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Von Studenten für Studenten

Studieren ohne Leistungsdruck, sich Zeit nehmen für ein frei gewähltes Thema - das kommt in den Bachelor-Studiengängen meistens zu kurz. Abhilfe schaffen die sogenannten Q-Tutorien, die von Studierenden initiiert und durchgeführt werden.

Von Sarah Tschernigow |
    "”Ok, I asked you to read two texts for today.”"Sexism Reloaded" – so heißt das Q-Tutorium, das von Sandra Reichert geleitet wird, einer 33-jährigen Studentin der Amerikanistik. Auf den ersten Blick ein normales Uni-Seminar: Rund 20 Studenten sind gekommen, haben für heute fleißig Literatur vorbereitet. Doch mit dem Vorlesungscharakter wird bereits nach fünf Minuten gebrochen. Die Studenten sollen in kleinen Grüppchen über die Texte diskutieren – einfach so, ohne Aufgabe, was ihnen einfällt. Thema: Sexismus im Sport.

    ""Also, wenn ich mir die Athletinnen anschaue, die haben ja teilweise extrem viel Muskelmasse. Und ich denke, nicht weniger als Männer oder?"
    "Es ist ja immer ein Fairnessargument. Warum darf Gruppe A nicht gegen Gruppe B ..."
    "Das Lustige ist: Leistungssportler dürfen ja eh vor dem Wettkampf keinen Sex haben. Also, da denk ich mir: Warum sprechen wir überhaupt über Sexualität im Sport?"

    Die Studenten kommen aus verschiedenen Fachbereichen: Geschlechtersoziologie, Amerikanistik, Biologie. Im Q-Tutorium erleben sie, was sonst oft zu kurz kommt: sich interdisziplinär austauschen, ohne Leistungsdruck, sich Zeit nehmen für ein frei gewähltes Thema.

    "Es gibt weniger Hierarchien, man kann lockerer miteinander reden. Ich komme, wenn ich kommen möchte. Weil ich mich mit Dingen befassen möchte, mit den Gedanken anderer Menschen. Es wird generell für mehr Interdisziplinarität gesorgt. Es ist der Blick über den Tellerrand - und dass wir einfach Themen fokussieren, die noch nicht so in den akademischen Diskurs eingedrungen sind, die wir aber akademisch beleuchten."

    Auch für Tutorin Sandra Reichert ist es die Möglichkeit, sich einmal in das zu vertiefen, was sie wirklich interessiert: in dem Fall Feminismus. Und dafür auch noch Geld zu bekommen. Immerhin 5.800 Euro brutto pro Jahr. Das Thema hat sie sich selber ausgesucht – und nicht nur das:

    "Welche Texte ich dazu benutze, ist absolut in meiner Freiheit. Was ja auch mal ein Stück Vertrauen in uns Studis ausdrückt. Oder auch, wie viele Texte ich benutze. Und es ist ganz klar, dass es nicht um Frontalunterricht gehen soll, sondern dass die Studenten sich selber einbringen können und mit Fragen wissenschaftlich arbeiten. Und für mich heißt das: zu hinterfragen."

    "Wissenschaftliches Arbeiten heißt für mich nicht, dass ich einen Text lese und den bulimisch wiedergebe. Sondern dass ich vor allem sagen kann, was daran kritisch zu sehen ist, und dass ich das übertrage auf die heutigen Verhältnisse. Dann, finde ich, werden Texte lebendig, wird Wissenschaft lebendig. Und dann macht das Studium auch wieder Sinn."

    Das "Q" in Q-Programm hat mehrere Bedeutungen. Es steht dafür, Fragen zu stellen ("question"), oder Kompetenzen zu erwerben ("qualification"). Es ist Teil des "Qualitätspakts Lehre", gefördert von Bund und Ländern, konzipiert vom Bologna.Lab, einer Hochschulinitiative für innovatives Lehren und Lernen. Wolfgang Deike leitet das Bologna.Lab und sagt: Das Q-Programm soll den Schattenseiten des Bachelor- und Mastersystems etwas entgegensetzen.

    "Die Humboldt-Universität hat ja so was wie ein Urheberrecht auf den Humboldt-Spruch von der Einheit von Forschung und Lehre. In der Praxis ist es aber oft einfach so, dass, wenn Lehrende sich in die Forschung stürzen, die Studierenden davon wenig mitbekommen, außer, dass der Professor häufiger nicht da ist. Aber dass die Ergebnisse und der Prozess der Forschung gar nicht in die Lehre zurück filtert. Und darum geht es beim Q-Programm. Dass man die Möglichkeit für Studierende schafft, an Forschungsprojekten teilzuhaben."

    Und das bedeutet, dass nicht "nur" diskutiert wird wie im Sexismus-Tutorium, sondern richtig ergründet. Eine Wirtschaftsgruppe bekam real tausend Euro in die Hand und sollte sich in Form eines Planspiels überlegen, an welche gemeinnützige Organisation sie das Geld spenden möchte. Experten wurden eingeladen, Sprecher von Spendenorganisationen interviewt; erörtert: Wonach entscheiden wir überhaupt, an wen wir Geld spenden? Eine Musik-Gruppe untersuchte: Nach welchen Kriterien stellen Konzerthäuser eigentlich ihr Programm zusammen? Sie analysierten eben nicht nur Notenblätter hinterm Schreibtisch, sondern traten mit den Häusern in Kontakt.

    Doch auch die Q-Tutorien funktionieren nicht ohne systemgerechte Belohnung. Die Studenten können sich die Teilnahme anrechnen lassen, sagt Wolfgang Deike. Zumindest die meisten.

    "Aber es gibt Studiengänge, die ganz klar sagen: o. k., du willst vielleicht Sprachen machen oder so ein Q-Tutorium besuchen. Aber wir empfehlen dir lieber den Einführungskurs XYZ, der ist nämlich wichtig. Und damit ist dein Wahlbereich schon relativ dicht."

    Im Klartext: Nicht alle Fachbereiche unterstützen die Q-Tutorien, nehmen sie wirklich ernst. Bei Juristen und Medizinern zum Beispiel gibt es Probleme mit der Anerkennung. Mit der Konsequenz, dass von dort quasi niemand teilnimmt. Salopp formuliert: Ohne Anreiz kaum Interesse – bestätigt auch Tutorin Sandra Reichert.

    "Damit Q-Tutorien besucht werden können, brauchen wir wirklich auch die Anrechenbarkeit. Das ist ganz wichtig. Wir sind mehr als ausgelastet. Und ich hab nichts von einem Zusatzprogramm, wenn ich´s nicht besuchen kann."

    Am Ende geht es den meisten Studenten eben doch darum, das zu belegen, was sie dem Abschluss näher bringt, und weniger, was sie interessanter finden. Die Unaufgeschlossenheit einiger Fachbereiche kann die Tutorin dennoch teilweise nachvollziehen. Die konventionelle Vorlesung hat eben auch ihre Berechtigung.

    "Es gibt einen Unterschied zwischen studentischer Lehre und der von Professoren. Und der liegt auch ganz klar im Wissensstand, den die jeweilige Person mitbringt. Und der ist dann doch bei Professoren meist deutlich höher als bei uns Studis. Deswegen: Ich bin nicht dafür, dass studentische Lehre jetzt alles andere ersetzen soll. Das auf gar keinen Fall."

    Nichtsdestotrotz: Die Macher wünschen sich, das Q-Programm zu erweitern und mehr als nur ein, zwei Dutzend Seminare pro Semester anbieten zu können. Die Nachfrage ist da, aber das Fördergeld natürlich begrenzt.