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Von Spielfeldern und dialogischen Bilderrätseln

Bevor Alberto Giacometti superschlanke Bronzefiguren schuf, durchschritt er die Moden seiner Zeit: Surrealismus und Kubismus. Die Hamburger Kunsthalle zeigt jetzt das Frühwerk des Schweizer Bildhauers. Nicht nur lange und klapperdürre Gestalten, auch voluminöse Porträtbüsten sind darunter.

Von Rainer Berthold Schossig |
    Wer Alberto Giacometti bisher für einen Ästheten hielt, der sich die Zeit damit vertrieb, seine Plastiken wie Kaugummi lang und länger zu ziehen, wird jetzt in Hamburg gleich doppelt eines besseren belehrt. Schon für den jungen Giacometti war der künstlerische Ausdruck ein bedrängender, unabschließbarer, ja existenzieller Prozess, der ihm äußerste Disziplin, manchmal seine letzte Kraft abverlangte. Wie die Dinge im Wirbel des Lebens so platzieren, dass sie Dauer, Gültigkeit, Würde erhalten? Wie der Beliebigkeit des Flusses aller Bewegungen Herr werden? Wie im Augenblick, den das Werk festhält, dort verharren, wo es formal angemessen, ästhetisch verantwortbar, endgültig ist? Diese Fragen trieben den 1901 in eine Künstlerfamilie hineingeborenen Schweizer seit seiner Jugend um. Seine "Erfindung" der esoterisch verdünnten, frontal auf den Betrachter zustürzenden, oder unnahbar distanziert verharrenden Idolfigur hat bewegte Hintergründe und turbulente Vorstufen – mit einem bedeutenden surrealen Zwischenspiel.

    Was jetzt in der Hamburger Kunsthalle einleuchtend klar wird, ist Giacomettis Wunsch, die Skulptur zur Spielfigur, den Sockel zur Handlungsfläche, die Interaktion der Plastiken zum Drama zu machen. Wie beim Feld- oder Ballspiel soll der Zeit Raum abgewonnen, Zwischenraum begehbarer Aktionsraum werden. Eigentlich ist das die Erfindung des Environments. Bekanntlich funktionieren Spiele nur, weil sie Regeln beziehungsweise Grenzen haben. Giacometti sucht zeitlebens nicht nach der Freiheit, sondern nach diesen Grenzen der Kunst. Zunächst weitet er sie aus – ins Ozeanische, Afrikanische. Er orientiert sich an Maske und Fetisch, Symbolen des männlichen und weiblichen Prinzips, wie es Expressionisten und Kubisten eben entdeckt haben. Doch er radikalisiert dies: Sein "Blickender Kopf" ist nur noch eine Scheibe mit zwei Mulden anstelle von Augen und einer Rinne statt Nase. Er macht Objekte, die man wie Tabletts zur Hand nehmen kann, freilich sind sie durchdrungen von krummen, hornartigen, phallischen Formen. Eine martialische Speerspitze bedroht den konkaven Nabel einer Nachbarform. Ein Flitzebogen ist aggressiv auf eine zarte, leicht schaukelnde Gipsblume gerichtet. Eine hölzerne Hand gerät in ein Getriebe aus Treibriemen, Kurbeln und Rädern. Ein Mischwesen aus Spinne und Skorpion kommt als "erwürgte Frau" ins Spiel. Bei der surrealistischen Gruppe in Paris verursacht dergleichen Aufsehen, man vereinnahmt den jungen Schweizer, doch versteht ihn gründlich miss.

    Giacometti geht es ums Spiel mit dem Möglichen; seine Werke sind mobil, Kunstobjekte zum Halten, Mitspielen oder Wegwerfen. Mit seinen – ab 1934 wieder figürlichen – Skulpturen bringt sich der Künstler selbst mit ins Spiel. Er konstruiert eine Raum-Zeit-Scheibe; neue Spielplätze für Menschen schweben ihm vor. Die Figuren sollen Standpunkte einnehmen, zu verorten sein. Und nun kommt auch der Sockel wieder: Er wächst zum Turm, zur Stufenpyramide, die größer ist, als die winzigen Figürchen, die darauf thronen. Der Sockel gibt die Richtung an, in der die Figur auf dem Weg ist. Und bald verschmelzen die Füße der großen "Stehenden Frauen" zu schweren, klobigen Baumstümpfen, untrennbar mit der Erde verwurzelt: Monade, unnahbar. Nur die männliche Figur bleibt unterwegs, ausschreitend wie der "Irrende Ritter" von der immer traurigeren Gestalt: Nomade, ausgezehrt, Fadendünn, Strichmännchenmager.

    Ist es Giacometti selbst? Er, der vier Jahrzehnte lang – bis zu seinem Tod 1966 – wie ein Einsiedler ein und dasselbe Atelier in Paris bewohnt, das er zärtlich-abfällig "das Loch" nennt? Er malt und zeichnet es – versinkend im Gipsstaub, im Dämmerlicht, vollgestopft mit Material, halbfertigen Büsten und Stelen, Schauplatz seiner Fortschritte und seines genialen Scheiterns.
    Genau hier entstehen auch jene Bildnisse, die jetzt im Bucerius Kunstforum versammelt sind. Das Atelier – Ort der Begegnung: mit der Familie zunächst, Vater und Mutter, Schwester und Bruder, später Schauplatz der zähen Auseinandersetzung mit Freunden und Bekannten, die ihm Modell sitzen müssen, ohne sich zu rühren: Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Michel Leiris, Matisse und viele mehr, Namhafte und Namenlose. In der Nachkriegszeit wird der scheinbar so scheue Giacometti zum Zentrum der Pariser Kunst- und Literatur-Szene. Sein suchend die Modelle einkreisender Stift webt Netze und Kokons um die Dargestellten, findet eine Aussage, nimmt sie zurück, beginnt neu. Der Blick des Künstlers konzentriert sich instinktiv auf den Kopf und immer wieder – geradezu manisch – auf das Auge des Porträtierten. Jedes Porträt wird zum dialogischen Bilderrätsel der Blicke zwischen Subjekt und Objekt. Enttäuschend sind allein die Selbstbildnisse, er bleibt sich sichtlich ein Fremder, der manchmal Ernst Bloch, manchmal Gerhard Hauptmann ähneln will. – Keine Selbststilisierung, kein Narzissmus, kaum ein Anflug von Erotik des Blicks. Hart kreuzen sich nüchterne Einschätzung, präzise Platzierung und formale Verortung der Bilder wie auch der Skulpturen. Nein, Albero Giacometti war kein heiterer, verspielter Flaneur. Seine Kunst ist nie ironisch, sondern immer der Ernstfall.