Freitag, 19. April 2024

Archiv


Von Uhrmachern, Genforschern und versehentlichen Flugzeugabschüssen

"Ich habe da so meine Vorbilder, zum Beispiel Daphne du Maurier oder Patricia Highsmith, die diese Kunst, auf Nicht-Roman-Länge eine filmreife Geschichte zu erzählen, perfektioniert haben." Mit "Auf offenem Meer" steigt die Österreicherin Bettina Balàka nun selbst in die erste Reihe der Gegenwartsautoren auf.

Von Günter Kaindlstorfer | 09.08.2010
    Pflanzenkundliche Kompetenzen können lebensgefährlich sein. Diese Erfahrung musste der sowjetische Biologe und Genetiker Nikolai Iwanowitsch Wawilow machen, der 1940 wegen "Hochverrats, Sabotage und Zerrüttung der sowjetischen Landwirtschaft" zum Tod verurteilt wurde. Grund für den Unrechtsspruch: Wawilow hatte die Theorien des stalinistischen Chef-Biologen Trofim Lyssenko kritisiert, der – mit zum Teil gefälschten Forschungsergebnissen – die "Vererbung erworbener Eigenschaften" postuliert hatte.

    Die Existenz von Genen zu behaupten, so Lyssenko, sei unsozialistisch. Dass Wawilow, ein international renommierter Biologe, ihm widersprach, besiegelte letztlich sein Schicksal.

    Bettina Balàka hat das tragische Ende des Nikolai Iwanowitsch Wawilow nun zum Ausgangspunkt für eine brillante Erzählung genommen. "Titanic" heißt der Text etwas missverständlich, er bildet den Auftakt zu Balàkas bemerkenswertem Erzählband.

    "Der Gefangene Wawilow schien mir vom ersten Augenblick an ein äußerst sympathischer Mensch zu sein, und von daher tat es mir wirklich sehr leid, ihn sterben zu sehen."

    Balàkas Erzählung beginnt mit einem ungeheuerlichen Satz von Tschechowscher Lakonie. Die 44-jährige Autorin erzählt die Geschichte des Gefangenen Wawilow aus der Perspektive des stellvertretenden Gefängnisdirektors von Saratow, eines stalinistischen Technokraten, der den berühmten Biologen und Botaniker zwar menschlich sympathisch findet, als pflichtbewusster Büttel der sowjetischen Terror-Maschinerie aber leider, leider mithelfen muss, ihn als Volksschädling auszumerzen.

    Dass der Wissenschafter Wawilow die Wahrheit propagierte und sein Gegenspieler Lyssenko den – ideologisch motivierten – Irrtum, ist eine der bitteren Pointen, die Balàka an dieser Geschichte interessiert haben.

    "In erster Linie interessiert hat mich das Phänomen eines Menschen – und es gibt ja viele solcher Fälle in der Wissenschaftsgeschichte -, der recht hat, und zwar in einem beweisbar-naturwissenschaftlichen Sinne, und rundherum sagen alle: Du hast unrecht."

    Die Auftaktgeschichte zu Balàkas Erzählband ist ein Meisterwerk. Auf vierzig Seiten gelingt es der Autorin, die Mechanismen totalitärer Herrschaft mit seziermesserhafter Präzision bloßzulegen. Im Zentrum des Geschehens steht die Beziehung zwischen dem stalinistischen Gefängnisdirektor und dem Häftling Wawilow, der zuletzt doch noch zu zwanzig Jahren Arbeitslager begnadigt wird, dann aber im Zuchthaus schließlich verhungert.

    Der namenlose Gefängnisdirektor ist eine ambivalente Figur. Einerseits erscheint der Mann als kommunistischer Idealist, fest davon überzeugt, sein Teil zum Aufbau des Sozialismus beizutragen, andererseits zeichnet Balàka ihn als stalinistischen Bluthund, der sich mit sadistischer Kälte an den Qualen seiner Opfer ergötzt. Daneben ist dieser Technokrat des Massenmords natürlich ein liebevoller Familienvater, der sich nach Kräften bemüht, seine schwangere Ehefrau durch die Hungerzeiten des Zweiten Weltkriegs zu bringen.

    "In diesem Gefängnisdirektor habe ich darstellen wollen, dass er es ja auch gut meint. Er lehnt ja den Rassismus ab, indem er die Genetik ablehnt, und insofern muss er Wawilow als Volksfeind betrachten, weil er eine in seinen Augen völlig falsche Ideologie vertritt. Diese Komplexität, die das Böse nicht so eindeutig zeigt, die hat mich interessiert. Dass Menschen, die nach bestem Wissen und Gewissen davon überzeugt sind, Gutes zu tun, dass auch diese Menschen Böses tun können, ist ja aus der Geschichte wohlbekannt. In diesem Gefängnisdirektor habe ich das noch einmal dargestellt."

    Dass Bettina Balàka eine exzellente Short-Story-Autorin ist, demonstriert sie auch in den anderen fünf Geschichten des Bandes, wenngleich die erste Erzählung die anderen an Eindringlichkeit noch ein Stück übertrifft.

    Dem Genre der Kurzgeschichte, so die Autorin, gehöre ihre besondere Zuneigung.

    "Ich hab da so meine Vorbilder, zum Beispiel Daphne du Maurier oder Patricia Highsmith, die diese Kunst, auf Nicht-Roman-Länge eine filmreife Geschichte zu erzählen, perfektioniert haben."

    Vorbilder, hinter denen sich Bettina Balàka nicht zu verstecken braucht. Ob sie nun von dem britischen Uhrmacher John Harrison erzählt, der Mitte des 18. Jahrhunderts das sogenannte Längengradproblem gelöst hat, oder vom Kommandanten eines amerikanischen Schlachtschiffs, der in der Golfregion des frühen 21. Jahrhunderts aus Versehen ein Verkehrsflugzeug abschießt, in dem seine eigene Frau und seine kleine Tochter sitzen – Balàka versteht es, ihre Leserinnen und Leser mit dramaturgischer Raffinesse ins jeweilige Geschehen hineinzuziehen und bis zum Schluss zu fesseln.

    "In dem ganzen Buch geht’s eigentlich um den ethischen Konflikt zwischen dem Individuum und den Entscheidungen, die es unter Gruppendruck trifft. Es geht um die Frage: Wie verhält man sich ein als Einzelner gegenüber einer Übermacht, die eine vollkommen andere Meinung vertritt als man selbst."

    Dass Bettina Balàka die hohe Kunst des bösen Blicks beherrscht, beweist sie in der Erzählung "Blaue Augen". Da stirbt die Großmutter des Ich-Erzählers, ehemals BDM-Chefin des Gaues Niederdonau und bis zu ihrem letzten Atemzug eine üble Rassistin und NS-Sympathisantin. Der politisch korrekte Enkelsohn soll die exquisite 220-Quadratmeter-Villenetagenwohnung mit herrlichem Garten in Wien-Währing erben. Das einzige Problem dabei: Die Wohnung ist ehemals "arisierter Besitz". Es ist die hochschwangere Ehefrau des Erben, Enkelin eines antinazistischen Widerstandskämpfers, die die Entscheidung trifft: Man wird das Erbe annehmen, schließlich soll das Kind die Vöglein zwitschern hören, wenn es frühmorgens aufwacht, und unter der schattigen Zypresse im arisierten Garten würde sich eine Sandkiste sehr hübsch machen.

    "Natürlich, in der Theorie wissen wir alle, was zu tun wäre oder was wir getan hätten – und wie heldenhaft wir natürlich gewesen wären -, aber in der Praxis, glaube ich doch, dass man unwillkürlich dazu neigt, den bequemsten und einfachsten Weg zu gehen, und das betrifft ja letztlich jeden."

    Spätestens mit ihren letzten beiden Büchern – dem Roman "Eisflüstern" und jetzt mit dem Erzählband "Auf offenem Meer" – hat sich Bettina Balàka in die erste Reihe der österreichischen Gegenwartsliteratur geschrieben. Wer von Marlene Streeruwitz, Daniel Kehlmann, Robert Menasse et al. spricht, darf von Bettina Balàka nicht schweigen.

    Bettina Balàka: Auf offenem Meer. Erzählungen, Haymon Verlag, Innsbruck 2010, 128 Seiten, 16,90 Euro