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Von süßen Weinen und leichtem Ziegenkäse

Der Süßwein aus dem Tokajer Land im Nordosten Ungarns wurde lange Zeit wenig geschätzt. Doch das hat sich geändert: Aus der maroden Zentrale des "Weinkombinats Tokaj" ist ein Schlosshotel für Feinschmecker geworden. Unter Gourmets herrscht Aufbruchstimmung.

Von Conrad Lay |
    Auf den Strommasten entlang der Hauptstraße brüten Störche. Hin und wieder kommt eine Pferdekutsche vorbei. Das Kleinstädtchen Tokaj schläft einen friedlichen Provinzschlaf. Der Name Tokaj ist Weinfreunden in den ganzen Welt bekannt, doch stammt der Wein nicht aus dem kleinen Städtchen, sondern wurde von den umliegenden Ortschaften hierher transportiert, um auf Theiß und Donau weiter verschifft zu werden. Zentrum des Weinbaus sind die Dörfer Mád und Tarcal, dort befand sich bis 1989 die Zentrale des staatlichen Weinkombinats.

    Hinter einer langen, hohen Mauer erwartet uns ein hochherrschaftliches Anwesen: Wir durchqueren den Schlosspark und stehen vor dem glänzend restaurierten Schlosshotel des ungarischen Grafen Degenfeld, eines der größten Grundbesitzer der Gegend. Miklós Stumpf, Geschäftsführer und Kellermeister des Weingutes Degenfeld, stammt von deutschen Vorfahren ab, spricht aber kein deutsch. Er zeigt auf ein Foto des Gebäudes:

    "Hier kann man sehen: Das ist das originelle Foto, so sah diese Lehranstalt für Winzer aus. Das kann man sehen auf diesem Foto, dass noch ein Geschoss dazugebaut wurde."

    Wie die Übersetzerin Biacsko Istvanne Györgyi erläutert, befand sich in der ehemaligen Lehranstalt die Zentralverwaltung des staatlichen Weinkombinats. Vor zehn Jahren wurde das Gebäude komplett restauriert. Für die hölzerne Dachkonstruktion des Kellergebäudes erhielt der Architekt einen Preis: Der "organische Stil" der Architektur war für das Weingut ein erster Schritt zu einem "organischen Wein", der sich an die Regeln des biologisch-dynamischen Ausbaus hält. Auf Bio umzustellen war die Idee des Besitzers, der deutsch-ungarischen Adelsfamilie Degenfeld. Allerdings, so räumt der Kellermeister ein, sei die Umstellung nicht einfach gewesen.

    "Was am schwierigsten war, ist die Denkweise umstellen. Das ist immer am schwierigsten. Denn zum Beispiel der Winzer, der hier 30 Jahre lang gearbeitet hatte, war gewohnt an die konventionelle Bewirtung. Eigentlich der Winzer, der Hauptwinzer, pflegte zu sagen: Er hatte seitdem, seit man auf diese Bio-Herstellung umgewandelt hatte, viel mehr graue Haare auf dem Kopf als früher."

    Tokajer Süßweine wieder international begehrt
    Das Ergebnis des heutigen Weinbaus kann sich sehen lassen: Inzwischen sind die Tokajer Süßweine wieder international begehrte Spezialitäten. Das neue Kellergebäude des Weingutes hat Platz für mehr als ein Dutzend fünf Meter hohe Edelstahltanks. Übersetzerin Biacsko Istvanne Györgyi weist auf einen unscheinbaren, kleinen Behälter daneben hin:

    "Das ist ein sehr interessanter Behälter. So wird ein ganz, ganz außerordentlicher Weintyp gemacht, sogenannte Essenz, Aszu-Ausbruch-Essenz, Tokaj-Ausbruch-Essenz. Wie funktioniert das? Sie können hier die Beeren, ganz geschrumpfte Beeren, also Aszu-Beeren, sehen, in diesem großen Behälter, Trockenbeeren."

    Ausschließlich vom eigenen Gewicht der Trockenbeeren sammelt sich unten in dem Behälter ein besonderer Nektar. Man weiß gar nicht, ob man dieses Getränk noch als Wein bezeichnen soll:

    "Es ist ganz ganz dick, sirupartig, wie der Honig. Der Restzuckergehalt ist 600 oder 700 Gramm pro Liter, das ist ungeheuer viel, wie der Honig, also ganz, ganz süß."

    Die Tokajer Essenz schmeckt so intensiv - und ist im übrigen so teuer -, dass Weinkenner sie nur in winzigen Schlucken zu außergewöhnlichen Anlässen genießen.

    Dann führt uns Geschäftsführer Stumpf in die historischen Keller des Weingutes. Die Pforte ist so breit, dass man früher einmal mit Pferdekutschen hineinfahren konnte.

    "Bei den großen Kellereien, sie haben ungeheuer große Schlüssel. Das ist typisch bei uns."

    Die Gewölbe des weitverzweigten Kellers sind mit einem schwarzen Pilz bedeckt. Der Edelschimmelpilz ernährt sich vom Alkohol, der aus den Weinfässern verdunstet. Aber der samtige Pilz überzieht nicht nur die Wände, sondern auch die Flaschen:

    "Sie können hier eine Flasche sehen aus dem Jahr 1996. Man kann bemerken, dass dieser Edelschimmelpilz auch an den Flaschen angesessen sind."

    Die Luftfeuchtigkeit ist so hoch, dass die Flaschen nicht liegen müssen, sondern stehen können. Trotzdem trocknen die Korken nicht aus.

    "Ganz interessant, das sind Aszu-Raritäten im Besitz der Familie Degenfeld. Zum Beispiel dieser Aszu-Essenz, worüber wir erzählt haben, stammt noch aus dem Jahr 1947."

    Vulkanische Hügellandschaft an den Ausläufern der Karpaten
    Das Tokajer Weinbaugebiet ist eine vulkanische Hügellandschaft, die Berge sind Ausläufer der Karpaten. In dieser klimatisch geschützten Nische entsteht ein Mikroklima, das mit seiner Feuchtigkeit gute Bedingungen für Edelfäule und Trockenbeeren bietet.

    Vorbei an Weinbergen und Maisfeldern fahren wir in Richtung Vulkanberge. Am Fuß der Berge biegen wir in einen unbefestigten Feldweg ein. Hier ist Enikö Balla aufgewachsen, deren Ziegenkäse in Slow food- und Gourmetkreisen geschätzt wird. Einige der umliegenden Weinberge sind nicht mehr bewirtschaftet: aus dem Niemandsland wurden im Lauf der Jahre wilde Bergwiesen.

    "Ich habe das Glück, dass es hier sehr viel freie Flächen gibt, wilde Bergwiesen, wo sehr schöne Kräuter wachsen, einmal habe ich gezählt: Wenn ich stehe, dann wachsen um mich herum sieben verschiedene Blumen. Gehe ich paar Schritte, dann kann ich schon 21 verschiedene Blumen zählen. Davon leben die Ziegen. Und wenn sie die Möglichkeit haben, selber auszuwählen, die essen auch nicht jeden Tag etwas der gleichen Farbe oder die gleichen Büsche, die lieben Abwechslung und die haben Launen."

    Nach 23 Jahren Deutschland ist Enikö Balla wieder in ihre ungarische Heimat zurückgekehrt, dorthin, wo sie bei ihren Großeltern aufgewachsen ist. Heute lebt sie hier mit 41 Ziegen und ein paar Hunden und Katzen.

    "Manchmal denke ich, wären nicht meine Ziegen, wäre das so eine halbtote Landschaft. Die beleben das. Die fressen die Büsche ab, das verwildert nicht so schnell. Vielleicht. Na ja, von der Landschaft her könnte ich viel mehr Ziegen haben, die haben genug Platz. Die können stundenlang wandern, und wir treffen keinen Menschen, gar nichts. Der einzige, meine Konkurrenten sind die Jäger, die mittlerweile diese Gegend entdeckt haben, in den ersten Jahren kamen keine Jäger, da konnte ich rumwandern, wo ich wollte."

    Inzwischen muss die Ziegenhirtin aufpassen, dass es nicht zu einem Jagdunfall auf den Bergwiesen kommt.

    "Im Winter, wenn es neblig ist und ich am Waldrand bin, dann singe ich ganz laut (lacht). Weil singende Rehe hat bis jetzt noch keiner gesehen!"

    Inzwischen drängen sich die Ziegen am Tor zusammen, sie wollen raus, die Bergwiesen warten auf sie.

    "War ich elf Jahre, als ich dieses Paradies verlassen musste, weil mein Vater meinte, ich soll in der Stadt zur Schule gehen und Sprache lernen und Klavier spielen und Ballettunterricht und alles, was dazugehört zu einem Stadtmädchen."

    Jahrzehntelang lebte Enikö Balla in Budapest und später in Deutschland und der Schweiz. Doch der Traum der glücklichen Sommertage am Rande der Tokajer Vulkanberge war ihr geblieben.

    "An den Sommer habe ich mich immer zurückerinnert, weil wir haben unendlich viele Obstbäume. Es fing mit den Kirschen an, ging über auf die Aprikosen, dann auf die Frühbirnen, Spätbirnen, Frühäpfel, Spätäpfel, die Trauben, die Trauben, und nochmal die Trauben und dann nochmal die Äpfel - endlos. Und das hat auch alles ganz gut geschmeckt immer, ich glaube, deshalb hatte ich später keine Schwierigkeiten, einen Qualitätsunterschied machen zu können, was ist schmackhaft und was ist nur schön."

    Ein absoluter Geheimtipp im Tokajer Land
    Heute gilt Enikö Balla als absoluter Geheimtipp im Tokajer Land. Ihr Ruf hat sich in halb Ungarn verbreitet, insbesondere aber in der Budapester Gourmetszene. Alle wollen sie sehen, wollen wissen, wer diesen superleichten Ziegenkäse mit dem außergewöhnlichen Geschmack herstellt.

    "Alle (lacht)! Einmal kommen alle vorbei, ob es Ministerpräsident mit Familie, der beste Weinmacher, der beste Koch, also einmal kommen alle vorbei. Irgendwie - ganz verstehe ich das nicht, wieso diese Arbeit, was ich so vor mich hinmache und ohne große Reklame und ohne große ... weiß ich nicht ... nach außen gehen, so richtig vor mich hin arbeite, wieso das so ein Interesse wecken kann. Weiß ich nicht ..."

    Auch Starkoch Eckart Witzigmann wollte bei einem Ausflug nach Tokaj von ihrem Käse kosten.

    "Den habe ich auch getroffen, er war hier in der Gegend, bei einer Weinprobe. Ich wurde gebeten, mit Käse dort vorbeizukommen, und er war höchst beeindruckt, muss ich sagen. Er hat gesagt, mit so was habe ich hier nicht gerechnet. Gut, ich habe auch einen sehr schönen Teller für ihn gemacht (lacht)."

    Die Besonderheit ihres Käses? Er schmeckt so fein und leicht, dass man ihn für ein süßes Dessert verwenden kann. Animalisch streng schmecke Ziegenkäse nur, so meint Enikö Balla, wenn die Tiere nicht richtig gehalten würden, wenn sie unter Stress stünden oder nicht genügend Auslauf hätten.

    "Meine Käse, also die Frischkäse, sind sehr - etwas Leichtes ist drin, etwas Leichtes. Der Cremekäse ist fast etwas Schäumiges, Cremiges, der zerfließt auf der Zunge - überhaupt keine Schärfe drin. Man fühlt nur die Leichtigkeit, die ich bei den Ziegen schätze, weil die an den Büschen gerne fressen, die Blumen essen. Also die essen nicht das Gras unten bis zum Boden wie ein Pferd, die Schafe oder Kühe, sondern die sind leicht, in den Blumen ständig - ständig, die wählen sich aus."

    Die geschmackssichere Ziegenhirtin mit internationaler Erfahrung orientiert sich bei ihrer Rezeptur an französischen Weichkäsen. Ungarische Bergwiesen plus französische Rezepte plus die Philosophie der Leichtigkeit: diese Mixtur schätzen die Budespester Feinschmecker. Dafür kann Enikö Balla es sich sogar leisten, auf eine Öko-Zertifizierung zu verzichten:

    "Mein Zertifikat ist meine Erscheinung und mein Hof, und ich garantiere mit meinem Gesicht."

    Sagt's und streicht sich eine der schulterlangen Haarsträhnen aus dem sonnengegerbten Gesicht.