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Von Unverständnis und enttäuschten Erwartungen

Seit 45 Jahren leben Deutsche und Türken zusammen in der Bundesrepublik. Ein Zusammenleben, das von enttäuschten Erwartungen und oft auch von gegenseitigem Unverständnis geprägt ist. Ein Zusammenleben vor allem, das von beiden Seiten für eine so lange Dauer keineswegs geplant war. In ihrem Buch "Nächstes Jahr kehren wir zurück" analysiert die Freiburger Historikerin Karin Hunn die Geschichte dieses Miteinanders, das 1961 begann.

Von Ulrike Klausmann |
    "Als die Türken kamen, war der Islam eine Religion wie jede andere auch. Die war zwar recht exotisch für viele Deutsche, und man hat sie auch belächelt, aber viele waren zunächst mal aufgeschlossen. Dann hat sich das aber negativ entwickelt, weil es in der Türkei fundamentalistische Gruppen gab, die aber eben in der laizistischen Türkei nicht anerkannt waren und die eben Deutschland sozusagen als Missionsgebiet betrachtet haben und dann in eine Lücke hinein gestoßen sind. Weil ja weder die deutsche noch die türkische Regierung in der Lage waren, für eine religiöse Infrastruktur der Türken zu sorgen. Und diese religiösen Gruppierungen haben dann eben einen relativ integrationsfeindlichen Kurs angesteuert, also das war der eine interne Faktor, und das andere, was hinzukam, war die Revolution im Iran und die politische Aufladung weltweit, die der Islam erfahren hat."

    Karin Hunn ist Mitarbeiterin des Institute for the International Education of Students in Freiburg. Das knapp 600 Seiten dicke Buch ist ihre umgeschriebene Doktorarbeit, mit der sie 2004 an der Uni Freiburg in Geschichte promovierte. Ihr Ziel ist es, die ersten 25 Jahre des Einwanderungsprozesses zu rekonstruieren und zu erklären, warum dieser Prozess für beide Seiten, also für die türkischen Migranten und für die bundesdeutsche Bevölkerung, so schwierige Herausforderungen mit sich gebracht hat. Um diese Frage zu beantworten, verfolgt die Autorin das Konzept der Gesellschaftsgeschichte.

    "Also es gab ja schon sehr viele Untersuchungen zur türkischen Migration oder auch zur zweiten Generation, die aber immer sehr punktuell nur aus einer Disziplin das betrachtet haben und es auf aktuelle Probleme fokussiert haben und damit eben viele Einflussfaktoren außer Acht gelassen haben. Und mein Anliegen war eben, das in den Gesamtkontext zu stellen, diese historischen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Rahmenbedingungen zu betrachten und auch möglichst viele Akteure einzubeziehen, um dann die Entwicklung dieser Einwanderung erklären zu können. "

    Karin Hunn weist darauf hin, dass beide Länder, sowohl die Bundesrepublik als auch die Türkei, von einer zeitlich begrenzten Migration ausgingen, als sie im Jahr 1961 das Anwerbeabkommen unterschrieben. Die boomende deutsche Wirtschaft brauchte Arbeitskräfte und setzte auf die "Gastarbeiter" als mobile Reserve-Armee, die in Krisenzeiten ihren Rückzug anzutreten hat. Die türkische Regierung hoffte, mit der vorübergehenden Entsendung von Arbeitskräften nach Deutschland nicht nur den eigenen Arbeitsmarkt zu entlasten, sondern auch, dass die Arbeiter in Deutschland eine Qualifizierung erfahren würden und bei ihrer Rückkehr neben Devisen auch Know How in die Türkei bringen würden. Auch die türkischen Arbeiter selbst wollten nur vorübergehend in Deutschland arbeiten, um dort genug zu verdienen und sich eine eigene Existenz in der Türkei aufzubauen. Zitat:

    Letztere hegten nämlich häufig völlig falsche Vorstellungen von ihren Verdienstmöglichkeiten und ihrem Leben in der Bundesrepublik. Die wenig aussagekräftigen und teilweise unverständlichen Informationen, die ihre Arbeitsverträge und diverse Broschüren enthielten, reichten in keiner Weise aus, um ihnen ein realistisches Bild von ihrer Rolle als "Gastarbeiter" zu vermitteln, zumal gerade die Türken, wie es Richard Haar von der AWO 1963 ausdrückte in der Regel mit besonderen Erwartungen in die Bundesrepublik kommen. In der Schule haben sie gelernt, dass der Deutsche ein Bruder der Türken sei, der sie liebt und ihnen fürsorglich zur Seite steht.

    Ein Blick in die Statistik zeigt, dass die ersten Arbeiter, die aus der Türkei in die Bundesrepublik geholt wurden, keineswegs dem gängigen Bild des "Gastarbeiters" entsprachen: Die wenigsten waren ungelernte Hilfskräfte vom Lande, im Gegenteil: 41 Prozent Prozent stammten aus Istanbul, und über 30 Prozent waren qualifizierte Arbeiter. Dennoch mussten sie sich überwiegend mit Arbeitsstellen begnügen, die unterhalb ihres Ausbildungsniveaus lagen.

    Ein ehemaliger Firmenvertreter von BMW, der zeitweise türkische Arbeiter in Istanbul ausgewählt hatte, berichtete rückblickend, worauf dabei geachtet wurde: Zum einen habe man Wert darauf gelegt, "dass das Leute waren, die schon ein bisschen Metallberufe erlernt hatten", zum anderen habe man nach Schwielen an den Händen gesucht, um sicher zu gehen, dass die vorgestellten Bewerber tatsächlich zuvor gearbeitet hätten. Im Zweifelsfall mussten die Bewerber ihre beruflichen Kenntnisse in kleinen Betrieben oder auf Baustellen praktisch unter Beweis stellen.

    Karin Hunn nennt erschreckende Beispiele der desolaten Wohn- und Arbeitsbedingungen türkischer Arbeitsmigranten in Deutschland. Trotz dieser Verhältnisse schoben die meisten ihre Rückkehr in die Türkei immer weiter auf – nicht nur, weil sie ihre Sparziele nicht erreicht hatten.

    "Das war vor allem die negative wirtschaftliche und politische Situation im Heimatland. Also wenn man die Türken vergleicht mit anderen Arbeitsmigranten, zum Beispiel Spanier oder Griechen, da kann man erkennen, dass diese Gruppierung in den 70er Jahren, als in Deutschland die wirtschaftliche Lage schlechter wurde, zurück gekehrt sind. Weil eben in der Heimat sich eine wirtschaftliche Perspektive aufgetan hat durch den Aufschwung. In der Türkei hatten wir allerdings genau das Gegenteil, es gab bürgerkriegsähnliche Situationen, es gab den Putsch 1980, und die wirtschaftliche Lage war desolat. Insofern gab es keine Rückkehrperspektiven, und das Bleiben in Deutschland war eher ein Zwang als eine freie Entscheidung."

    Karin Hunn verzichtet in ihrer Studie auf Bewertungen. Doch ihre Darstellung der bundesdeutschen Ausländerpolitik lässt den Schluss zu, dass sie sowohl den türkischen Einwanderern als auch der deutschen Bevölkerung gegenüber verantwortungslos war.

    "Auf jeden Fall und wenn man das anguckt in der Hochkonjunktur, also die Jahre 69 bis 73, man hat auf Teufel komm raus die Arbeitskräfte, vor allem in der Türkei, wo es die auch noch gab, angeworben, und dann auch schon Anfang der 70er Jahre erkannt, dass es soziale Probleme gibt, aber man hat die Notbremse nicht gezogen, man hat gewartet, bis es schon fast zu spät war."

    Die Autorin beschreibt, wie das jahrzehntelange Zögern der Politiker, Deutschland als Einwanderungsland anzuerkennen, dazu führt, dass die Gemeinschaft der türkischen Einwanderer zunehmend ins Abseits gerät. Maßnahmen wie der Anwerbestopp aus dem Jahr 1973 und das Rückkehrförderungsgesetz von 1983 zeitigen mäßige Erfolge, die Zahl der Einwanderer zu reduzieren haben aber große Signalwirkung auf die Bevölkerung.

    Während sich durch diese Politik viele Bundesbürger in ihrer Auffassung bestätigt sahen, dass die ausländischen Arbeitnehmer in Krisenzeiten in ihre Heimat zurück kehren müssten, führten sie auf Seiten der türkischen Migranten in vielen Fällen zu einer weiteren Distanzierung von der bundesdeutschen Gesellschaft.

    Die Studie der Freiburger Historikerin ist gut lesbar und deshalb jedem zu empfehlen, der sich mit dem Thema Migration in Deutschland befasst. Auch die heutigen Politiker könnten aus der kritischen Rückschau etwas lernen, meint Karin Hunn.

    "Dass man offen mit dem Problem umgehen muss und auch den Mut haben muss, unbequeme Dinge der Bevölkerung zu vermitteln. Wenn man ein aktuelles Beispiel herbeiführen will, dann ist es das Beispiel multikulturelle Gesellschaft, dass man jetzt erst offen über solche Tabuthemen wie Ehrenmorde etc. spricht, dass einerseits die Linke das nicht thematisieren wollte, weil sie einerseits Angst hatte, Ausländerfeindlichkeit zu schüren, ja, ich denke, ein offener Umgang mit den Problemen ist einfach notwendig und auch der Versuch, diese Probleme zu erklären."

    Ulrike Klausmann über Karin Hunn: "Nächstes Jahr kehren wir zurück" – Die Geschichte der türkischen 'Gastarbeiter’ in der Bundesrepublik. Veröffentlicht ist der 564 Seiten starke Band im Göttinger Wallstein Verlag zum Preis von 46 Euro.