinen. Für Holger Liebermann mit ein Grund, warum das Gesundheitssystem finanziell aus dem Ruder läuft.

    "Das ist mittlerweile gut belegt, dass die deutsche Bevölkerung den Weltmeisterschaftstitel bei Arztbesuchen trägt. Das macht kein anderes Volk der Erde so häufig und so intensiv wie wir. Und der durchschnittliche Patient macht sich keine Gedanken darüber, was er an Positivem dabei zu gewinnen hat oder was im System auch dabei zu verlieren ist."

    Mit anderen Worten: Das System verliert durch allzu häufigen Arztbesuch sehr viel Geld. Allein bei Dr. Liebermann gibt es viele Patienten, die bis zu 20 Mal im Quartal in seiner Praxis erscheinen und behandelt werden wollen. Viel zu oft auch völlig grundlos. Ein Fehler im System, meint der Bonner Arzt, weil im Gegensatz zum Privatpatienten die Kassenpatienten überhaupt nicht mit ihren Kosten konfrontiert werden.

    "Wir haben viele Patienten, die mit dem Bewusstsein einer Vollversicherung leben und denen manchmal auch nicht klar ist, was sie durch ihr eigenes Verhalten an Kosten produzieren oder darauf Einfluss ausüben. Das kann der normal versicherte Patient auch nicht wissen, weil der niemals eine Abrechnung zu sehen bekommt. Und ich denke, dass das einer der ganz grundsätzlichen Fehler in unserem Gesundheitssystem ist, dass der Hauptkontrolleur, nämlich der Patient, vollkommen außen vor gelassen wird."

    Wobei der Bonner Arzt auch noch andere Ursachen für ein immer teureres Gesundheitssystem sieht. Er gibt dem Gesundheitsminister recht, wenn er die Pharmaindustrie zum Maßhalten bei Medikamentenpreisen auffordert. Aber auch billigere Medikamente würden seiner Ansicht nach das Gesundheitssystem nicht retten. Für ihn und seine Praxis sind vor allem die Privatpatienten wichtig. Ohne deren Honorare könnte er die Praxis dichtmachen. Und ohne deren Geld hätte er erst recht nicht die Technik, mit denen er auch die Kassenpatienten heilt oder diagnostiziert.

    "Es ist so, dass die Behandlung der Privatpatienten den großen Teil meines Verdienstes darstellt. Und die Behandlung der Privatpatienten erwirtschaftet auch den größten Teil der Technik, die wir hier in der Praxis haben. Ein gutes Ultraschallgerät könnte ich mir niemals leisten ohne Privatpatienten. Die Kassenpatienten nutzen dieses Gerät sehr wohl. Es kommt ihnen ja auch zugute. Also die Kassenarztpraxis ohne Privatpatienten wäre nicht existent."