Dienstag, 21. Mai 2024

Archiv


Von Tilsit nach Sowjetsk

Der Frieden von Tilsit veränderte die Landkarte Europas und trug bereits den Keim neuer Kriege in sich. Auf einem in der Memel verankerten Pontonboot vereinbarten Napoleon und Zar Alexander I. 1807 die Aufteilung Osteuropas in eine französische und eine russische Einflusssphäre.

Von Henning von Löwis | 07.07.2007
    14. Juni 1807: Auf dem Schlachtfeld von Friedland in Ostpreußen steht 80.000 französischen Soldaten unter Führung von Kaiser Napoleon Bonaparte ein 60.000 Mann starkes russisch-preußisches Heer gegenüber, das von General Levin August von Bennigsen befehligt wird. Es gelingt den Franzosen, die russische Streitmacht nach heftigem Widerstand über die Alle zurückzuwerfen.

    Die letzte Schlacht des Vierten Koalitionskrieges endet mit einem klaren Sieg für Napoleon Bonaparte. Friedrich von Löwis of Menar, Russisch-Kaiserlicher General-Lieutenant resümiert:

    "Die russischen Truppen wehrten sich 14 Stunden lang mit der größten Tapferkeit, eroberten eine Fahne und tödteten denen Franzosen viele Menschen, aber da am Abend frische Truppen in Menge ankamen, musste die russische Armee endlich weichen! Mit einem Verluste von 10.000 Mann zog sie sich über Alle und Pregel ohne verfolgt zu werden nach Tilsit zurück - wo sie über den Memel-Strom ging und die Brücke auf dem selben abbrandte."

    17. Juni 2007: Französische Kürassiere stürmen voran. Preußische Dragoner formieren sich zur Attacke. Soldaten der russisch-preußischen Koalitionsarmee schwingen die Säbel. Kanonendonner und Pulverdampf.

    Die Schlacht von Friedland als farbenprächtiges Schauspiel im Flusstal der Alle. Russen und Franzosen, unterstützt von Mitgliedern militärhistorischer Vereinigungen aus vieler Herren Länder, spielen nach, was vor 200 Jahren anno 1807 so oder ähnlich abgelaufen sein mag. Rund 20.000 Schaulustige haben sich eingefunden, um das glücklicherweise unblutige Kampfgeschehen zu verfolgen, darunter die Nachfahren einstiger Friedland-Kämpfer Napoleons.

    Russland hat in der Schlacht von Friedland nicht gesiegt, aber der Hauptverlierer heißt Preußen. F.C. Schlosser, Professor der Geschichte zu Heidelberg, in seiner 1848 erschienenen "Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts und des neunzehnten bis zum Sturz des französischen Kaiserreichs":

    "Von Preußen konnte nach der Schlacht bei Friedland gar die Rede nicht mehr sein, und es war ein großes Glück, dass ein so weicher, edler, des Gefühls der Liebe und Freundschaft fähiger Fürst wie Alexander, in Russland herrschte, sonst wäre Preußen ganz verloren gewesen. [...] Benningsen ward jenseits der Alle nicht sehr lebhaft verfolgt, er ging am 19. über den Niemen und brannte die Brücken hinter sich ab, gleich hernach traf Napoleon in Tilsit ein."

    Zwei "hübsche Pavillons" mitten auf der Memel, über denen die französische und die russische Fahne weht, über den Eingangstüren im Süden ein "N" für Napoleon, im Norden ein "A" für Alexander. Die Wände der Pavillons mit "Musselin" verkleidet. Sessel und Stühle hat man aus der Tilsiter Loge "Luise zum aufrichtigen Herzen" geholt.

    Das ist der Schauplatz, auf dem das Schicksal Preußens besiegelt wird. Napoleon will nicht mehr und nicht weniger als Preußen vernichten. Und dazu sucht er den Schulterschluss mit dem Feind von gestern.

    Schon bei der ersten Begegnung scheint das Eis gebrochen. Alexander ist fasziniert von Napoleon und der Korse angetan vom Zaren, wie er in einem Brief an Kaiserin Josephine zum Ausdruck bringt.

    "Meine Liebe, ich habe eben den Kaiser Alexander kennen gelernt, und ich bin mit ihm sehr zufrieden, denn er ist ein schöner, guter und junger Kaiser. Er hat mehr Geist, als man im allgemeinen erwartet."

    So zuvorkommend sich Napoleon gegenüber Alexander verhält, so frostig verläuft die Begegnung mit Preußen-König Friedrich Wilhelm III. am 26. Juni auf der Memel. Alexander bemüht sich nach Kräften Brücken zu bauen, doch die Kluft bleibt tief zwischen Napoleon und Friedrich Wilhelm. Beiden gelingt es nicht, die gegenseitige Abneigung zu verbergen.

    Und so wird denn auch nur Alexander von Napoleon zum Diner im französischen Hauptquartier in Tilsit eingeladen. An seine Garde gibt Napoleon die Parole aus:

    "Alexander, Russland, Größe!"

    Im Prinzip sind sich Frankreich und Russland schnell einig, um die Details des Friedens von Tilsit wird lange und heftig gerungen. Alexander bemüht sich, Preußen vor dem Schlimmsten zu bewahren. Doch Napoleon zeigt sich fest entschlossen, der Großmacht Preußen mit Hilfe Russlands den Garaus zu machen. Und bei der Verwirklichung seiner Pläne lässt er sich von nichts und niemandem beirren. Auch nicht von einer schönen Königin.

    Als das Unheil von Tilsit kaum mehr abzuwenden ist, wird Königin Luise sozusagen als Preußens letzte Geheimwaffe an die Memel geschickt. Aus der Sicht Königin Luises ist Napoleon

    "'Quell alles Bösen', 'ein Ungeheuer', 'ein höllisches Wesen, das sich aus dem Kot emporgeschwungen hat'."

    Napoleon weiß, dass er nichts zu verlieren hat, dass er nur gewinnen kann. Warum soll er da Königin Luise aus dem Weg gehen?

    6. Juli 1807: Justizkommissionsrat Ernst-Ludwig Siehr notiert in seinem Tagebuch:

    "Endlich hat man das merkwürdigste Ereignis gesehen, die Königin zum Napoleon kommen. […] Der Kaiser empfing sie am Wagen, hob sie aus demselben und führte sie an der Hand gefasst die Treppe herauf. Die Königin trug ein weißes Kleid mit Silber durchwirkt. Der König kam zu Pferde hinter dem Wagen. Alexander war schon beym Napoleon. Um 8 Uhr wurde gegessen, und um halb 10 Uhr entfernte sich das Königliche Paar. Die Königin hat ihr Quartier nicht bezogen, sondern ist mit dem Könige wieder nach Picktupöhnen gefahren."

    Hat Napoleon Königin Luise zum Abschied eine Rose überreicht? Oder ist das nur eine Legende - von vielen? Hat die Königin dem Kaiser wirklich ins Gesicht gesagt?

    "Sire, vous m'avez cruellement trompée!" - "Sire, Sie haben mich grausam getäuscht!”"

    Fest steht, Luises Mission an der Memel war kein Erfolg beschieden. Der Historiker Professor Wolfgang Stribrny:

    ""Königin Luise hat versucht, hier Napoleon zu bewegen, wenigstens Magdeburg und die Altmark an Preußen zurückzugeben oder sie Preußen zu belassen. Das ist gänzlich vergebens gewesen. Napoleon hat sich nicht von ihr in irgendeiner Weise beeinflussen lassen. Sie hat eigentlich eine traurige Rolle gespielt. Aber im Bewusstsein der Preußen hat man ihren Gang nach Tilsit zu Napoleon als Opfergang verstanden und hat sie desto mehr verehrt."

    Die Verträge zwischen Frankreich und Russland vom 7. Juli 1807 und zwischen Frankreich und Preußen vom 9. Juli 1807, der Tilsiter Frieden, er markiert den Höhepunkt französischer Vorherrschaft in Europa.

    "Für Preußen bedeutete er die schlimmste Niederlage und das Ende der preußischen Großmachtstellung - vorläufiges Ende jedenfalls bis 1813. Preußen hat ja alle Gebiete westlich der Elbe verloren, hat östlich der Elbe auch große Einschränkungen auf sich nehmen müssen. Es bestand nur noch aus den Provinzen Ostpreußen, Westpreußen, Pommern, Schlesien und der Mark Brandenburg."

    Napoleon hatte es darauf angelegt, Preußen zu schwächen und zu demütigen, Europa in eine französische und in eine russische Einflusssphäre aufzuteilen. Als Machtfaktor in Europa sollte Preußen ausgeschaltet werden.

    Der Friede von Tilsit enthielt, wie Franz Mehring es formulierte, "die unzerstörbaren Keime neuer Zwietracht". Er schuf die Grundlage für das, was später so oft als "Erbfeindschaft" zwischen Deutschland und Frankreich apostrophiert wurde.

    Im Jahre 200 nach Tilsit pilgern die Jünger Napoleons an die Memel und machen sich auf Spurensuche in einer Stadt, die seit 1946 Sowjetsk heißt und als Teil des Kaliningrader Gebietes heute Teil Russlands ist.

    "Ich bin nach Tilsit gekommen, weil Napoleon vor mir gekommen ist, auf den Spuren des Tilsiter Friedens. Tilsit ist ein Symbol des Weltfriedens."

    Er sollte nur von kurzer Dauer sein - der Tilsiter Friede. Und es war wie die sowjetische Geschichtsschreibung nachdrücklich betonte ein erzwungener Frieden. Solange es noch eine Sowjetunion gibt, ist der Tilsiter Friede in Tilsit beziehungsweise Sowjetsk kein Thema. Nichts und niemand erinnert an das Geschehen von 1807. Stalins Beute-Provinz Ostpreußen ist hermetisch abgeriegelt vom Rest der Welt - geschichtslos und zunehmend gesichtslos.

    Der Kopf von Königin Luise im Portal der 1907 errichteten und 1944 von deutschen Pionieren gesprengten Königin-Luise-Brücke wird durch das Sowjetwappen ersetzt.

    Tilsit 2007: Der Stadtsender von Sowjetsk meldet sich als "Tilsiter Welle". Im Stadtwappen: die Königin-Luise-Brücke. Hammer und Sichel sind getilgt aus dem Brückenportal. Königin Luise ist zurückgekehrt an die Memel, blickt auf die Grenzgänger, die hier von Russland nach Europa gehen, zu Fuß gehen können, was nur in Tilsit möglich ist, der "Stadt ohne Gleichen", wie sie zu deutscher Zeit genannt wurde.

    "Das ist jetzt Grenzgelände. Von dieser Seite kann man die Brücke fotografieren. Das Grenzgelände bitte nicht. Es ist die russische Seite, Abfertigung, Passkontrolle und Zollkontrolle. Und auf der anderen Seite ist die litauische Kontrolle. Jetzt verläuft die Grenze auf der Mitte des Flusses. Früher war es ein Land."

    Grenzstadt Tilsit: Drüben am anderen Ufer der Memel liegt EU-Europa - zum Greifen nahe und doch ohne Visum unerreichbar. Tilsit - Schauplatz europäischer Geschichte und russischer Gegenwart. Der ideale Standort für Grenzerfahrungen und Geschichtslektionen.

    Erste Lektion: 1807 und die Folgen. Georgi Ignatov, Direktor des Historischen Stadtmuseums:

    "Wir leben jetzt in der Stadt, die im Jahre 1807 in der ganzen Welt bekannt wurde. Das war ein großer Sieg der russischen Diplomatie. Diese Diplomatie konnte den Krieg aufbrechen und den Frieden bekommen für kurze Zeit - aber trotzdem: Pause im Krieg."

    Geschichte wird nicht länger entsorgt in Tilsit, sie wird neu interpretiert, umgeschrieben, und wenn es sich denn anbietet, vermarktet.

    Jener Vertrag, den Alexander vor 200 Jahren mit Napoleon abschloss, wurde lange Zeit in Russland und der Sowjetunion als ein Pakt mit dem Teufel angesehen. Heute erinnert ein Gedenkstein auf dem einstigen Fletcherplatz unweit der Königin-Luise-Brücke an den Tilsiter Frieden. Die Initiative zur Errichtung des Gedenksteins in Sowjetsk ging von ehemaligen Tilsitern in Deutschland aus. Horst Mertineit, Vorsitzender der Stadtgemeinschaft Tilsit:

    "Dieser Gedenkstein kam zustande bei unserem ersten Besuch, da sagte ich den Russen: Was wir versäumt hatten als Deutsche, als Preußen, nämlich einen Gedenkstein an den Tilsiter Frieden hinzustellen, jetzt macht ihr das doch mal. Und der wurde eingeweiht. Da wurde die russische, die französische und die deutsche Nationalhymne gespielt."

    Tilsiter Geschichten - Tilsiter Geschichte. Das ist immer wieder 1807. Ganz besonders im Jubiläumsjahr 2007. Auf riesigen Plakatwänden die Bildnisse der Hauptakteure von damals: Alexander, Napoleon, Friedrich Wilhelm III. und nicht zu vergessen die im russischen Ostpreußen besonders verehrte Königin Luise.

    Das Deutsch-Russische Haus in Königsberg zeigt zum Tilsit-Jubiläum eine Ausstellung mit Literatur über Luise. Für Peter Wunsch, Direktor des Hauses, ist Luise eine ideale Brückenbauerin zwischen Deutschland und Russland:

    "Luise ist ganz klar jemand, der sowohl der deutschen als auch der russischen Geschichte als Identifikationsfigur und verbindendes Element gelten kann. Sie war ja eine ganz bezaubernde Person und hat es geschafft, nicht nur die Herrschenden der damaligen Welt, sondern auch die Beherrschten der damaligen Welt es dazu bringen zu lassen, ihr quasi freiwillig zu Füßen zu liegen."

    Die Stadtväter von Sowjetsk setzen den Akzent des Jubiläums auf Frieden. In einer Stadt, die im Zweiten Weltkrieg, zu 44 Prozent zerstört, von 14 Luftangriffen heimgesucht wurde, hat das Wort Frieden einen ganz besonderen Klang.

    Die Jubiläumsfeiern seien eine Manifestation für den Frieden, unterstreicht Taisia Mordvinova, Kulturreferentin der Stadt Sowjetsk. Daher habe man viele Gäste eingeladen aus Frankreich, Deutschland, Polen und Litauen. Konferenzen, Umzüge in historischen Kostümen und die Wahl einer hübschen jungen Königin, selbstverständlich "Miss Luise", stehen auf dem Festprogramm, das drei Tage dauert.

    An den Welteneroberer und -zerstörer Napoleon erinnert nichts in Tilsit - außer einer sogenannten Napoleon-Linde. Zar Alexander I. hat man das Tilsiter Tête-a-Tête mit dem Korsen verziehen, leistete er doch später einen entscheidenden Beitrag zur Befreiung Russlands und Europas.

    Grund genug, 200 Jahre nach dem Frieden von Tilsit in Sowjetsk den Grundstein zu legen für ein Alexander-Denkmal. Alexander wird Lenin wohl kaum verdrängen aus Tilsit. Der Gründer des untergegangenen Sowjetstaates ist bis heute die beherrschende Figur im Stadtbild von Sowjetsk. Weitaus beliebter allerdings: der Tilsiter Elch, der 2006 nach langjähriger "Gefangenschaft" im Königsberger Zoo in seine Heimatstadt an der Memel zurückkehrte.

    Was den Tilsiter Frieden angeht, so hat sich Lenin in aller Deutlichkeit dazu geäußert:

    "Als Napoleon I. im Jahre 1807 Preußen den Tilsiter Frieden aufzwang, da hatte der Eroberer alle Armeen der Deutschen vernichtet, die Hauptstadt und alle großen Städte besetzt, seine eigene Polizei eingeführt, die Besiegten gezwungen, ihm Hilfstruppen zur Führung neuer Raubkriege zur Verfügung zu stellen. Da hatte er Deutschland zerstückelt und mit den einen deutschen Staaten Bündnisse gegen andere deutsche Staaten geschlossen. Und nichtsdestoweniger, sogar nach einem solchen Frieden, hat sich das deutsche Volk behauptet, hat es verstanden, seine Kräfte zu sammeln, sich zu erheben und sich das Recht auf Freiheit und Selbstständigkeit zu erkämpfen."

    Am 25. Februar 1947 - 140 Jahre nach dem Tilsiter Frieden - wurde Preußen per Kontrollratsbeschluss der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges für aufgelöst erklärt. Im Jahre 2007 erinnert man im russischen Ostpreußen daran, dass es Reußen und Preußen waren, die Seite an Seite kämpften, unterlagen und letztlich siegten.

    Der Tilsiter Friede war zweifellos alles andere als ein Ruhmesblatt europäischer Diplomatie. Er war nach Einschätzung Franz Mehrings für Napoleon, "der große Sündenfall seines Lebens" und damit Etappe auf dem langen Marsch zur Befreiung Europas vom napoleonischen Joch.

    Für Preußen wirkte das Trauma von Tilsit als Weckruf, den Staat zu reformieren und zu neuen Horizonten aufzubrechen. Wolfgang Stribrny:

    "Es hat langfristig Spuren hinterlassen, weil die preußischen Reformen die Antwort auf die Niederlage und den Frieden von Tilsit waren, die preußischen Reformen, von denen ein Hauch beseeligender Frische, wie ein Historiker der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sagte, bis heute davon ausgeht."

    Für einen kurzen Augenblick wurde Tilsit 1807 vom Wind der Weltgeschichte gestreift. Niemand konnte damals ahnen, dass 200 Jahre später die Brücke über die Memel, die Königin-Luise-Brücke, Tor nach Europa sein würde und Tilsit eine Stadt in Russland, die noch Sowjetsk heißt, aber alles tut, um das Erbe von Tilsit anzutreten - der "Stadt ohnegleichen".

    "Die Vaterstadt" - Von Johannes Bobrowski

    "Gewaltig geht der Strom durch seine Triften.
    Da drängt umwaldet sich der Berg heran,
    und die geliebte Stadt fängt irgendwann
    mit ihren Gärten, ganz aus Fliederdüften,
    und ihren hellen alten Häusern an.

    Die Straßen wandern hügelab, bis heiter
    ein Platz sie aufnimmt, breit, dem Ufer nah.
    Und überschwingend weit den Strom und weiter
    ins Land ausgreifend steigt die Brücke da
    in Bögen auf ins Sonnenhelle, ja
    aufleuchtend höher, eine Himmelsleiter."