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Von Spanien nach Lateinamerika

Der inzwischen 69 Jahre alte Gambist Jordi Savall zählt seit Langem zu den weltweit führenden Vertretern der historischen Aufführungspraxis. Kein anderer Alte-Musik-Spezialist kann eine derart große Repertoirebreite wie der langjährige Dozent am Baseler Lehrinstitut Schola Cantorum Basiliensis vorweisen, denn er interpretiert Musik vom Mittelalter bis hinein ins 19. Jahrhundert.

Von Rainer Baumgärtner |
    Aufnahmen davon fertigt er seit 1998 ganz nach eigenem Gusto an, denn damals machte er sich von der oft schwer verständlichen Politik großer und auch kleinerer Plattenfirmen unabhängig und gründete sein eigenes Label. Auf diesem hat er inzwischen etwa 80 CDs veröffentlicht, allesamt in höchster Tonqualität und in beispielhafter Aufmachung. Besonders bemerkenswert ist dabei Savalls seit einiger Zeit zu beobachtende Tendenz, in seinen Aufnahmeprojekten Genregrenzen zu überschreiten. Vor wenigen Wochen ist die CD "El Nuevo Mundo" erschienen, für die seine Ensembles Capella Reial de Catalunya und Hespèrion XXI mit der mexikanischen Gruppe Tembembe Ensamble Continuo kooperierten. Gemeinsam haben sie die Verbindungen zwischen der spanischen und der amerikanisch-kreolischen Musik im 17. und 18. Jahrhundert ergründet und Verbindungsstränge zur heutigen lateinamerikanischen Volksmusik aufgespürt.

    " 1) Juan Garcia de Zéspedes / Anonym (Trad./Tixtla), Guaracha: Ay que me abraso / El Arrancazacate "

    Dies war der Volkstanz "Ach, wie ich brenne", in dem die Geburt Christi gefeiert wird-es handelt sich um eine so genannte "Guaracha", die der Musiker Juan Garcia de Zéspedes um 1650 im mexikanischen Puebla komponiert hat und die in leicht veränderter Form bis heute in der Volksmusik gepflegt wird.

    Auf Jordi Savalls neuer CD mit lateinamerikanischer Barockmusik fasziniert die nahtlose Verbindung seiner Alte-Musik-Formationen mit dem mexikanischen Tembembe Ensemble Continuo. Dieses hat sich darauf spezialisiert, traditionelle Volksmusik mit Blick auf die ganz ähnlich gebaute spanische Musik der Kolonialzeit zu interpretieren. So ist eine CD entstanden, die überaus vielfältig klingt und in der aus jeder Sekunde eine ungeheuere Musizierfreude spricht. Zwar herrschen virtuose Stücke mit schnellen Tempi vor, hin und wieder wird geht es aber auch gemäßigter zu, wie bei dieser Guabina, einem Bauernlied aus der zentralen Andenregion Kolumbiens, dessen harmonische Struktur mit einer neapolitanischen Komposition aus dem 16. Jahrhundert übereinstimmt.

    " 2) Anonym (Kolumbianisches Trad.), Guabina de Vélez "

    Mitglieder des Tembembe Ensamble Continuo aus Mexiko musizierten ein kolumbianisches Volkslied; die Aufnahme stammt von der aktuellen CD "El Nuevo Mundo", auf der auch La Capella Reial de Catalunya und Hespèrion XXI mitwirken.

    Jordi Savall, der Leiter dieser Ensembles, ist in den vergangenen Jahren von der EU zum "Botschafter für den interkulturellen Dialog" und von der UNESCO zum "Künstler für den Frieden" ernannt worden. Diese Auszeichnungen korrespondieren mit dem politisch-künstlerischen Ansatz, den seine CD-Projekte in zunehmendem Maße widerspiegeln. Vor gut einem halben Jahr etwa hat er mit Hespèrion XXI und diversen Gastmusikern eine CD mit dem Titel "Istanbul" herausgebracht. Als Aufhänger dienten ihm für diese Einspielung einige der vielen Musikstücke, die der moldauische Prinz Dimitrie Cantemir um 1700 in Istanbul aufgezeichnet hat. Dieser musste in seiner Jugend als eine Art Geisel in der osmanischen Hauptstadt leben und er lernte die dortige Kultur dabei intensiv kennen. Er entwickelte sich zu einem ungemein gebildeten Universalwissenschaftler, der sich auch als virtuoser Spieler der Langhalslaute Tanbur hervortat. Später schrieb Cantemir bedeutende Abhandlungen über das Osmanische Reich (und über die Geschichte Rumäniens) sowie ein Werk mit dem Titel "Buch von der Wissenschaft der Musik nach alphabetischer Notenschrift". Nicht nur wegen der darin niedergelegten Musiktheorie wurde es maßgeblich-es erklärte die Feinheiten des türkischen Modalsystems-, sondern auch wegen der mehr als 350 Instrumentalkompositionen, die Cantemir niederschrieb. Beim folgenden Stück handelt es sich um einen so genannten "Makam", der auf dem Modus "Hüseyni" basiert.

    " 3) Edirne'li Ahmed, Der makam-i [Hüseyni] usules çenber (Mss. Cantemir/No.96) "

    Typisch für Jordi Savall und seine CD "Istanbul" ist, dass er nicht nur türkische Musik aus der Zeit Dimitrie Cantemirs präsentiert, der als einer der Ersten die ursprünglich schriftlos überlieferte osmanische Kunstmusik niedergeschrieben hat. Die CD enthält vielmehr auch Beispiele aus der damaligen jüdischen und armenischen Musiktradition, denn viele Musiker am toleranten Osmanenhof waren Juden oder Armenier. Der Dialog der Kulturen ist ein Ziel, das Jordi Savall in vielen seiner musikalischen Projekte verfolgt. Beim nun folgenden Stück handelt es sich um eine armenische Klage, gespielt auf zwei Duduks. Das Doppelrohrblattinstrument Duduk ist das Nationalinstrument der Armenier.

    4) Barde Ashot, Lamento: Ene Sarére

    Die CD mit dem Titel "Istanbul" begeistert wie alle Veröffentlichungen Jordi Savalls mit einem dicken Beiheft, das auf Hochglanzpapier gedruckt, mit vielen Bildern und Fotos illustriert und mit informativen, in acht Sprachen übersetzten Aufsätzen angereichert ist. In der Ausstattung noch übertroffen werden derlei "gewöhnliche" CDs von den veritablen Hör-Büchern, die er seit einiger Zeit auf seinem Label herausbringt. Der geschickte Geschäftsmann Savall finanziert diese Großprojekte durch den Erfolg seiner Bestseller, zu denen etwa der Soundtrack zum Film "Die siebte Saite" zählt.

    Die Doppel- und Tripel-CDs, die in über 500 Seiten dicke Bücher eingelegt sind, dokumentieren zu allererst Jordi Savalls humanistische Überzeugungen. Er will mit diesen Projekten seinen Beitrag zum gegenseitigen Verständnis der Kulturen und zum Erhalt des kulturellen Erbes der Menschheit-und damit zum Frieden auf der Welt leisten. Nachdem er sich in früheren Buch-CDs unter anderem der Stadt Jerusalem und einer "Reise in den Orient" gewidmet hat, stellt er auf seinem jüngsten derartigen Projekt "Das vergessene Reich" der Katharer vor.

    Die Katharer - aus diesem Begriff sollte das Wort "Ketzer" entstehen - waren eine religiöse Bewegung des zwölften Jahrhunderts, die sich in weiten Teilen Europas verbreitete und ihre meisten Anhänger im Languedoc im Süden Frankreichs fand. Die "Reinen" oder "Guten"-so lautet die eigentliche Übersetzung von "Katharer"-wurden anfänglich toleriert, dann aber von der römischen Kirche und ihren Verbündeten grausam verfolgt und ausgerottet.

    Auf den drei mit "Das vergessene Reich" überschriebenen CDs entfaltet Jordi Savall mit seinen Ensembles und Gastmusikern ein Panorama der ersten Jahrhunderte des zweiten Jahrtausends. Mittels Fanfaren, Rezitationen und zeitgenössischen Liedern insbesondere der Troubadours wird die Geschichte und die Tragödie der Katharer informativ und bewegend nachgezeichnet. Auf der Basis einer Troubadourmelodie schrieb Jordi Savall eine "Hommage an die 'guten Menschen'", mit der die Einspielung endet.

    " 5) Ponç d'Ortafà/Jordi Savall, Hommage an die "guten Menschen""

    Mit einer von Jordi Savall arrangierten und auf der mittelalterlichen Fiedel aufgeführten "Hommage an die 'guten Menschen'" endet das CD-Projekt "Das vergessene Reich". Die "guten Menschen", das waren die Katharer des 12. und 13. Jahrhunderts, denen die Aufnahme mit den Ensembles Capella Reial de Catalunya und Hespèrion XXI gewidmet ist.

    Diskografie

    El Nuevo Mundo - Folías Criollas
    Alia Vox AVSA 9876

    Istanbul - Dimitrie Cantemir
    "Das Buch der Musikwissenschaft" und die sephardische und armenische Musiktradition
    Alia Vox AVSA 9870

    Le Royaume Oublié/Das vergessene Reich
    Der Kreuzzug gegen die Albigenser - Die Tragödie der Katharer
    Alia Vox AVSA 9873