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Von Troja nach Rom

Die "Aeneis" von Vergil zählt zu den Grundtexten der europäischen Literatur. Das im klassischen Hexameter-Versmaß geschriebene Epos in zwölf Büchern wurde zur römischen Nationaldichtung. Die ersten Übertragungen der "Aeneis" ins Deutsche stammen schon aus dem frühen 16. Jahrhundert. Nun sind zwei neue Übersetzungen in Prosa erschienen.

Von Peter Urban-Halle |
    Die "Aeneis" des Vergil hat eine interessante Karrierekurve, wenn man so sagen darf. Der römische Kaiser Augustus soll ihm den Auftrag gegeben haben, eine unmittelbare Verbindung zwischen Troja und Rom aufzuzeigen; Augustus führte sein Geschlecht auf die Göttin Venus zurück, griechisch Aphrodite, die Mutter des trojanischen Kriegers Aeneas. Es war also von vornherein das Schicksal der "Aeneis", ein Gründungs- und Nationalmythos zu werden. Ihr literarischer Ruhm verbreitete sich rasch, bis zum Barock war sie der Maßstab für große Dichtung schlechthin. Im 18. Jahrhundert aber begann die sogenannte Vergil-Krise. Sie wurde 1755 durch den Kunsthistoriker Winckelmann und sein Stichwort von der "edlen Einfalt und stillen Größe" der griechischen Kunst ausgelöst. Lessing und Herder schlugen in dieselbe Kerbe: "Römische Dichtung sei bloße Nachahmung". Erst im 20. Jahrhundert kam die Vergil-Renaissance, der englische Dichter T. S. Eliot nannte Vergil einen Klassiker ganz Europas, und der Kulturkritiker Theodor Haecker erhob ihn gar zum "Vater des Abendlands".

    Freilich war auch Vergil bewusst, dass die griechische Kultur auch nach der politischen Deklassierung Griechenlands weiterhin vorherrschend war.

    "Arma virumque cano, Troiae qui primus ab oris
    Italiam fato profugus Laviniaque venit litora"

    So auf Latein der berühmte Anfang: Das Epos singt von Aeneas, dem Mann, und seinen Waffentaten. Indem Vergil sich Homer zum Vorbild nimmt, "greift er auf das Muster aller Epik zurück", wie es in Edith und Gerhard Binders Nachwort heißt. Aeneas, der seinen Vater Anchises und seinen Sohn Ascanius aus dem brennenden Troja rettet und schließlich das Römische Reich begründet, ist einerseits der menschliche Held und andererseits der übermenschliche Schicksalserfüller, er steht zwischen Eigenleistung und Vorbestimmung. Er soll die überlebenden Trojaner übers Meer führen, da schickt die feindliche Göttin Juno einen Sturm, der ihn freilich in die Arme der karthagischen Königin Dido treibt. Aber die Vorbestimmung lässt nicht locker, er muss sie wieder verlassen, und bevor sich Dido aus Kummer erdolcht, spricht sie den Fluch aus, der zur ewigen Feindschaft zwischen Karthago und Rom führen sollte:

    "Keine Liebe soll sein zwischen den Völkern, auch kein Bündnis", "

    heißt es in Gerhard Finks Übertragung. Der Luzerner Altphilologe Kurt Steinmann sagte, die Prosaübersetzung opfere den Vers, weil sie das dokumentarische Übersetzen zum Prinzip erkläre, aber ein Versepos ohne sein Metrum verliere etwas Elementares. Die beiden vorliegenden Prosaübersetzungen nun wagen das scheinbar Unmögliche. Beide achten nämlich zumindest auf einen Rhythmus. Und beide sind flüssig zu lesen und bleiben trotzdem so eng am lateinischen Text, dass man dem Prozess der Übersetzung gut folgen kann. Das Ehepaar Binder benutzt einen eher gehobenen Wortschatz, ihre Übertragung ist im klassischen Sinn schöner, der antike Vergil spürbarer.

    Zwei winzige Beispiele. Im berühmten sechsten Buch steigt Aeneas zu seinem mittlerweile verstorbenen Vater hinab. Charon, der Fährmann in die Unterwelt, wird von den Binders so beschrieben:

    ""Abstoßend in grässlichem Schmutz: Reichlich graues Haar liegt ihm ungepflegt ums Kinn, starr glühen seine Augen."

    Und von Fink:

    "Schauderhaft starrend vor Schmutz, Charon, dessen Kinn ein verwilderter grauer Bart deckt, er stiert aus glühenden Augen."

    Und kurz zuvor erreicht der Held mit seinen Troern den italischen Ort Cumae, wo die prophetische Priesterin Sibylle residiert und sich ein Tempel befindet. Die Zeile "iam subeunt Triviae lucos atque aurea tecta" übersetzen die Binders so:

    "Schon kommt man zum Hain der Trivia mit seinem goldgeschmückten Tempel."

    Gerhard Fink schreibt:

    "Schon betreten die Troer Dianas Hain und den goldenen Tempel."

    Das ist nüchterner und gleichzeitig erklärender. Finks Übersetzung will uns in erster Linie präsentieren, was der Text mitteilt - ohne allerdings damit den poetischen Zauber von Vergils Latein zu eliminieren. Seine Sätze sind kürzer und verständlicher. Fink war Lateinlehrer, er hat andere, jüngere, Leser im Blick und wendet sich an ein breiteres Publikum. Dennoch wurde keine Stelle gefunden, an der er gedankenlos heutige Umgangssprache übernähme; er vergreift sich nicht im Ton. Ursprünglich bei Artemis & Winkler für stolze 55 Euro erschienen, liegt nun eine billige Ausgabe für knapp 10 Euro vor, ebenfalls zweisprachig, allerdings ohne Nachwort und ohne Anmerkungen.

    Auch der Binder-Übersetzung, erschienen in der schönen Reihe "Reclam Bibliothek", fehlt etwas, und zwar ausgerechnet der ausführliche Kommentar mit Deutungen, Erinnerungen und Querverweisen, der in der Ausgabe als Reclambändchen am meisten gelobt wurde. Dafür gibt es weiterhin den ausgezeichneten Anhang, der die Eigennamen erklärt und nützliches Kartenmaterial und eine reiche Literaturliste bietet, vor allem aber ein erhellendes Nachwort über Autor, Werk und Rezeption.

    Vergil: Aeneis
    Zweisprachig. Aus dem Lateinischen und mit einem Nachwort von Edith und Gerhard Binder. Philipp Reclam jun., Stuttgart 2009. 884 S., 34,90 Euro

    Vergil: Aeneis
    Zweisprachig. Aus dem Lateinischen von Gerhard Fink. Albatros Verlag, Düsseldorf 2009. 617 S., 9,95 Euro